TEXTUREN TOTALITÄRER HERRSCHAFT VII
Am Beispiel von Walter Benjamins Fragment „Kapitalismus als Religion"
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„Mit grossem Interesse habe ich auch deinen eindrücklichen Text zu Korczak
gelesen. Ich kannte Korczak ja nur oberflächlich als eine Art
‚Reformpädagoge’. Das Lesen seiner Tagebücher wirft natürlich ein ganz
anderes Licht (wenn man in diesem Zusammenhang von Licht zu schreiben wagt)
auf sein Leben und Wirken. In diesem Zusammenhang auch herzlichen Dank für
den beigelegten Ausdruck deiner unglaublichen Textabschrift und Umsetzung.
Diese Art einen Text durch die Handschrift zu rezipieren muss in der
heutigen Zeit digitaler Schnellverwertung trotz seiner Eindrücklichkeit
befremdlich wirken. Jedenfalls müsste man diese grossen Blätter zeigen
können. Dies aber eben im Zusammenhang und als Spur einer intensiven
Lektüre. (Als Bild sind die Arbeiten ja schwierig einzuordnen, entziehen
sich – wie deine Arbeit ja oft auch – gängigen Einordnungen. Auf den ersten
Blick denkt man an ‚Art brut’, weil die Grösse der Bilder, das Miniaturhafte
der Schrift ja auch etwas Manisches auszudrücken scheinen; aber natürlich
passt diese Zuordnung auch wieder nicht. Am besten würde das Zeigen gelingen
als Performance: Du müsstest dich – was du natürlich nicht machen wirst – am
Ausstellungsort lesend und schreiben mitausstellen. Entschuldige, das sind
ganz unausgegorene Gedanken.)“
Franz Dodel, 10.5.2017
Texturen totalitärer Herrschaft. Für jede einzelne Graphik arbeite ich mich
gründlich in ein bestimmtes Material ein. Dabei entstehen Skizzen oder
Zeichnungen. Diese verarbeite ich schließlich in der eigentlichen Graphik,
der jeweils sehr viel Text unterlegt ist. Tatsächlich bin ich die meiste
Zeit mit (Ab)Schreiben beschäftigt, wobei es mir wichtig ist, die jeweilige
Sprache mit all ihren Eigenheiten möglichst exakt wiederzugeben. Der auf den
ersten Blick ornamentale Charakter steht in einem krassen Widerspruch zu den
Textinhalten, die sich um Gewalt drehen. Ich brauche aber eine Struktur, um
all das auszuhalten, was sich mir aufdrängt. Da ich zunehmend kleiner
schreibe, ist das Geschriebene nicht mehr wirklich zu entziffern.
Keinesfalls ist es eine Absicht von mir, die jeweiligen Texte zu
illustrieren. Dies wäre ja auch völlig absurd, denke ich etwa an Himmlers
Briefe an Magda, geradezu vermessen die Vorstellung, das Wesentliche eines
Konzentrationslagers wie Mauthausen in einer Graphik darzustellen. Man kann
sich bestenfalls auf eine Auseinandersetzung einlassen, sich abverlangen,
einige Wochen oder länger in der Sprache eines anderen Menschen, dabei kann
es sich sowohl um Opfer wie Täter handeln, aufzugehen, in der Hoffnung,
dadurch sensibler zu werden für künftige Formen totalitärer Herrschaft, die
längst absehbar sind.
Freunde oder Bekannte machen mir immer wieder Angebote, Flächen mit Hilfe
eines Computers zu füllen. Andere wiederum meinen, eine Computergraphik vor
sich zu haben. In diesem Projekt spielt die Zeit eine entscheidende Rolle.
