Kapitel 13
Vielleicht sollte ich mir einen Hund besorgen, warum nicht aus einem Bukarester Tierheim. Man würde mir weismachen, einen Straßenköter vor dem Elend gerettet zu haben. Nein. Es lebe der Straßenköter. Auf der Straße, von Raub und Betteln. Wie könnte ich mich für einen Hund verantwortlich fühlen, bin ich nicht einmal in der Lage, auf mich selbst zu achten. Ich mache meine Spaziergänge lieber ohne Hund. In der Früh setze ich mich in ein Café und lese in einem der Bücher, die mich gerade beschäftigen. Nur wenige Seiten. Morgenbetrachtung eben. Bedauerlicherweise wechselt das Personal häufig. Ich mag es, nimmt man mich wie ein Möbelstück wahr, so als gehörte ich zum Inventar. Automatisierung des alltäglichen Lebens. Ich lobe mir die Trafikantin, die noch nach einem halben Jahr weiß, welche Marke ich rauche. Und fragt sie mich „Zwei?“, dann antworte ich: „Ja, zwei bitte.“ Oder die Kellnerin, die mir meinen Espresso bringt, ohne dass ich etwas sagen muss. Auf meinem Rückweg, er führt mich durch eine Parkanlage, lasse ich das Gelesene nachwirken. Abends in einem anderen Lokal. Da es eben erst geöffnet hat, bin ich zumeist zwei Stunden lang der einzige Gast. Während dieser Zeit kann ich gut arbeiten. Nahezu alles, was ich schreibe, schreibe ich dort. Im Zentrum der Bar, auf einer Art Thekengeviert, eine lebensgroße Madonna, eine Lourdesmadonna. Eine unsägliche Kitschfigur. Sie sieht einer Besucherin ähnlich. Allerdings nimmt diese Ähnlichkeit zunehmend ab. Im Gegensatz zur Besucherin altert die Madonna nicht. Sie behält ihr Mädchengesicht. Durch den Rauch ist sie im Laufe der Jahre einzig dunkler geworden, verrußt, und stünde sie lange genug an ihrem Platz, sie würde zu einer schwarzen Madonna. Das Mädchengesicht bliebe ihr. Mehr Kind als junge Frau, beginnen sich die Brüste doch erst abzuzeichnen. Brustknospen, das wäre zu viel gesagt. Grödener Massenware. Dem Aufmerksamen teilt sich das ratternde Geräusch des Schnitzroboters mit. Wie auch immer. Maria steht in großer Unschuld da.
Beginnt sich das Lokal zu füllen, dann kommt es oft zu unerwünschten Störungen. Nur selten habe ich Lust, mich zu unterhalten. Es gibt natürlich Ausnahmen. Manchmal überkommt es mich, eine Geschichte zu erfinden und zu erzählen, unmögliche Geschichten. Kann man erzählen, schmückt man aus, spielt man mit Andeutungen, so lassen sich andere vom größten Unsinn überzeugen, von Geschichten, die ich eben erfunden habe, die sich Stichworten oder anderen Hinweisen meiner Gesprächspartner verdanken. Ich erzähle ihre Geschichte. Ich bin nur Medium. Meine einzige wirkliche Begabung. Ich wurde als Medium geplant, als Medium erzogen. Ob Geschichten oder Embryonen, das macht keinen großen Unterschied. Ist nicht mit jedem Embryo ein Narrativ, eine Geschichte in die Welt gesetzt? So müde und leer mich das machen kann, die Empfindung von Leere, manchmal einer bodenlosen Leere, steigt mit dem Unterhaltungswert. Viel schwerer wäre es, meine Geschichte zu erzählen, etwa über Zurüster oder die große Feier zu sprechen. Das ist nicht möglich. Vollkommen unmöglich. Erzählen lässt sich nur, was anderen bereits bekannt ist, zumindest in kleinen Dosen. Vielleicht ist hier der Grund zu sehen, warum ich Geschichten kaufe, besser gesagt, kaufen möchte. In Lokalen begegne ich immer wieder Menschen, die Uhren, Sonnenbrillen, Schlüsselanhänger, Plüschtiere, geschnitzte Elefanten oder ähnlichen Plunder zum Verkauf anbieten. Wer benötigt heute noch eine Uhr, sind wir doch längst selbst zu Uhrwerken geworden. Auch gibt es keinen Grund, sich abends in einem ohnehin dunklen Lokal hinter einer Sonnenbrille zu verbergen. Matroschka-Puppen. Was soll ich mit einer Matroschka anfangen, mag mir die Vorstellung auch