Lachen Sie nicht! Meine im Augenblick leidenschaftlichste Tätigkeit besteht
darin, jenen Kaffeesatz zu trocknen und in Kübel zu kippen, den
Krankenschwestern einer onkologischen Station für mich sammeln. Es bleibt
eine feinkörnige, stumpfbraune Masse. Ihr Geruch, bestenfalls eine vage
Erinnerung an Kaffee. Ich entdeckte diese Leidenschaft, als ich mir
eingestehen musste, dass ich mehr Geld für meine Texte ausgebe als ich dafür
einnehme. Kurz, meine Arbeit ist nicht nur sinnlos, sie ist, sitzt man
stundenlang vor dem Bildschirm, mit Rückenschmerzen verbunden; der erhöhte
Bedarf an Coffein wirkt sich auf den Magen, die beim Schreiben gerauchten
Zigaretten auf die Lunge, das abends beim Schreiben getrunkene Bier neben
anderen Organen auch auf das Gehirn aus. Die Arbeit eines Schriftstellers
ist eine ungesunde Tätigkeit, und sofern er sich wie ich mit den Niederungen
menschlichen Lebens beschäftigt, weckt sie zudem noch Zweifel an der Welt
und drückt die Stimmung.
In einem Zustand solcher Nüchternheit erschien mir das Sammeln von
Kaffeesatz als erstrebenswerte Alternative, nicht zuletzt deshalb, weil es
keinen Zweifel am fehlenden Sinn dieser Tätigkeit und somit auch keine
Enttäuschung geben kann. Als kontinuierliche Beschäftigung wirkt diese
Betätigung entlastend. Sie strukturiert den Tag und macht die erbrachte
Leistung sichtbar. Im Gegensatz zum Schreiben ist das Trocknen von
Kaffeesatz keine besonders anstrengende Tätigkeit. Mögen die
Krankenschwestern noch so viel Kaffee trinken, so sind täglich dennoch nur
wenige Handgriffe nötig. Die gefüllten Filter sind aus einer Plastiktüte zu
nehmen und auf Backblechen und Tabletts (Edelstahl; Gravur: Flughafen
Pressburg; offensichtlich Diebesgut aus der NS-Zeit) zu legen, ab und zu zu
wenden. Was die vielen Formen von Feuchtigkeit anlangt, eine sehr sinnliche
Erfahrung. Kaffeesatz bedarf einer genauen Trocknung. Selbst die kleinste
Restfeuchte führt zu einem Schimmelpilzbefall.
Ohne dass ich es wusste, hat mir die Beschäftigung mit dem Kaffeesatz der
onkologischen Station ein großes Feld gedanklicher Assoziationen geöffnet.
"Kaffeesatz lesen" - das ist die Kunst, im Unsinnigen, in der zufälligen
Ordnung Künftiges zu erkennen. Früher gab es Experten, die es verstanden,
etwa anhand verschiedenster Zeichen der Leber eines Opfertieres den Verlauf
eines Vorhabens zu sehen. Heute bedarf es keines Opfertieres mehr, keines
Tötungsaktes. Die moderne Eingeweideschau geschieht mit bildgebenden
Verfahren. Computertomographen, Satellitenaufnahmen, Aufklärungsflugzeuge,
Bildschirme. Aber der Tod ist auch hier allgegenwärtig. Die Vorhersagen
scheinen trotz aller Technik nicht wesentlich aussagekräftiger geworden zu
sein.
Kaffeesatz als konkrete Substanz bezeichnet, was sonst unsichtbar bliebe.
Seine Gestaltlosigkeit kommt dem ebenso entgegen wie seine Nutzlosigkeit.
Kaffeesatz ist Abfall, den es zu entsorgen gilt. Es muss nicht eigens
erwähnt werden, die Arbeit von Krankenschwestern ist belastend, insbesondere
wenn sie auf einer onkologischen Station beschäftigt, tagtäglich mit
Sterbenden und ihren Angehörigen konfrontiert sind. Kaum jemand vermag ihre
Arbeit zu sehen. Die Arbeit von Krankenschwestern hinterlässt wenig Spuren.
