Kapitel 3
Nach dem Fest der zusammenprallenden Steine wechselte ich vom Park in den Garten, aus einer offenen Parklandschaft in eine Gartenanlage mit strengen Linien, beschnittenen Hecken und kiesbestreuten Fußwegen, die auf ein weißes Gebäude in der Mitte der Anlage zuliefen, in dem ich mit all den anderen Geweihten untergebracht war. Der Garten war für uns Mädchen tabu. Es gab keinen Zaun, aber wir hätten es nie gewagt, ihn zu betreten. Fiel ein Ball, was geschehen konnte, über die unsichtbar gezogene Trennlinie, dann war er verloren, es sei denn, eine der älteren Schwestern hat ihn bemerkt und zurückgeworfen oder Stunden oder Tage später in den Park zurückgebracht, also dann, wenn sie eines der ihr anvertrauten Mädchen besuchte oder dieses stundenweise in den Garten mitnahm, um sich ganz ungestört mit ihm unterhalten zu können. Freilich hatten wir auch dann im Garten nur zu manchen Räumen Zutritt, dies selbst dann noch, als wir zum ersten Mal in Anwesenheit unserer älteren Schwester von einem der Zurüster untersucht wurden und somit als Novizinnen galten. Fortan fanden solche Untersuchungen, die nichts mehr mit kindlichen Spielen zu tun hatten, regelmäßig statt.
Das oberste Stockwerk des weißen Gebäudes war durch einen langen Verbindungstrakt, eine Brücke, die auf schmalen Säulen ruhte, mit dem Komplex verbunden. Wir waren also nicht weit entfernt von all den Labors und Behandlungsräumen. Die Wohnräume sind großzügig ausgestattet. Aber wer immer sie betritt, muss an einen Krankentrakt denken. Die Eizellen und Embryonenproduktion ist mit zahllosen medizinischen Eingriffen, mit der Einnahme von Medikamenten, vor allem Hormonpräparaten, verbunden. Behandlungen ohne Ende. Ein Leben, das sich einzig um Behandlungen dreht. Dabei ist nur schwer auseinanderzuhalten, ob diese der Absicht, möglichst viele Embryonen oder Eizellen zu gewinnen, oder den Folgen solcher Behandlungen dienen. Einmal im Programm, ist man Tag für Tag, Jahr für Jahr mit denselben Dingen beschäftigt. Das Leben kennt wenig Abwechslung. Neben Untersuchungen, Kontrollen oder Eingriffen hat alle Aufmerksamkeit dem eigenen Körper zu gelten, ist man mit gymnastischen Übungen, Massagen und atemtherapeutischen Sitzungen beschäftigt, mit Sportarten, die den Körper fordern, aber nicht überfordern. Es gibt weite Felder, aber an Reiten war nicht zu denken. Embryonen sind ein kostbares Gut. Der Bewegungsdrang von Pferden könnte sich schädlich auswirken, womöglich auch ihr Geruch nach Schweiß und Harn, ein stark geschlechtlicher Geruch. Gesund sollten wir sein, aber es galt auch, die allgegenwärtige Leere zu füllen. Mit Ballspielen etwa. Es gab aber noch eine Aufgabe, der wir uns widmen sollten. Es galt, Novizinnen auf die große Feier, das Fest der zusammenprallenden Steine, und auf ihre spätere Aufgabe vorzubereiten. Um eines oder zwei der Mädchen sollte jede Geweihte sich annehmen. So es die Zeit erlaubte, war es uns möglich, einige Stunden in den Park zurückzukehren und uns um unsere Schützlinge zu kümmern. Ich hatte mich eines Mädchens mit dem Namen Niobe angenommen.
Im Abfallkübel fand sich folgende Notiz der Vp: "Denke oft an Niobe. Ich habe alles falsch gemacht. Aber hätte ich es richtig machen können? Lässt sich etwas richtig machen, haben Worte eine andere Bedeutung, als sie auszudrücken vorgeben? Gewiss, die großen Feiern waren feierlich, aber es waren keine Feiern. Ich war nie eine ältere Schwester, mochte dies genetisch auch der Fall gewesen sein."