gefallen, endlos aus einer Puppe kleinere, in ihrer Gestalt und Bemalung gleichbleibende Puppen zu entnehmen, und das bis hin zur Unsichtbarkeit. Es sind allerdings bestenfalls sieben solcher Puppen ineinander geschachtelt, nicht unendlich viele, nicht einmal so viele, dass sich die kleinste nur noch unter einer Lupe betrachten ließe. Ich sage stets, ich würde nur Geschichten kaufen. Sie sollen mir eine Geschichte erzählen, diese könne auch erfunden sein. Bislang konnte oder wollte mir keiner dieser Menschen eine Geschichte verkaufen. Dies scheint so aussichtslos wie der Versuch, einem Taubstummen das von ihm auf den Tisch gelegte Kärtchen abzukaufen: „Ich bin taubstumm. Bitte um eine kleine Gabe.“ Mit so einem Taubstummen verhandelte ich lange. Ich wollte so ein Kärtchen haben, eines von vielen, hatte er doch auf jeden der Tische eines gelegt. Er deutete immer nur auf seine Ohren. Plötzlich schrie er mich laut an: „Sie sind das größte Arschloch!“ Wütend verließ er das Lokal, ohne die auf den Tischen liegenden Kärtchen einzusammeln.

Ich führe ein parasitäres Leben. Ich muss mich nicht um meinen Lebensunterhalt sorgen. Das Geld, das monatlich auf ein Konto, auf das ich Zugriff habe (wie lange noch?), überwiesen wird, erlaubt mir zwar kein luxuriöses, aber doch ein zumindest in finanzieller Hinsicht sorgenfreies Leben. Ich kann Reisen unternehmen, in jedem besseren Hotel übernachten, kann mir Essen und Getränke auf mein Zimmer bringen lassen, muss mit Trinkgeld nicht sparen. Und hätte ich Lust, ich könnte einen Liebhaber für die Nacht auf mein Zimmer kommen lassen, einen jungen Burschen, einen Basketballspieler, warum nicht, einen Schüler, der sich mit Latein oder Griechisch abplagt, dabei aber davon träumt, Pilot zu werden, Kampfpilot. Warum nicht einen jungen Studenten der Theologie? Warum nicht eine junge Nonne, mag sie ihre Rolle auch nur spielen? Arbeit im eigentlichen Sinn ist mir fremd. Ich habe nie gearbeitet, dennoch aber Leistungen erbracht, die mir sehr viel Selbstbeherrschung abverlangten und die ihre Spuren hinterlassen haben. Dies allein vermag meine Abneigung gegen bettelnde Menschen nicht wirklich zu erklären. Auch nicht ihre mitleidsheischenden Gesten.[1] Es ist keine Verständigung möglich. Ich habe diesbezüglich manche Versuche angestellt. Ich denke an Slawiza, eine junge Frau. Als sie auf mich zukam, zielgerichtet, trug sie abgenutzte Kleider. Schmutzig war ihre Kleidung nicht, nur ärmlich. Ganz auf mausgrau hatte sie sich gemacht. Ich hörte ihr zu. Solches hatte ich schon oft gehört. Ein herzkrankes Kind. Ganz unglaubwürdig. Aber ich wollte ihre Geschichte, eine Geschichte haben. Wir einigten uns. Mit dem Betrag, den ich ihr gab, hätte sie einen ganzen Monat leben können. Geschichte erhielt ich keine. Drei Worte, ein hingekritzelter Baum, ein aus einer Zeitung gerissener und auf ein Blatt geklebter Ausschnitt, all das hätte mir gefallen, noch mehr eine richtige Geschichte, erfunden oder nicht. Ich sah sie später einmal in einem Supermarkt, in Begleitung einer Freundin. Sie war modisch gekleidet, trug nicht ihr mausgraues Bettlergewand. Die beiden waren sehr vergnügt. Das ist jetzt Jahre her. Unlängst begegneten wir uns wieder in der Fußgängerzone einer anderen Stadt. Sie schien älter geworden. Wieder trug sie ihre mausgraue Erwerbskleidung. Nur zu gut konnte sich Slawiza an mich erinnern. An anderes nicht. Aus dem herzkranken Kind war ein nierentransplantiertes Kind geworden. Aber was macht das schon? Ich verhielt mich ablehnend, kühl. Man kann nicht fortfahren, ist etwas unerledigt geblieben. Das verstand auch Slawiza, die gewiss nicht Slawiza heißt, die sich einmal diesen, dann jenen Namen gibt, um mit sich selbst in Frieden leben zu können.