Ihre Leistungen werden in der Regel, mag das Engagement noch so groß sein,
als etwas Selbstverständliches wahrgenommen. Das "Trinkgeld", welches
Angehörige nach einer Entlassung oder nach einem Todesfall in die
"Schwesternkasse" geben, wird dafür verwendet, Kaffee zu kaufen.
Kaffeepausen sind für das Pflegepersonal Momente der Selbstregeneration,
Verschnaufpausen in einer Arbeit, der genaugenommen kein Mensch je gerecht
zu werden vermag. Oft ist es nicht einmal möglich, die gesetzlich
vorgeschriebenen Pausen einzuhalten oder während eines zwölf Stunden
dauernden Dienstes zu Mittag zu Essen. In den Kaffeepausen findet sich eine
der wenigen Möglichkeiten, von der Vorderbühne auf die Hinterbühne zu
treten, Druck abzulassen, über nörgelnde Patienten oder inkompetente Ärzte
zu schimpfen. "Kaffeesatz" - Gesprochenes, Sprechendes. Allein in diesem
Zusammenhang erscheint mir das gesammelte Material als nahezu kostbar. Es
ist das konkreteste Ergebnis der Arbeit von Krankenschwestern. All ihre
Anstrengungen und Kränkungen verdichten sich in dieser wertlosen Masse. In
einer Zeit von knapp fünf Monaten ist die erstaunliche Menge von 17,3
Kilogramm zusammengekommen.
Was sich in den Kübeln als trockene Masse anhäuft, ist für mich Ausdruck
dessen, was die Krankenschwestern der onkologischen Station seit Mitte
November des letzten Jahres bis auf den heutigen Tag investiert, erfahren
oder auch empfunden haben. Es wäre wohl noch einiges hinzuzufügen, nehmen es
doch einige mit dem Sammeln nicht so genau, andere werfen wiederum manchen
Kaffeefilter aus Unachtsamkeit zum "normalen" Mull. Aber kein Zweifel,
angesichts von soviel getrocknetem Kaffeesatz denke ich nicht an, vielmehr
sehe ich Handgriffe, ich rieche den Geruch von Medikamenten, Putzmitteln,
Schweiß und Kot, ich sehe Augen, sei ihr Blick nun suchend, fragend,
bittend, vorwurfsvoll, dankend oder stumpf, ich sehe Tränen, auch
verschluckte, ich höre Worte, die sich schon im Mund geformt haben, aber nie
ausgesprochen wurden, aber auch plötzliche sprachliche Entladungen. Was sich
hier anhäuft, ist Verschleiß an anderer Stelle, verweist auf die
nachlassende Konzentrationsfähigkeit oder auf abgenützte Bandscheiben.
Ein geschriebener Text, zumal er gedruckt ist, vermag sich besser zu
behaupten als das gekonnteste Drehen und Wenden eines bettlägrigen
Patienten. Schon wenige Stunden später gilt es, ihn wieder neu zu betten, zu
waschen, ihm Speisen zum Mund zu führen, ihm zuzuhören. Aber was bleibt
schon von einem Text, ist man gezwungen, kaum dass man ihn begonnen hat, an
einem anderen fortzuschreiben. Die Antwort auf die Frage nach dem Produkt
lautet einfach Papier, Anschläge, Abfall.
Dostojewski hat sich in seinen Aufzeichnungen aus einem Totenhaus mit dem
Sinn menschlicher Arbeit beschäftigt: "Ich habe mir einmal überlegt: Wollte
man jemand völlig zermalmen und vernichten, ihn auf das schrecklichste
bestrafen, so sehr, dass selbst der grässlichste Mörder vor dieser Strafe
zittern und Angst bekommen würde, so brauchte man seiner Arbeit nur den
Charakter absoluter, vollkommener Nutz- und Sinnlosigkeit zu geben. [...]