Als Kind sah ich die Welt mit den Augen des Parks. Noch heute habe ich das Gezwitscher der Vögel im Ohr, das zu Frühlingsbeginn aus großen Blutbuchen klang. Die Welt eines Kindes kennt konzentrische Kreise, die, je älter es wird, sich Ring um Ring erweitern. Auch das Bild einer Zwiebel drängt sich auf. Wird eine der Schalen verletzt oder tritt sonst eine Störung auf, so narbt sich das fort, Schale um Schale, Kreis um Kreis. Einmal vernarbt, immer vernarbt. Die Wunde lässt sich nie mehr wirklich schließen, wenn etwa ein Kind zu früh in das Geschlechtliche gestoßen wird. Ich wurde zu früh in das Geschlechtliche gestoßen. Und doch schien mir die Welt meiner Kindheit normal wie jede andere. Ist es nicht so? Kinder können unter den schrecklichsten Bedingungen aufwachsen. Ob sie hungern oder zur Arbeit gezwungen werden, sie erleben all das als normal, als gegeben, so lange ihnen nicht bewusst ist, dass andere Kinder in ganz anderen Verhältnissen leben, weder zur Arbeit getrieben werden, noch hungern müssen. All die Züchtigungen, mochten sie noch so weh tun, fielen nicht aus dem Rahmen, auch nicht die Wut, die sich manchmal entladen konnte. Ich sehe mich rittlings auf Rita sitzen, diese unter mir, auf dem Rücken im Gras liegend, fest eingeklemmt zwischen meinen Schenkeln. Mit Gewalt öffne ich ihren Mund und drücke ihr einen Stock, wie einem Pferd die Trense, zwischen die Zähne, lege mein ganzes Gewicht auf den Stock, bis sich die Mundwinkel spreizen und Rita zu bluten beginnt. Ich weiß nicht, wann ich aufgehört hätte, wäre nicht eine der Mütter eingeschritten. Ich kann mich nicht daran erinnern, weshalb sie bestraft werden sollte. Vielleicht hatte sie, angeregt durch eine Geschichte, die sie las, nach Mutter und Vater gefragt. Mit dem Stock im Mund konnte sie nicht mehr sprechen. In das Gefühl meiner Macht mischte sich aber auch so etwas wie Scham. Und doch trieb mich etwas an, zwang mich, den Stock mit aller Kraft, über die ich damals verfügte, in Ritas Mund zur drücken. Dabei empfand ich gerade ihr gegenüber, sie war jünger als ich, eine große Zuneigung. Oft genug war ich nachts, von anderen unbemerkt, unter ihre Decke geschlüpft, um tuschelnd Geheimnisse auszutauschen. Rita wurde bestraft, weil sie Fragen stellte, die als unanständig galten. Sie stellte Fragen, die ich mir bereits abgewöhnt, verboten hatte. Wer Regeln verletzte, und dies auch ohne um sie zu wissen, wurde stets den größeren Mädchen überlassen. Kinder können grausam sein. Ich war nicht anders, wohl auch deshalb, weil ich an anderen Tagen ähnliches über mich ergehen lassen musste. Ich werde es nie vergessen, als ich, ich kann mich nicht erinnern, welche Regel ich verletzt hatte, mit ausgestreckten Beinen, am Boden sitzend, an eine der Buchen gefesselt wurde und lange Stunden mir selbst und den Ameisen überlassen blieb. Es war ein nebeliger, feuchter Herbsttag. Fiebernd lag ich dann tagelang im Bett. Deutlich vor meinen Augen sehe ich die Narben der Bäume, die sich bilden, wird ein dickerer Ast am Stamm des Baumes abgeschnitten. Buchen bilden dicke Wülste, um solche Wunden zu schließen. Es gab eine Zeit, da beschäftigten mich solche Wülste und Vernarbungen. War es möglich, sie zu erreichen, tastete ich sie ab, um sie dann aus dem Gedächtnis zu zeichnen.
Die Vp erzählt von sich, wenn auch nur höchst zaghaft und für mich weitgehend unverständlich. Spricht von Zurüstern, erwähnte, dass man sie in ein kaltes Wachstuch gehüllt und auf einen Altar, ein lebendiges Wesen, gebettet habe. Das sei einer Aufspießung gleichgekommen. Ihre Gedanken drehen sich immer wieder um einen Bischof von Aleppo. Selbst wenn all das sich einer üppigen Phantasie verdanken sollte, so sind doch reale Erfahrungen anzunehmen. Phantasien fallen bekanntlich nicht vom Himmel und bedürfen eben einer Rückübersetzung. Immerhin spricht die Vp inzwischen mit mir.