Ich will, mehr noch, ich muss mir die nötige Zeit nehmen. Im Idealfall
soviel Zeit als jemand, mit dessen Texten ich arbeite, benötigt hat, diese
zu schreiben; manchmal auch wesentlich mehr Zeit. Schon aus Trotz gegen
unsere schnelllebige Welt, gegen die allgegenwärtige parasitäre
Vereinnahmung, gegen mein Leiden an der Kunst, die sich zumeist parasitär
gibt und ganz und gar kapitalistisch gedacht ist, mag sie von sich auch das
Gegenteil behaupten.
Ich habe in meinem Leben viel Zeit damit verbracht, Interviews, Tagebücher
oder verwandte Textsorten abzutippen, abzuschreiben, zu transkribieren. In
Forschungsprojekten werden solche Tätigkeiten üblicherweise nach unten, etwa
an Studentinnen delegiert. Trotz des enormen Zeitaufwandes habe ich es immer
lohnend empfunden, mich tage- oder wochenlang in die Stimmen anderer
hineinzuhören oder an schwer entzifferbaren Textstellen hängen zu bleiben.
Man nimmt so vieles wahr, was einem bei oberflächlichem Lesen gar nicht
auffällt. Und so empfinde ich es auch im Augenblick. Beschäftigt man sich
wochenlang mit einem bestimmten Textmaterial, dann hat man es, ganz im
Gegensatz zur Welt von Twitter oder Facebook mit höchst formenreichen
Oberflächen zu tun. Es drängen sich vor allem Fragen auf.
Kopieren ist einfach. Man muss schreiben, d.h. mit der Hand denken. In
meinem Alter sollte man sich mit allem beeilen – ich finde aber, in meinem
Alter muss man die Zeit dehnen. Obige Graphik ist Walter Benjamins Fragment
„Kapitalismus als Religion“ aus dem Jahr 1921 gewidmet. Ein bemerkenswerter
Text. Er lässt sich in zwanzig Minuten lesen. Tatsächlich kann man sich
Monate lang daran abarbeiten. Ich habe dieses Fragment 42 mal geschrieben,
auch vordergründig Belangloses, etwa Benjamins Literaturangaben mit den
Seitenzahlen. Insgesamt 255990 Zeichen. Ich kann die drei Seiten auswendig
vor mir hersagen. Das mag sich absurd anhören, ist es aber nicht. Um sich
etwas anzueignen, muss man sich etwas abverlangen. In einer Zeit, in der man
an Informationen erstickt, lohnt es sich, weniger zu lesen, dafür
auszuwählen und sich damit genauer zu beschäftigen. Zu jedem Satz habe ich
in Museen, Kirchen oder in der Werbung nach Beispielen, nach Motiven
gesucht, die Benjamin interessiert hätten und für die er heute unendlich
mehr Material fände. Ob ihm das Krokodilleder (ich dachte an
Krokodilledertaschen), welches sich mäandernd durch die Graphik zieht,
gefallen würde, vermag ich nicht zu sagen.
In Abgrenzung zu Max Weber betrachtete Benjamin den Kapitalismus nicht als
religiös bedingtes Gebilde, sondern als „essentiell religiöse Erscheinung“,
mehr noch, als „reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je
gegeben hat.“ Diese Religion kenne keine spezielle Dogmatik, keine
Theologie. Sie sei von permanenter Dauer: „Der Kapitalismus ist die
Zelebrierung eines Kultes sans trêve et sans merci [= ohne Waffenruhe und
ohne Gnade]. Es gibt da keinen ‚Wochentag’, keinen Tag der nicht Festtag in
dem fürchterlichen Sinne der Entfaltung allen sakralen Pompes, der äußersten
Anspannung des Verehrenden wäre.“ Es handle sich um einen nicht
entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus. Ein ungeheures
Schuldbewusstsein, das sich nicht zu entsühnen wisse, greife zum Kultus,
nicht um die Schuld zu sühnen, sondern um diese universal zu machen, sie
„dem Bewusstsein einzuhämmern und endlich und vor allem den / Gott selbst in
diese Schuld einzubegreifen.“ Religion bedeute nicht länger Reform des
Seins, sondern dessen Zertrümmerung. Sie betone nicht Umkehr, Sühne,
Reinigung oder Buße, sondern eine scheinbar stetige, „in der letzten Spanne
aber sprengende, diskontinuierliche Steigerung.“ Gottes Transzendenz sei
gefallen. Aber er sei nicht tot, sondern ins Menschenschicksal einbezogen.