Zwänge man ihn beispielsweise, Wasser aus einem Zuber in einen anderen zu
füllen und von dem wieder zurück in den ersten oder Sand zu zerstampfen oder
einen Haufen Erde von einer Stelle zu einer anderen zu schleppen und dann
wieder zurück - ich glaube, er würde sich nach wenigen Tagen aufhängen oder
tausend Verbrechen begehen, um sich wenigstens durch den Tod von dieser
Erniedrigung, Schmach und Qual zu erlösen."
Die Lust an der Arbeit wird an die Vorstellung von Künftigem genährt. Der
Gefangene denkt an ein Leben nach seiner Entlassung oder der gelungenen
Flucht. Sinn bedarf der Vorstellung des Ausgangs wie der Rückkehr. Wer
schreibt, phantasiert, das Formulierte werde auf fruchtbaren Boden fallen,
da und dort ein Eigenleben führen. Auf Umwegen sollen die Früchte der Arbeit
wieder in die eigene Tasche gelangen. Letztlich hofft der Arbeitende auf
Fruchtbarkeit, auf magische Vermehrung. Ein schöner Garten muss üppig sein,
Früchte und Samen tragen. Wir vermöchten nicht zu leben, gäbe es nicht die
Vorstellung, die über das Heutige hinauswiesen. Eine onkologische Station,
es gibt wohl kaum einen Ort, an dem das eine so bizarr auf das andere
trifft. Überbordende Zukunftshoffnungen neben dem Verlust all solcher
Gedanken, zurückgeworfen auf das Ringen um Atem.
Die unsinnigste Tätigkeit wird dann zu einer sinnvollen, wenn jene, die sie
verrichten, einen Sinn darin zu sehen vermögen. Ohne Zweifel ist es
sinnvoller, sich wochenlang - einen Text schreibend - mit einem
gesellschaftlichen Problem zu befassen, als Kaffeesatz zu trocknen. Dennoch
erscheint mir Zweiteres im Augenblick sinnvoller, als Texte zu schreiben,
die mir bestenfalls ein spärliches Auskommen erlauben, und die letztlich nur
dazu beitragen, einen Mahlstrom an Informationen aufrechtzuerhalten, im dem
sich das eine durch das andere nicht viel anders aufhebt, als würden die
beiden Pole einer Batterie kurzgeschlossen.
Als ich vor Monaten mit dieser Tätigkeit begann, zeichnete sich mit dem
Truppenaufmarsch am Golf bereits ab, dass es trotz aller UN-Inspektoren
diesen Krieg geben wird. Wie ist heute die Arbeit der Soldaten zu
definieren? Militärstrategen denken an Funktionen und Leistungen, sie denken
an jene Voraussetzungen, die notwendig sind, um diese zu ermöglichen. Der
einzelne Soldat vermag allerdings nur dann wirklich zu "funktionieren", wenn
er die in ihn gesetzten Erwartungen sinnhaft zu besetzen weiß. Dies
verbindet ihn mit Dostojewskis Gefangenen. Auch hier ist nach dem Ergebnis
der Arbeit und möglichen Äquivalenten zu fragen. Der Kaffeesatzsammler ist
nüchtern genug. Er denkt nicht an "Befreiung" oder ähnliches. Ihn
beschäftigt Konkretes. Getrunkener Kaffee, weggeworfene Tüten, abgefeuerte
Marschflugkörper, abgenützte Ketten, ausgebrannte Panzer, unbrauchbar
gewordene Luftfilter, zersplitterte Scheiben, zerstörte Gebäude, verdorbenes
Essen, verbrauchtes Toilettenpapier, Landebahnen mit Löchern,
Fensterscheiben, Tassen, Kinderwägen, zerschmetterte Oberschenkel,
durchtrennte Nerven, unnütz gewordene Gedanken, Bezeichnungen, die ihren
Sinn verloren haben. Jeder Krieg ist an der Zerstörung und Entwertung
geleisteter Arbeit, an toter Arbeit, an tödlicher Arbeit zu messen. Im
Augenblick erleben wir, dass sich die Technik trotz all der in sie gesetzten