Mochte sich Deborah auch täglich, ob es mir gefiel oder nicht, mit dem Staubsauger durch die Räume bewegen, die Toilette reinigen, den Kühlschrank in regelmäßigen Abständen abtauen, Vorhänge auf oder zuziehen, meine Wäsche waschen, bügeln, die Wäsche in den Schrank räumen (wie gewissenhaft sie das machte!), Schmutzwäsche, die ich einfach auf den Boden fallen ließ, in einen Wäschekorb stopfen, Lebensmittel einkaufen, Blumen gießen wie vielerlei ähnliche Dinge tun, so galt all ihre Aufmerksamkeit doch mir. Tatsächlich war ich der Raum, den sie pflegte. Alles andere als eine leichte Aufgabe. Erst allmählich wurde ich mir dessen bewusst. Sie hatte mich mit dem Leben in der Außenwelt vertraut zu machen. Ich war nie zuvor in einem Supermarkt, nie in einem Lokal gewesen. Ich wusste nicht, wie man Essen bestellt. Deborah gab sich höflich, dienstbeflissen, auf ihre Rechte bedacht. Obwohl wir wenig sprachen, schon gar nicht über uns selbst, spürte ich zunehmend ein gewisses Wohlwollen. Deborah setzte mir nicht einfach das Essen vor. Sie gab sich Mühe, mehr noch, ich spürte eine gewisse Leidenschaft. Ich brauchte lange, um das zu erkennen. Frischen Koriander, man muss ihn riechen, seinen Geschmack im Mund haben, wissen, in welchem Geschäft man ihn erhält. Man muss wissen, welche Stimmungen und Empfindungen er anregt. Deborah streute nicht einfach frischen Koriander in die Suppe. Sie arbeitete mit Geschmacksempfindungen, Gerüchen, auch mit Farben. Jede noch so einfache Speise wurde zu einer kleinen Komposition. Ich erinnere mich etwa an mit säuerlichen Beeren gefüllte Teigtaschen. Daneben ein flatternder Schmetterling. Deborah hatte sich die Mühe gemacht, aus einem Blatt Papier einen Schmetterling auszuschneiden, die Vorlage über den Teller zu halten und mit Zimt vermengten Zucker durch ein engmaschiges Sieb zu schütteln. Wegfliegen! An anderen Tagen konnte sie aus frisch gepflückten Reizkern, die, werden sie kurz in heißer Butter gedünstet, einen gelbroten Saft von sich geben, ein kleines Gericht, tatsächlich andere Vorstellungen zaubern. Wie schön machten sich die violetten Blüten wilden Lauchs auf dem Teller, ihr zarter Knoblauchgeschmack im Mund, immer ein vermittelndes Drittes mitgedacht. Deshalb das Rot der Erdbeeren, der Tomaten, das leuchtende Grün frischer Basilikumblätter, das Gelb der Zitronenschale. Deborah sah darin wohl die erste Möglichkeit, mich zu erreichen. Wieder von vorne beginnen. Wie ein kleines Kind. Mit der Nahrungsaufnahme. Die Welt erst einmal mit dem Mund wahrnehmen. Muttermilch hätte sich nicht geeignet.
Heute hat die Vp nach Wochen, in denen sie auch tagsüber zumeist im Bett lag, das erste Mal die Wohnung verlassen. Sie hat mich in den nahegelegenen Supermarkt begleitet. Menschen schienen ihr Angst zu machen. Sie wirkte unsicher, ortlos, verstört zwischen all den Regalen und Angeboten. Wir kauften frischen Spargel, grünen Spargel, die nötigen Zutaten (Eier, Olivenöl, Senf, Pfeffer, Salz, eine Zitrone), um den Spargel nach einem italienischen Rezept zuzubereiten. In die Wohnung zurückgekehrt, taute die Vp etwas auf. Die Zubereitung des Spargels schien ihr eine gewisse Freude zu machen. Beim gemeinsamen Kochen stellte sie sich, wie nicht anders zu erwarten, sehr ungeschickt an. Aß den Spargel aber mit sichtlichem Stolz. Werde in den nächsten Wochen versuchen, die "Spaziergänge" täglich etwas auszudehnen. Die Vp sollte eine grobe Vorstellung des umliegenden Stadtraumes entwickeln. Supermärkte, Banken, Krankenhäuser, Sakralbauten, Parkanlagen, Cafés, Restaurants. Warum nicht das Technische Museum besuchen? Auch das Anatomiemuseum böte sich an. An einen Kinobesuch ist derzeit noch nicht zu denken. Die Vp würde weder die raschen Bildschnitte ertragen noch die Bilder, die auf sie einwirken würden. Es wäre ihr unerträglich, eingezwängt unter fremden und, wie sie sagt, hässlichen Menschen zu sitzen. In einem Kellertheater ist derzeit die Aufführung einer Bearbeitung von Wedekinds "MineHaha" zu sehen. Das könnte sie interessieren, scheint mir aber aus den genannten Gründen nicht möglich. Die Vp muss nicht nur lernen, sich in der Außenwelt zu bewegen, zurechtzufinden. Die äußere Wirklichkeit soll auch dämpfend auf das wirken, was an Phantasien, Ängsten oder auch Schmerzen an die Oberfläche drängt. Mit etwas Unterstützung dürfte sie sich im alltäglichen Leben zurechtfinden. Über kurz oder lang sollte die Vp auch tagsüber stundenweise, später tageweise ohne Betreuung sein.