Einmal wäre es mir beinahe gelungen, einem jungen Mann eine Geschichte abzukaufen. Ich ließ mich auf ein Gespräch ein, obwohl ich seine ungepflegte Kleidung ebenso abstoßend fand wie sein von Pusteln übersätes Gesicht, ganz zu schweigen von seinem devoten Benehmen. Auch ihn bezahlte ich vorab. Ich gab ihm Bleistift und Papier, worauf er sich an einen der Nebentische setzte. Da ich ihm Geld gegeben hatte, konnte er sich etwas bestellen. Ich beobachtete ihn. Es war mir unklar, ob er sich mit Zeichnen oder mit Schreiben beschäftigte. Endlich brachte er mir das Blatt, legte es auf den Tisch und verließ wortlos das Lokal. Auf dem Blatt das Gekrakel einer ungelenken Hand. Weder Zeichnung, noch Schrift. Es war nicht die geringste Ordnung zu erkennen. Oder doch? Kennt nicht auch Unordnung ihre Ordnung? Wenn das Blatt etwas zum Ausdruck brachte, dann: Meine Geschichte gehört mir. Ich kann sie nicht verkaufen. Man kann auch seinen Schatten nicht verkaufen. Leider habe ich das Blatt nicht aufgehoben.

Am selben Abend lernte ich Neurath kennen. An der Bar sitzend, hatte er meine Unterhaltung mit dem jungen Mann beobachtet und verfolgt. Kaum hatte dieser das Lokal verlassen, kam Neurath auf mich zu und sprach mich an.
„Sie wollen Geschichten kaufen?“
„Ja, ich kaufe Geschichten.“
„Von jedem?“
„Nein.“
„Wollen Sie mir eine Geschichte abkaufen?“
„Nein. So wie Sie angezogen sind, scheint mir Ihr Leben zu geordnet. Mein Interesse gilt dem Unversöhnlichen, Geschichten, die sich weder erzählen noch mitteilen lassen.“
„Der junge Mann hätte doch einfach eine Geschichte erfinden können.“
„Nein, das war ihm nicht möglich. Wissen Sie, solche Leute legen sich eine Geschichte zurecht. Auch wenn das eine oder andere zutreffend sein mag, so darf die Geschichte nicht die ihre sein. Wer tagtäglich Verachtung erlebt, muss schon aus Gründen des eigenen Selbstwertgefühls lügen, sich eine Geschichte zurechtlegen, die nicht die seine ist. Und richten sich Menschen einmal in solcher Verlogenheit ein, so kommt ihnen die Fähigkeit, eine Geschichte zu erzählen, abhanden. Nur unter ihresgleichen ist es ihnen möglich. Versuche ich solchen Leuten eine Geschichte abzukaufen, dann werden sie sich dessen auf schmerzhafte Weise bewusst.“
„Haben Sie eine Geschichte?“
„Natürlich. So wie jeder Mensch, wie jedes Lebewesen. Auch jeder Regenwurm, jeder Käfer hat eine Geschichte.“
„Aber eine Geschichte kann doch nur haben, wer sie erzählen kann.“
„Sie muss auch verstanden werden.“
„Was meinen Sie damit?“
„Man sieht es mir nicht an. Ich sehe wie andere Menschen aus. Nur auf den ersten Blick. In Wirklichkeit komme ich vom Mars. Natürlich nicht vom Mars, auf dem bestenfalls, wenn überhaupt, irgendwelche Mikroorganismen existieren können. Der Stern hieß anders ...“
„Und wie lebt es sich auf diesem Himmelskörper?“
„Es gibt da sehr viele Frauen, hübschere Frauen als hier auf der Erde. Bedauerlicherweise werden sie von Zurüstern beherrscht, von wenigen Männern, die seltsam gekleidet sind. Allein über ihre Kopfbedeckungen gäbe es sehr viel zu sagen ...“
„Diese Geschichte kaufe ich Ihnen nicht ab ...“

In der Folge traf ich mich mit Neurath häufig. Manchmal schlief er bei mir, manchmal ich bei ihm. An einem Karsamstag schaute ich mit ihm einige der Heiligen Gräber in den umliegenden Dörfern an. Kulissenwelten aus dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. All die Aufbauten und Darstellungen wirken, als seien sie aus der Zeit gefallen. Seltsam die Stimmung, die in diesen Tagen in solchen Kirchen herrscht. Allerdings galt mein Interesse weniger solchen Kulissenwelten als Kirchen, in denen die Tage des abwesenden Gottes zelebriert werden. Statt des Altares nur ein klobiges Holzgestell. Nicht einmal ein Tuch liegt darauf. Selbst Kerzen und Kerzenständer verschwinden. Kein Blumenschmuck. Gemälde und Statuen werden mit Tüchern verhängt. Das ewige Licht ist gelöscht. Der Tabernakel steht offen, ist leer. Das Fest des abwesenden Gottes wird begangen. Beeindruckender als alle Heiligen Gräber.