Erwartungen als höchst krisenanfällig erweist. Abgeschossene Hubschrauber
und Kampflugzeuge, irregeleitete Marschflugkörper und Geschosse. Dabei
vergessen wir, dass wir - wenn auch auf völlig andere Weise wie die
unmittelbar Betroffenen - Teil eben dieser Narration sind. Auch wir denken
in Zeit- und Wegstrecken, fiebern dem Ende der Geschichte entgegen. Ein
Stocken des Fortgangs, die Wiederholung ähnlicher Ereignisse: schon erleben
wir Langeweile. Die technologischen Möglichkeiten, seien es die des Krieges
oder die der Berichterstattung, vermögen den Blick nicht nur zu schärfen,
Unsichtbares sichtbar zu machen. Sie verstellen den Blick auf die
Wirklichkeit auch gründlich. Die Tatsache, dass Soldaten in erschreckend
hoher Zahl Opfer eigener Verbände werden, belegt dies ebenso wie Bilder, die
wir nur allzuschnell für die Wirklichkeit halten, obwohl sie die Realität
nur bedingt abzubilden vermögen. Heute misstrauen viele Menschen dem
Wirklichkeitsgehalt medial vermittelter Bilder. Sie denken an Zensur oder
Propaganda und vergessen dabei, dass das Medium selbst vielfältigste
Verzerrungen bedingt. Brecht notierte, die Lage werde dadurch so
kompliziert, "dass weniger denn je eine einfache ‚Wiedergabe der Realität'
etwas über die Realität" aussage. "Eine Fotografie der Kruppwerke oder der
AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist
in die Funktionale gerutscht." Will man möglichst wenigen Täuschungen
verfallen, dann ist es notwendig, das Nahe mit dem Entfernten zu
verschränken, etwa die Frage nach dem Produkt von Soldaten etwa an jenem von
Krankenschwestern abzuhandeln. Da wie dort geht es um die Versprechungen der
Technik, da wie dort geht es um Termine und Zielsetzungen, letztlich um
Fragen der Narration wie des Überlebens. Man kann sich der Obszönität des
Krieges nur widersetzen, wenn man die vorgegebenen Regeln der Rezeption
bricht, Fernsehbilder ohne den Ton betrachtet oder umgekehrt, kleinste
mediale Abfälle zusammenträgt, eine Nachrichtensendung der vorletzten Woche
betrachtet und so fort. Soldaten kennen kein Trinkgeld, ihnen werden keine
Tortenstücke überreicht. Beutegut entschädigt sie für das eingegangene
Risiko und erlebte Entbehrungen, und mag sich das Beutegut nur noch in der
Negation finden, in der Zerstörung der Arbeit anderer.
Das Ideal des modernen Krieges liegt in Fernwirkungen. Nicht länger soll der
Soldat das Weiß im Auge seines Gegners sehen. Marschflugkörper, exakt auf
ein bestimmtes Ziel programmiert, Geschosse, die satellitengesteuert ihr
Ziel erreichen. Der Soldat, auf sicherem Terrain vor einem Bildschirm
sitzend. Die Erfahrung lehrt, dass auch der moderne Krieg so nicht möglich
ist. Nur hier kennt das Konkrete in den Erfahrungen der Kämpfenden wie
jener, die zwischen die Linien geraten, seine Entsprechungen.
Vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges schrieb William Burroughs seinen
Essay Die elektronische Revolution. Seine Anleitungen zur subversiven
Rezeption enden mit einem bösen Plädoyer für die Rückkehr zum Konkreten:
"Warum sparen wir in unserem Verteidigungshaushalt nicht eine Menge ein und
verlegen uns wieder auf Flinten mit Feuerstein - und Luntenschlössern. Auf
Schwerter, Rüstungen, Lanzen, Pfeil und Bogen, Speere, Steinäxte und Keulen?