Ich erinnere mich noch gut an den Tag, als ich Deborah zum ersten Mal in einen Supermarkt begleitete. Sie erklärte mir die Ordnung der Regale, deren Fülle ich unerträglich fand. Konservendosen, Milchprodukte, Putzmittel, Regale vollgestopft mit Süßigkeiten. Mein bisheriges Leben kannte weder Werbung noch Verpackung. Spinat sah ich stets nur angerichtet, als zusammengefallene grüne Blätter auf weißen Tellern. Die Regale ließen mich an Enzyklopädien denken, in denen ich früher oft genug geblättert hatte. Trotz der Fülle schien vieles zu fehlen. Enzyklopädien kennen keine Serien. Die Nachtigall wird nur einmal erwähnt: "Die Nachtigall ist unbestritten die Königin unter den Singvögeln und wird daher oft als Stubenvogel gehalten, obgleich ihr Fang ..."
[1] Zu jedem Thema findet sich nur ein einziger Eintrag. In Supermärkten scheint jedes Produkt endlos vorhanden. Was immer entnommen wird, wird wieder eingefügt.
Die Menschen, denen ich begegnete, schienen mir alles andere als glücklich. Abgesehen von einigen Jugendlichen schienen sie mir aufgedunsen, müde, in ihren Bewegungen höchst ungelenk, ohne wirkliche Bodenhaftung. Ekelgefühle. Nichts wollte mir ins Auge springen. Ich sah nichts, was ich essen oder trinken wollte. Lustlos legte ich einige Milchprodukte in den Einkaufswagen. In der Gemüseabteilung, nahezu alles war eingeschweißt in Plastikfolien, entdeckte ich frischen Spargel. An den Schnittstellen Wassertropfen. Daneben sehr schöne Zitronen. Deborah entschied sich für ein teures Olivenöl. Der Preis spiele keine Rolle. Als wir uns in einer Warteschlange auf die Kassa zubewegten, lief sie noch einmal zurück und brachte einen Karton, darin sechs Eier, auch Weißwein. Deborah hatte mir die Bankomatkarte erklärt. Hier wurde noch nicht vom Körper abgebucht. Der mir implantierte Chip hatte an solchen Orten noch keine Geltung. Den vierstelligen Code habe ich mir öfters vorgesagt. Was würde ich tun, wäre ich allein, hätte ich ihn vergessen? Mit solchen Gedanken stand ich in der Warteschlange. Vor mir eine Mutter mit einem etwa dreijährigen Buben. Das Kind trotzte. Je mehr die junge Frau es zurechtwies, es schalt, es schließlich durch Schütteln zur Ruhe bringen wollte, umso lauter schrie es, riss sich los, warf sich auf den Boden. Das arme Kind. Um die Mutter anzusprechen, musste ich meinen ganzen Mut zusammennehmen: "Machen Sie sich doch keine Sorgen. Was wäre aus uns geworden, hätten wir in diesem Alter keine Tobsuchtsanfälle gehabt?" Aus uns? Mochte ich auch gleichen Geschlechts, im selben Alter sein wie diese Frau, ein Abgrund trennte uns. Zweifellos stehe ich Kühen näher als dieser Frau. Meinte ich "uns", so hoffte ich wohl, auch dazuzugehören, in dieser amorphen Ansammlung von Menschen aufzugehen. Die Frau warf mir einen kurzen verständnislosen Blick zu. Welchen Fehler hatte ich gemacht? Trage ich ein Kainsmal auf meiner Stirn? Ich war irritiert. Neben mir das Band mit den aufgelegten Waren. Ruckartig bewegte es sich weiter. Die Frau an der Kassa zog all das, was auf dem Band lag, über einen Scanner. Bei jeder dieser Bewegungen war ein Piepsgeräusch zu hören, und da mehrere Kassen nebeneinander angeordnet waren, klang es wie in einem Hühnerstall, ein Bild allerdings, das sich mir erst lange Zeit später aufdrängen sollte. Auch wenn ich damals noch keine Vorstellung von einem Hühnerstall hatte, das stete Piepsen ließ mich, mochte es auch keine Modulation kennen, an junge Vögel, an Nachtigallen denken. Was die Haltung von Nachtigallen in Zimmern betrifft, so hatte ich gelesen, dass man sie entweder frei umherlaufen oder in einen Bauer setzen solle. Lasse man sie frei laufen, so dürfe man sie nicht mit Meisen und Rotkehlchen zusammenbringen, da sie sich mit diesen nicht vertrügen. Auch müsse man ihnen einen Flügel verschneiden, damit sie nicht wegfliegen könnten.