In einer der Kirchen beobachtete ich Mädchen, sie mochten etwa zehn Jahre alt gewesen sein und trugen Turnschuhe, die damit beschäftigt waren, Tücher auseinanderzufalten und nach einer vorgegebenen Reihenfolge auf dem abgeräumten Altar auszubreiten. Bewegungen, als führten sie ein Ballett auf. Übungen für die Osternachtsliturgie, in der der Altar, der Opfertisch, neu errichtet wird. Der Ernst, mit dem sie all die Bewegungen ausführten, berührte mich, war mir doch Ähnliches aus meiner Kindheit nur zu vertraut.

Neurath meinte: „Das ist doch lächerlich. Schau dir an, wie diese Mädchen gekleidet sind.“
„Siehst du den Ernst, ihre Hingabe nicht?“
„Sie denken bestenfalls an ihre Eltern, die sie mit Stolz betrachten werden.“
„Soll das schlecht sein? Hast du nicht auch vieles gemacht in der Hoffnung, deine Mutter würde stolz auf dich sein?“
„Erinnere mich nicht an meine Mutter.“
„An deine Geschichte? Hingabe setzt nur bedingt Verständnis voraus.“


Ich musste an Spiele meiner Kindheit denken, an Spiele, die keine waren. Hätte mich eine zufällige Verwerfung, die Eltern kann man sich nicht aussuchen, in die Welt dieser Mädchen versetzt, ich verhielte mich nicht anders. Zweifellos wäre ich stolz, billige Turnschuhe zu tragen. Ich hätte auch in eine andere Zeit fallen können. Die alten Griechen, opferten sie einen Ochsen, warteten auf ein Zeichen des Tieres, das sich als Zustimmung deuten ließ. Der Ochse sollte mit dem Kopf nicken. Man goss Wasser über die Hände der Teilnehmer und bespritzte das Tier in der Hoffnung, es möge seinen Kopf senken und so zu einem augenscheinlich willigen Opfer werden. Wurde er zum Altar geführt, schritt ein mit bunten Bändern und Schleifen geschmücktes Mädchen voran. In einem Korb trug es das Opfermesser, unsichtbar freilich, war es doch mit Gerstenkörnern und Gebäck bedeckt. Hatte der Ochse seine Einwilligung bekundet, hielt das Mädchen nach einem Gebet den Korb den Anwesenden entgegen, worauf diese Gerstenkörner auf den Altar und den Ochsen warfen. Der Opferpriester nahm dann das Messer und – nein, weit gefehlt, er tötete den Ochsen nicht damit. Er schnitt nur einige Haare ab und warf sie ins Feuer. Danach wurde der Ochse mit einem Beil erschlagen, worauf der Opferpriester unter gellenden Schreien der Frauen und Mädchen den Hals des Tieres öffnete. Während ich den Mädchen, die mit Tüchern beschäftigt waren, zusah, musste ich an das Mädchen denken, das in seinem Korb das unter Gerstenkörnern und Gebäck verborgene Messer trug. Ganz sicher wusste es um die Gesten, nicht aber um deren Bedeutung, nicht anders als die Mädchen, die vor mir mit Tüchern beschäftigt waren. Ihr ganzes Augenmerk galt den Handbewegungen, nicht aber dem Altar, dem Opfertisch. Auch der Pfarrer wird weniger daran als an die choreographische Wirkung gedacht haben. Ich hätte gerne mehrere Aufnahmen von ihren Bewegungen gemacht. Aber kaum sah mich der Pfarrer mit meiner Kamera, verscheuchte er die Mädchen wie Hühner. Reflexartig trat auch er aus dem Bild. Aus den Kulissen hörte ich ihn sagen: „Habt ihr auch alles richtig verstanden? Wisst ihr, wie ihr die Bewegungen machen müsst?