Warum nicht weiter zurückgehen? Warum lassen wir uns nicht wieder Fangzähne
und Klauen wachsen, Giftzähne und Stachel, Hackschnäbel und Saugnäpfe und
Stinkdrüsen und tragen es im Sumpf um die Ecke aus?"
Kriegführen im Sumpf um die Ecke, das wäre ein menschliches Maß.
Liveübertragungen von Bombardements, mögen wir sie noch so beklagen, sind
Entsprechungen von Geschossen, die ihre Bombenlast über tausende von
Kilometern tragen, sie entsprechen Entscheidungen, die das Schicksal von
Menschen auf der anderen Seite der Erdkugel betreffen. Das traurige
Schicksal von Menschen gilt es zu beklagen. Aber es wäre eine Lüge, würde
ich behaupten, dies wäre mir bei nur einem Opfer möglich. Blutflecken und
verstümmelte Körper führen in die Irre. Man muss sich mit der leichtfertigen
Zerstörung von Arbeitsvermögen beschäftigen, was lange vor dem ersten Schuss
beginnt. Man muss neben vielem anderen zur Kenntnis nehmen wie leicht
Politiker nicht nur den Tod vieler Menschen in Kauf nehmen, sondern kaum
Probleme damit haben, dass abertausende von jugendlichen Erwachsenen
traumatisiert aus diesem Krieg zurückkommen werden.
Das Sammeln von Kaffeesatz oder andere Bemühungen, der Katastrophe etwas
entgegenzusetzen, mögen zwar ohnmächtige Gesten sein, aber sie sind konkret.
Sie wenden sich gegen die Verhäuslichung des Krieges auf Wohnzimmerformat,
in der jeder glaubt, noch so komplexe Sachverhalte oder den Fortgang des
Konflikts erklären zu können. Scheinbar sinnlose Gesten wie das Sammeln von
Kaffeesatz können dazu beitragen, die eigene Wahrnehmung zu schärfen, die
Dinge anders als behauptet zu sehen. Es sind Betrachtungen im eigentlichen
Sinn, Betrachtungen, die unserer Medienwelt vollkommen fremd sind. Noch vor
wenigen Wochen fehlte dieses Bild. Lasse ich heute Kaffeesatz durch meine
Finger gleiten, dann denke ich manchmal, ist er noch feucht, an Erde, ist er
getrocknet, an Sand, an Wüstensand. Es fällt nicht schwer, an Felder zu
denken, die verseucht sein werden. Wie ich unfähig bin, die im Kaffeesatz
enthaltenen Insektizide oder Pestizide wahrzunehmen, so wird sich die
Verseuchung des Erdreichs nur indirekt mitteilen.
Im Frühjahr, um die Zeit der Kirschblüte, wird der gesammelte Kaffeesatz im
Garten entsorgt. Alle organischen Abfälle, sind sie entsprechend
aufbereitet, verdaut dieser Garten innerhalb kürzester Zeit. Für eine NZZ
benötigt er gerade einmal drei Wochen. Auf jeden Fall hat ein Garten
deutlich weniger Verdauungsprobleme als wir Menschen. Wie der Kaffeesatz
während des Trocknungsvorganges den größten Teil seines Gewichtes und
vielleicht 60 % seines Volumens verliert, so schrumpft die verbleibende
Menge, bringt man sie in den Garten ein, noch dramatischer. Am Ende des
Verrottungsprozesses, bei dem der größte Teil der Masse als CO2 in die
Atmosphäre entweicht, bleibt vielleicht nur 0,5% jener Masse, die ich
anfangs auf Backbleche zum Trocknen legte. Nebenbei begreift man, wie vieler
Millionen Jahre es bedurfte, bis sich eine Humusschicht bilden konnte. So
betrachtet beginnt man sich im Weltgefüge neu zu denken, begreift sich als
abfallverwertende Mikrobe (was ist Schreiben anderes als nach
Angriffsflächen des Lebendigen zu suchen, sich daran zu weiden und im besten
Fall die Ausscheidungsprodukte zu kunstvollen Gebilden zu formen, nicht viel
anders als dies die einfachsten Schimmelpilze tun), kann man nicht länger
darüber hinwegsehen, dass wir potentielle Opfer des Einverleibung sind,
bieten wir nur genügend wunde Stellen. Alle Lebenskunst besteht darin,
andere zu nähren, ohne selbst verzehrt zu werden, ohne auszutrocknen oder zu
verbluten. Dies gelingt nur selten. Worin besteht die Lebenskunst des
Soldaten?