[2] Die Vorstellung, sich am Gesang verstümmelter Vögel zu erfreuen, hatte mich bereits Jahre zuvor befremdet. Im Park waren oft genug Nachtigallen zu hören. Sie waren da, mochte man auch nur selten eine zu Gesicht bekommen. Supermärkte kennen keine Nachtigallen, nur Menschen, aber auch diese scheinen an manchen Stellen beschnitten, um sie an der freien Bewegung zu hindern. Nein, ich würde es nicht ertragen, tagein tagaus Packungen über einen Scanner zu ziehen.
Nun war die Frau an der Kassa mit dem Spargel und den anderen Dingen beschäftigt, die ich so auf das Band legte, wie es die Kundin (damals ein völlig neues Wort für mich) vor mir gemacht hatte. Ich mied ihren Blick. Plötzlich sprach mich die Frau unwirsch an: "Sie könnten etwas freundlicher sein. Ich bin keine Maschine. Ich bin ein Mensch ..." Die Bemerkung traf mich, trotz meines Wissens, dass Menschen ähnlich organisiert sein können wie die Dinge, mit denen sie zu tun haben. Hatte nicht auch der Altar, um nur ein Beispiel zu nennen, mir seinen Stempel aufgedrückt, mich zu Haltungen und Bewegungen veranlasst, die sich weniger mir als ihm verdankten? Mit einer entschuldigenden Geste steckte ich das Eingekaufte in eine Plastiktüte. Dann versuchte ich die Karte, so wie Deborah es mir erklärt hatte, in den Schlitz der Konsole zu schieben. Solche Geräte erklären sich zumeist selbst. Aber in meiner Aufregung, immer noch die Bemerkung der Kassiererin, sie sei keine Maschine, im Ohr, bedurfte es mehrerer Versuche, die geforderte Steckrichtung herauszufinden. Während sie mir gereizt zusah, ließ sich Deborah, die neben mir stand, nicht aus der Ruhe bringen. Wieder auf der Straße meinte sie: "Nehmen Sie es nicht persönlich. Nur zu verständlich, denkt man an ihre stumpfsinnige Arbeit. Sie haben es großartig gemacht. Sie müssen etwas Geduld haben ..."
Wieder in der Wohnung begann Deborah, in Schubladen nach Töpfen und Küchengeräten zu suchen, unter anderem nach einem Gerät, das zum Schälen von Obst und Gemüse verwendet wird. Heute habe sie Lust, gemeinsam mit mir zu kochen. Tatsächlich erklärte sie mir nur jeden einzelnen Arbeitsschritt und überließ mir das Weitere. Die einfachsten Dinge habe ich nicht gelernt. Es ist gar nicht so einfach, Spargel beim Schälen so zu halten, dass er nicht bricht. Einfacher war es, das Eigelb vom Eiweiß der hartgekochten Eier zu trennen, in einer Schale das Eigelb erst mit Senf, Salz, Pfeffer und warmer Fleischbrühe (Deborah hatte am Vortag daran gedacht), dann mit Olivenöl zu verrühren, schließlich das feingehackte Eiweiß und den feingeschnittenen Schnittlauch unterzumischen. Erstmals saßen wir gemeinsam am Tisch. Wir sprachen wenig, aber es hatte etwas Feierliches. Was zählte da, dass mir nicht wenige der Spargelstangen beim Schälen abgebrochen waren.
Die Vp klagte. Führte Selbstgespräche, erwähnte immer wieder einen Paul, den sie wohl geliebt haben muss. Meine Anwesenheit schien sie nicht zu stören. An mich waren ihre Worte nicht gerichtet. Immer wieder ging es um Rinderweiden, Kühe, um Himmelskühe. Manchmal schien sie mit Paul zu sprechen. Ich notierte einige ihrer Äußerungen: "Erinnerst du dich an das Mädchen, das ein Herz zubereiten musste und schwanger wurde, weil es den Dampf der Suppe eingeatmet hat? Du hast mir die Geschichte erzählt ... Warum sind wir nicht gemeinsam weggelaufen? ... Ist uns der Gedanke je gekommen? Hatten wir überhaupt eine Vorstellung? ... Wir konnten uns kein anderes Leben denken ... Plötzlich warst du verschwunden. Dort, wo wir uns immer getroffen hatten, da fand ich dich nicht mehr. Was haben sie mit dir gemacht, was ist dir geschehen? Ich richte mich in meinen Wunden ein. Was sollte ich sonst tun? Paul, ich vermisse dich. Du fehlst mir ... Du hast mich erkannt. Dir war ich nicht Gebrauchsgegenstand. Wir machten Freudensprünge wie Jungstiere, die aus dem Stall kommen ...