Die Graphiken lassen manche an Arbeiten der Art brut denken. Mit Adolf
Wölfli und anderen verbindet mich der Dilettantismus, die Missachtung jeder
verkaufsorientierten Ästhetik, die Verarbeitung von vorhandenem Material,
das trotzige Füllen vorgegebener Flächen, eine redundante Ornamentik, nicht
zuletzt das intensive Arbeiten mit Texten, die letztlich nur noch als
Struktur oder Graustufen wahrgenommen werden können. Womöglich verbindet
mich mit ihnen auch die Auseinandersetzung mit einer unüberschaubaren,
letztlich als bedrohlich erlebten Welt. Aber ich verarbeite nicht Erlebtes,
kehre nicht Inneres nach außen. Mich beschäftigt äußere Wirklichkeit, mein
Interesse gilt gesellschaftlichen Strukturen. Als manisch erlebe ich mein
Tun keineswegs. Im Gegenteil, es setzt sehr viel Selbstdisziplin voraus,
nach jedem Telefonat, nach jedem Email, nach jeder erledigten Arbeit einige
Zeit damit verbringen. Es geht auch nicht um Mengen (ich schaffe im Jahr
gerade einmal vier oder fünf solcher Graphiken).
Tatsächlich sind diese Graphiken Ausdruck von Theoriearbeit, und von Theorie
im eigentlichen Sinn kann man nur dann sprechen, lässt sie sich
kommunizieren, wird sie von anderen geteilt. Das Wesentliche liegt für mich
nicht im Endprodukt, sondern in all den Fragen, die sich während der Arbeit
ergeben. Die Arbeiten unterliegen strengen Festlegungen, sind also als
konzeptionell zu begreifen. In Abgrenzung zu Formen totalitärer Herrschaft,
die uns aus der Vergangenheit bekannt sind, kann ich heute sagen: Der
moderne Mensch konsumiert seine Unterwerfung. Das klingt bereits bei Walter
Benjamin an. So klar er vieles sah, die von ihm bemühten Bilder sind aber
seiner Zeit geschuldet, der Bilderwelt des neunzehnten Jahrhunderts, etwa
der Thermodynamik.
Zu totalitärer Herrschaft fallen uns zahllose dystopische Romane ein. Keiner
dieser Texte vermag wirklich zu überzeugen. Wir haben es mit Gedankenspielen
zu tun, die schon nach kürzester Zeit von der Wirklichkeit eingeholt wurden.
Überzeugender sind Materialien aus der Geschichte totalitärer Herrschaft,
Briefe, Tagebücher, Fragmente. Während dystopische Romane dem Leser
gleichsam eine Aufsicht auf eine Gesellschaft bieten, haben wir es hier, und
das ist entscheidend, stets nur mit Ausschnitten zu tun. Darin liegt eine
entscheidende Erkenntnis, sprechen wir über Totalitarismen der Gegenwart
oder Zukunft. Es ist eben, wie Benjamin es schreibt: „Wir können das Netz in
dem wir stehen nicht zuziehn.“
Es war nicht beabsichtigt, aber im Nachhinein fällt auf, dass sich die
Arbeiten, auf Orte und Personen bezogen, immer wieder überlagern. Mauthausen
etwa taucht mehrfach auf, so auch in der Beschäftigung mit Walter Benjamin.
Sein Bruder Georg, er war Kinderarzt, wurde im August 1942, wenige Wochen
nach Nikolaus Hovorkas Entlassung aus Mauthausen, ihm sind zwei der Arbeiten
gewidmet, dort ermordet.
© Bernhard Kathan, 2017