Ein Garten, das unterscheidet ihn von allen höheren Lebewesen, mag zwar
gefrässig sein, fehlt es ihm aber an Nahrung, dann gibt er sich sehr
genügsam. Ein Garten gedeiht oder gedeiht nicht. Narration im eigentlichen
Sinn ist ihm fremd. Ein Garten reagiert, Antworten vermag er keine zu geben.
Jede Narration bedarf wechselseitiger Bezugnahmen. Heutige Rezipienten
verdauen in der Regel Informationen nicht viel anders, als dies eine
Erdschicht mit allen möglichen Dingen tut. Da helfen auch alle Umfragen
nichts, in denen die Seher angehalten werden, durch die Wahl einer
bestimmten Nummer ihre Meinung zum Ausdruck zu bringen: "Glauben Sie, dass
der Krieg kurz oder lang dauern wird. Wenn ja, dann wählen Sie ..."
Dieser Krieg wird in der Menschheitsgeschichte ein wichtiges Datum sein. Es
wird zwar viele Bücher geben, aber keinen Chronisten wie Thukydides, der das
Drama zu analysieren wüsste, mehr noch, einen Feldherrn, der nicht nur um
Verschränkungen weiß, sondern seinen Gegnern Verstand und Gefühl zubilligte.
Thukydides, Vorbild für den Kaffeesatzsammler und subversiven Rezipienten.
Er wusste um die Folgen öffentlichkeitswirksam präsentierter Bilder. Aber es
konnte ihn nur geben, weil es nicht an geduldigen Zuhörern mangelte, die den
Inhalt des Dramas, nämlich den Untergang Athens, nicht nur beklagen, sondern
auch verstehen wollten. Auch während des Peloponnesischen Krieges fanden
viele Ereignisse fernab statt. Nachrichten erreichten Athen manchmal erst
nach Wochen oder gar nach Monaten. Es bedurfte also des Berichts wie der
Erzählung. Liveübertragungen machen jede Erzählung unmöglich. Letztlich
lassen sie jedes noch so schreckliche Ereignis trivial werden. Wir erzählen
nicht, wir sind Teil einer Narration geworden, die uns zu ihren Mitspielern
macht. Heute wäre Thukydides wohl dazu verdammt, Kaffeesatz zu sammeln oder
sich einer anderen scheinbar absurden Tätigkeit hinzugeben.
In einer Ecke ist mein Bett aus Laub und Farnen. Daneben ein Gestelle mit
ein paar Büchern: die Dichter und die heiligen Schriften. Dabei steht eine
Harfe und eine Laute. Rings um mein Haus ist Wald, nur gegen Westen zu ein
Blick ins Tal. Wenn ich zu traurig bin, um zu lesen, oder wenn meine Augen
nicht mehr lesen können, da ist keiner, der mich aus meiner faulen Ruhe
stören, kein Freund, dessen Gegenwart mich beschämen könnte. Ich habe nicht
die Regel des Schweigens auf mich genommen, aber so allein wie ich lebe, da
habe ich zu sprechen fast verlernt [...] Wenn der Hirsch furchtlos vor
meiner Hütte verweilt und mich ruhigen Auges anblickt, da fühle ich, wie
weit weg ich bin, wie fern der Welt. Nur für eine kleine Weile, dachte ich,
würde die Hütte mein Haus sein, nun sind darüber Jahre vergangen, und sie
ist mit mir alt geworden. Sie ist klein, doch des Nachts habe ich ein Lager,
darauf zu schlafen, des Tags eine Matte, darauf zu sitzen. Sie hat alles,
was ein Mensch braucht. Und hat sie nicht zu viel? An einem ruhigen Morgen
dachte ich lange darüber und fragte mich, ob ich so würdig lebe oder in
Eitelkeit oder aus Angst vor meinen Begierden. Mein Herz, das ich fragte,
gab mir keine Antwort darauf.