[3]
Ein junger Zurüster. Ich fand ihn sympathisch. Er sprach mit mir, wenn auch wenig. Er konnte mich, was höchst ungewöhnlich war, nach meinem Empfinden fragen. Ob ich mich in den vergangenen Tagen entspannt hätte? Manchmal fragte er mich nach meinen Träumen (solcherlei hätte ich ihn nie zu fragen gewagt). Kurze Zeit freute ich mich auf die Untersuchungen, ja selbst auf Eingriffe, die oft genug schmerzhaft waren. Stets hoffte ich, er möge es sein, der mich behandle. Er hatte eine angenehme Stimme. An jenem Tag ließ er sich besonders viel Zeit. Ich war mit ihm allein. Er sprach weiter, als ich die Untersuchung hinter mir hatte. Sie war zu Ende. Ich kannte die Abläufe genau, wusste jede Bewegung und jeden Knopfdruck zu deuten, auch mit geschlossenen Augen. Jedes noch so kleine Geräusch gab mir Auskunft. Die Prozedur war erledigt. Da alle Befunde normal waren (was war da schon normal?), gab es keinen Grund für ein Gespräch. An Gespräche im eigentlichen Sinn kann ich mich ohnehin nicht erinnern. Eigentlich handelte es sich immer um Anweisungen. Dies und das sei zu befolgen, auf dieses oder jenes habe ich zu achten. In zwei Tagen werde man mich wieder aufrufen. Würden sich die Embryonen ausspülen lassen. Nichts dergleichen. Aber er sprach. Schön sei ich. Es mache ihm immer Freude, mich zu sehen. Solches sagte er mir. Plötzlich spürte ich seine Hände über meine Knie, über meine Schenkel, über die Innenseiten meiner Schenkel streichen. Sie glitten über meine Bauchdecke. Dann beugte er sich über mich. Seine Hände umfassten meine Hüften und zogen mich mit einem kräftigen Ruck nach vorne. Ich spürte, wie sich sein Körper gegen meine Schenkel presste und er in mich eindrang. Es war eine ganz andere Empfindung, als ich sie bislang gekannt hatte, waren Zurüster mit meinem Geschlecht beschäftigt. Was das weibliche Geschlecht betrifft, hat man uns nie im Unklaren gelassen. Die Beschaffenheit des männlichen Gegenstücks wurde uns allerdings stets verschwiegen. Wir sollten nicht auf falsche Gedanken kommen. Früher einmal hätte man von unkeuschen Gedanken gesprochen. Und doch gab es in mir so etwas wie ein körperliches Begehren. Kurz durchlief mich ein wohliger Schauer. Heute finde ich das erstaunlich, frage ich mich doch, was ich mit einem Körperteil empfinden konnte, der Gegenstand zahlloser Manipulationen, der mir zur Wunde geworden war. Nach einigen heftigen Stößen, die von einem seltsamen Keuchen begleitet waren, meinte er: "Verzeihen Sie, das darf nie mehr geschehen. Es könnte jederzeit jemand eintreten." Mit der Bemerkung, er habe etwas Dringendes zu erledigen, verließ er den Raum, ohne den Behandlungsstuhl in die Ausgangslage zu bringen, um mir das Aufstehen zu erleichtern. Ich lag verstört da. Ich wusste nicht, wie mir geschehen war. Ich richtete mich auf, griff nach einem der bereitliegenden Papiertücher und wischte mich ab. Nicht an jenem Tag, als ich das Fest der zusammenprallenden Steine erlebte, an diesem Tag wurde ich erwachsen. An beiden Tagen wurde ich in etwas hineingestoßen, wurde von mir Gebrauch gemacht. Nun war es das erste Mal, dass ich das Glied eines Mannes in mir spürte. Damals hatte ich noch einen sehr schönen Körper. Er interessierte sich nicht dafür, was ich dachte, fühlte oder sah. Er strich nicht durch mein Haar, sah mir nicht in die Augen, legte seine Arme nicht unter meinen Nacken, um meinen Kopf an sich zu ziehen, um mich zu spüren, um meinen Geruch in sich aufzunehmen. Er nahm mich nicht in seine Arme, drückte mich nicht an sich, er küsste meinen Zehen nicht. Ich blieb Unterleib. Auch sein Interesse galt einzig meinem Unterleib. So oder so war ich ein lebender Gebrauchsgegenstand. Übrigens habe ich diese Erfahrung noch aus einem anderen Grund in Erinnerung. Heute erstaunt mich die Schamhaftigkeit, mit welcher dieser Zurüster, längst ist er in leitender Funktion tätig, kaum hatte er abgespritzt, sein erschlafftes Glied zum Verschwinden brachte, ein Zurüster, der nicht die geringste Scheu kannte, mich zu untersuchen und mir Instrumente durch die Bauchdecke oder in den Geschlechtsapparat zu schieben. In der Folge begegnete er mir, als sei zwischen uns nie etwas geschehen. Ich blieb mit meiner Erfahrung allein. Es gab niemanden, mit dem ich sprechen hätte können. Auch fehlten mir all die Worte, derer ich bedurft hätte, um meine Verwirrung zur Sprache zu bringen. Niemand hätte mich verstanden, nicht eine der Geweihten, mit denen ich Tür an Tür lebte, mit denen ich meine Tage verbrachte und von denen die eine oder andere ähnliches erlebt haben muss, waren wir doch alle im blühendsten Alter, ohnehin fast nur Geschlecht, von Kind an darauf gedrillt, alles hinzunehmen, wurde uns doch beigebracht, Zurüster als Vertreter einer besonderen, einer höheren Kaste zu betrachten, der wir uns stets unterzuordnen hätten. Aber damals begann ich die Welt, in der ich lebte, anders zu sehen. Lag ich fortan auf dem Untersuchungsstuhl, so fühlte ich mich in eine Lage gezwungen, aufgespießt. Anfangs waren es vage Empfindungen.