“ Auch wir waren bei verwandten Übungen von einem ähnlichen Ernst beseelt. Wir gingen auf in Bewegungen, deren Bedeutung wir nicht verstanden. Bewegungen des Beckens, der Knie, Bewegungen von Händen, Armen und Beinen. Bewegungen, wie wir sie sahen und wie man sie uns gezeigt hatte, Bewegungen, mit einem solchen Ernst ausgeführt, als hinge das Wohl der Welt davon ab. Als ich mit Neurath in die Stadt zurückfuhr, wollte ich für unser Ostermahl einige Weidenzweige mitnehmen. Die Straße führte durch ein Augebiet an einem Fluss entlang. In der Ferne war das Katzenloch, darüber die Schneealpe zu sehen. Erstaunlich, dachte ich mir, dass unser Blick immer an Erhebungen, an Taleinschnitten hängen bleibt, mit denen wir viele Erfahrungen verbinden. Der Anblick der Schneealpe rief mir meine letzte Begegnung mit Deborah in Erinnerung, und ich sah sie zwischen Almrosen liegend, ihr Gesicht mir zugewandt, und in diesem Augenblick war es mir, als spürte ich ihre Hand, die sich zärtlich um meinen Nacken legte, mich sanft an sich zog, und als sähe ich ihre Augen, die mich anblickten, so wie es nur ein Mensch kann, der einen anderen liebt. Nie fühlte ich mich einem Menschen so nahe wie in jenem Augenblick. Ich kam damals auf das Kochbuch zu sprechen.

„Du meinst den Zettelkasten. Ich habe mir dabei viel Mühe gegeben. Es hat mir aber auch Spaß gemacht, die einfachsten Dinge zu beschreiben. Es ist gar nicht so leicht, die Verwendung einer Bratpfanne zu erklären. Fette und Öle gilt es mitzudenken, das Gemüse oder Fleisch, das angebraten werden soll.“
„Dein Kochbuch mit all den kleinen Zeichnungen war sehr wichtig für mich. Du solltest es drucken lassen. Es gibt sicher viele Menschen, die ein ähnliches Schicksal wie ich haben.“
„Ich habe es nur für dich gemacht.“
„ ... im Auftrag des Unternehmens?“
„Mein Auftraggeber hätte das lachhaft gefunden. Hätte ich es vorgeschlagen, ich wäre wohl auch dafür bezahlt worden. Ich schlug es aber nicht vor. Erinnerst du dich noch an den ersten Abend in deiner Wohnung? Wäre es nach dem Unternehmen gegangen, dein Tisch wäre nicht gedeckt gewesen. Manches wusste ich, etwa dass du Nachtviolen magst. Das hat es mir erleichtert. An jenem Abend habe ich so lange gewartet, bis ich unten auf der Straße das Auto stehen sah. Erst als du auf das Haustor zugingst, verließ ich die Wohnung. Du bist damals im Stiegenhaus an mir vorbeigelaufen, unsicheren Schrittes. Damals sah ich dich das erste Mal. Ich wusste einiges über dich, dank eines Dossiers, das man mir gegeben hatte. Aber bereits in jenem Augenblick, als du an mir vorbeigingst, war mir klar, wie sehr die Beschreibung eines Menschen von eben diesem Menschen abweichen kann ...“

Beim Betrachten der Schneealpe aus dem Wagenfenster musste ich daran denken. Neurath gegenüber sprach ich nicht davon, wie ich auch sonst nichts von Deborah erzählte, fürchtete ich doch, es könnte meine Erinnerung trüben.