Hojoki, Tagebuch aus meiner Zelle
Seit Tagen plage ich mich nun schon, eine Formel zu finden, mit der sich die
Arbeit des einzelnen Soldaten in der Gesamtmaschinerie bestimmen ließe. Ich
bin kläglich gescheitert. Die Probleme beginnen bei der Frage der Zeit (sind
Rauchpausen als untätige Zeit zu begreifen?), sie setzen sich fort bei den
abgefeuerten Geschossen (manche geben keinen einzigen Schuss ab) bis hin zu
den verzehrten Essensrationen. Nahezu endlos ist das Feld von Festlegungen
und Zufällen. Keine Formel vermöchte die Komplexität des Zusammenhangs
darzustellen. Ergiebiger sind andere Überlegungen. Etwa: Hat die heutige
Vorstellung eines "Blitzkrieges" etwas mit Fastfood zu tun? Ich möchte kein
einziges der wegen ihres Geschmacks angepriesenen Menüpakete verzehren.
Standardisiertes Material. Aufreißen, Aufnehmen, Verdauen, Ausscheiden. Der
Soldat isst sein Paket, einverleibt werden soll ein Land. Fastfood auch in
der Berichterstattung. Schnelle Nahrung für den täglichen Bedarf.
Geschichtslos ist alle Nahrung. Trotz aller historischen Anleihen haben wir
es mit dem Phantasma geschichtsloser Beute zu tun. Jeder Beute wird ihre
Geschichte abgesprochen. Dabei bewegt sich der Soldat auf
geschichtsträchtigem Terrain. Es würde Bücher füllen, wollte man die
wichtigsten der an diesen beiden Flüssen ausgetragenen Schlachten
beschreiben. Es ist eine tragische Ironie der Geschichte, dass dieses Land
wie kaum ein anderer Fleck dieser Erde Schlachten kennt, in denen auf
zahlenmäßige Überlegenheit und neue Waffentechnologieen gesetzt wurde. Die
Kriegstreiber lesen keine Bücher. Sie sind in erschreckender Weise
ungebildet. Die Räume, in denen sie leben, zeugen von schlechtem Geschmack.
Sie wären vollkommen unfähig, auch nur einen jener Texte zu lesen, die man
ihnen ans Herz legen möchte. Sie sind weder Gärtner, noch Köche. Wie
Priesterkönige der Bronzezeit geben sie sich als gottberufen: Im
Todeszeremoniell blühen sie auf. Ihren Einflussbereich machen sie zu einem
Totenacker statt zu einem Garten. Da wünsche ich mir goldene Throne herbei,
auf denen die heutigen Feldherrn - in Sichtweite zu den kämpfenden Soldaten
- das Drama verfolgten. Ganze Bataillone wären damit beauftragt, den
Wüstensand zu peitschen, sollte ein Sandsturm das Fortkommen behindern, die
Straßen in Ketten zu legen, würde sich der Asphalt den Angreifern nicht
entgegenschlagen
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Wochen später: Die Geschichte (welche? eine? viele?) nahm ihren Lauf. Nun
droht der Krieg im Irak auf der Hitliste der Nachrichten bereits seinen
ersten Platz zu verlieren. (Leicht)verletzte amerikanische Soldaten sprechen
auf einer Pressekonferenz über Deckung und Flankenfeuer, um sich zu zum
Schluss bei den Krankenschwestern und Pflegern zu bedanken.