Vp erstaunlich offen. Glaube nicht an Phantasien. Erlebte Gewalt lässt sich oft nur in Bildern, Metaphern ausdrücken. Kann mich gut an ein Mädchen mit üppigsten Phantasien erinnern. Meine Kollegen stürzten sich auf das vermeintlich Abnorme und suchten dem auffallenden Verhalten mit Hilfe von Laboranalysen auf die Spur zu kommen. Vergeblich. Wie sich später herausstellte, wurde als Mädchen als Kind in einer Kiste gehalten und regelmäßig zu geschlechtlichem Gebrauch hervorgeholt.
Während der ersten Wochen unserer Bekanntschaft trug Deborah nahezu den ganzen Tag Einmalhandschuhe, ungepuderte Latexhandschuhe, deren Geruch mir bestens vertraut war. Nur zu oft habe ich es erlebt, dass ein latexbehandschuhter Finger meine Augenlider hob, sich in meinen Mund schob, ganz zu schweigen von den natürlichen und künstlich geschaffenen Öffnungen meines Unterleibes. An Latexhandschuhe war ich gewöhnt. Deborahs Einmalhandschuhe fielen mir deshalb erst auf, als sie es zunehmend vermied, solche zu tragen. Wie glücklich war ich an jenem Tag, als sie mir das erste Mal Blut abnahm, ein tägliches Ritual, wohl als eine Art Leistung gedacht, ohne mich mit Latexhandschuhen zu berühren. Ich spürte die Haut ihrer linken Hand, in die ich meinen Arm legte. In diesem Augenblick hätte ich Deborah gerne umarmt. Aber das verbot die geforderte Distanz.
Eines Abends stand Deborah heulend vor dem Fenster. Schluchzte. Plötzlich meinte sie: "Vertrauen Sie nicht länger Ihrer Raumpflegerin!" Erst nach einiger Zeit verstand ich. Sie sei gar keine Raumpflegerin. Sie habe nur eine Rolle gespielt. Sie sei ausgebildete Kindertherapeutin. Als solche werde sie bezahlt, mir zu helfen, damit ich mich in der kalten Außenluft zurechtfände. Sie habe strikt nach einem vorgegebenen Plan gearbeitet, zu dem auch Rollenspiele zählten. Der Supermarkt, unsere Theaterbesuche, ja selbst die Wanderung, die uns beiden letzthin so viel Spaß gemacht habe, alles sei vorab durchgesprochen, geplant gewesen. Eine Mitarbeiterin habe ihr zugearbeitet, nach geeigneten Orten für Ausflüge gesucht, selbst die Zutaten für Gerichte organisiert. Frischen Spargel, ich könne mich sicher erinnern, gäbe es in keinem einzigen Geschäft der Stadt. Man habe ihn eigens auf dem Land besorgt, mit dem Supermarkt alles abgeklärt. Das Joghurt wie anderes, das ich mir ausgesucht habe, werde im Sortiment gar nicht geführt. All diese Dinge hätten sich nur deshalb in den Regalen befunden, um eine Brücke in mein früheres Leben herzustellen. Joghurt, wie ich es kenne, sei wegen des geringen Zuckergehalts gar nicht markttauglich. Mit der Frau an der Kassa sei die Szene geübt worden. Dummerweise habe sie sich gegen die ihr zugewiesene Rolle verhalten. Die Mitarbeiterin habe nach frischen Pilzen, seltenen Kräutern gesucht. Studenten oder Arbeitslose seien mit unterschiedlichen Aufgaben betraut worden. Manche, denen wir begegnet seien, hätten sich alles andere als zufällig an diesem oder jenem Ort befunden. Die hübsche Nonne im Museum, eine Schauspielerin. Nicht zuletzt sei es Aufgabe der Mitarbeiterin gewesen, möglichst viele ähnliche Fälle zu dokumentieren, so etwa Geschichten von Nonnen, die mit fünfzehn Jahren in ein Kloster eintraten, dann aber, oft nach Jahrzehnten, flüchteten oder verstoßen wurden. Wie fanden sich diese Frauen in der äußeren Wirklichkeit zurecht? Konnten sie ein eigenständiges Leben führen? Wurden sie auffällig? Deborah sprach von Dingen, von denen ich noch nie etwas gehört hatte. Was wusste ich schon über das Leben von Nonnen?
Deborah weinte. Sie habe mich verraten. Regelmäßig habe sie Berichte über die Vp, also über mich, die Versuchsperson, an das Unternehmen geschickt. Über meine Vorgeschichte habe man sie im Unklaren gelassen. Ich war erstaunt, aber im Augenblick berührte es mich nicht sonderlich. Nach längerem Schweigen sagte Deborah: "Wir dürfen uns nicht mehr begegnen." Deborah beruhigte sich. Sie bat mich, auf sie zu warten. Sie wolle sich umziehen. Ich war nie im Umkleideraum, wusste nur, dass sich dieser im Kellergeschoß befindet. Während ich in die Dunkelheit vor dem Fenster starrte, ging mir all das durch den Kopf, was Deborah eben gesagt hatte. Was sollte jetzt aus mir werden? Ich hatte Angst. Ich würde sie vermissen.
Als die Tür endlich wieder zufiel, sah ich eine ganz andere Deborah vor mir. Sie musste lange unter der Dusche gestanden haben, wohl im Bemühen, die Erfahrungen der letzten Monate, all die Anstrengungen mit mir, abzuwaschen. Ihr Gesicht, gelöst, klar, war dezent geschminkt. Ein feiner Lidschatten. Das Rot ihres Lippenstifts brachte ihren Mund, er fiel mir jetzt das erste Mal auf, zur Geltung. Eine attraktive Frau, die sich zu kleiden weiß. Unter ihrem Arm die Kleidungsstücke, die sie als Raumpflegerin zu tragen pflegte: "Darf ich meine Hülle bei Ihnen zurücklassen? Den Abfallkübel müssen Sie mir nicht zeigen." Und dann: "Ich würde gerne einen Cognac trinken." An diesen Augenblick musste Deborah schon länger gedacht haben. Bereits Wochen zuvor hatte sie Cognac mit zwei passenden Gläsern besorgt. Wir stießen an, nippten aus unseren Gläsern, schweigend. Plötzlich meinte sie: "Darf ich Sie etwas fragen? In Ihren Selbstgesprächen erwähnten Sie öfters Zurüster. Mir wurde gesagt, Sie hätten eine blühende Phantasie, was die erwähnten Zurüster deutlich belegten." - "Phantasiegeschöpfe? Es gab sie und es gibt sie sicher noch immer, ganz real. Wenn sie sich einer blühenden Phantasie verdanken, dann nicht meiner, sondern den Phantasien jener, die alles ins Werk gesetzt haben. Zurüster, das sind Männer, die sich an den Körpern von Mädchen und jungen Frauen zu schaffen machen." Gerne hätte ich es Deborah genauer erklärt. Ich konnte es nicht. Hätte ich ihr die vielen Narben an meinem Körper zeigen sollen? Plötzlich legte sie den gestreckten Zeigefinger ihrer rechten Hand auf ihre Lippen. Sie reichte mir einen zerknitterten Zettel. Darauf stand in Blockbuchstaben zu lesen: BITTE NICHT LAUT LESEN. MAN KÖNNTE SIE HÖREN. SOLLTEN SIE HILFE BENÖTIGEN, RUFEN SIE FOLGENDE NUMMER AN ... MAN WIRD IHNEN SAGEN, WO SIE MICH FINDEN KÖNNEN. VERTRAUEN SIE NIEMANDEM! VERZEIHEN SIE MIR. ICH DANKE IHNEN. ICH HABE VIEL VON IHNEN GELERNT.
Anmerkungen
Handschriftliche Randnotizen, eingelegte Notizblätter sowie Anmerkungen des Herausgebers. Letztere sind in eckige Klammern gesetzt.