Da der Fluss von Weiden gesäumt ist, blieben wir auf einem der Parkplätze stehen. Um die Mittagszeit. Ein kalter, düsterer Tag. Es regnete leicht. Auf dem Parkplatz standen auffallend viele Autos. In mehreren dieser Autos saßen Männer. Allein. Sie schienen auf etwas oder jemanden zu warten. Aber auf wen oder was? Auf die Auferstehung des Herrn? Auf ein jenseitiges Leben? Fahrräder, an Bäume gelehnt. Ich dachte mir, was machen all diese Männer in dieser gottverlassenen Gegend, in der sich weit und breit nur ein einziges Gebäude befindet, ein Kieswerk. Ausgetretene Trampelpfade führten zum Fluss hinunter. Schon bald hatte ich Neurath, der die Sandbänke entlanglief und wie ein Junge Steine ins Wasser warf, aus den Augen verloren. Aus dem Unterholz waren Knackgeräusche zu hören. Da und dort sah ich einen Mann aus dem Gebüsch steigen. Kurze Zeit später folgte ein anderer an derselben Stelle. Keiner der Männer sprach mich an. Allein die Baumschere ich meinen Händen machte deutlich, dass ich nicht dasselbe suchte wie sie, dass ich mich hierher verirrt hatte. Zweifellos gibt es traurigere Geschichten, aber der Anblick dieser herumstreifenden Männer deprimierte mich. Während ich, es war gerade einmal eine Stunde verstrichen, den Ernst kleiner Mädchen bewundert hatte, wurde ich nun Zeuge traurigen Begehrens. Auf einer Sandbank stehend musste ich an Pasolinis Tod denken.[2]

Neurath verbrachte seine halbe Kindheit als Patient in einem Krankenhaus. In seinen Erinnerungen haben sich Gruben eingenistet. In einer der Gruben türmen sich aufgeschnittene Gipsverbände, Negative von Armen, Beinen, Schultern oder Becken. Eine andere Grube, voll von weggeworfenem Verbandsmaterial. Schließlich die Grube der Toten, kreuzweise aufgeschichtet und mit Kalk bestreut. Womöglich ein Traumbild. Das Gebäude, das Krankenhaus wurde vor Jahrzehnten aufgelassen, existiert noch. Heute wird es als Hotel genutzt. Dort, wo sich die Gruben befanden, Neurath zeigte mir die Stelle, befindet sich nun ein großzügig angelegter Kräutergarten. Musste während des Essens daran denken, als ich frische Basilikumblätter, rote und gelbe Blüten der Kapuzinerkresse auf meinem Teller liegen sah. Man sagt, Mörder neigten dazu, die Orte ihres Verbrechens wieder aufzusuchen. Das erscheint mir nicht glaubwürdig. Wäre es so, so müssten sich an den Kulminationspunkten des Grauens viele Mörder über den Weg laufen. Nein, sie seien nie dort gewesen, könnten sich gar nicht mehr erinnern. Nicht Täter, Opfer sind es, die sich an solchen Orten ihres Lebens vergewissern. Verständlich auch, suchen Erwachsene Orte auf, an denen sie ihre Kindheit verbrachten, in Gipsverbänden, auf dem Rücken liegend, vom Dunkel ins Helle, vom Hellen ins Dunkel geschoben, vorbei an einem großen Mosaik, auf dem eine etwas eckig geratene junge Frau zu sehen ist, die einem Reh die Stirn küsst. Neurath trieb es immer wieder in dieses ehemalige Krankenhaus. Ich war mit ihm einige Male dort. Einmal schliefen wir sogar in einem der Räume, in dem er als Kind lag, lange Monate vollkommen eingegipst, auf andere angewiesen, auf Pflegerinnen, die ihn fütterten, die ihm den Hintern abwischten, die ihn zudeckten, sein Bett auf die Sonnenterasse schoben. Da gab es manche, die ihn mochten, sich abends an sein Bett setzten, ihm Geschichten erzählten, ihn zärtlich berührten, bevor sie sich anderem zuwandten. Ein hübsches Kind, ein liebenswerter Junge. Dennoch kann sich Neurath an kaum eines der Gesichter erinnern, die sich freundlich über ihn gebeugt hatten. Nun beugt er sich nieder, blickt in all die Gruben, in denen Gipsverbände und mit Kalk bestreute Tote lagen. Nur, diese Gruben, so es sie überhaupt gab, sind nicht mehr zu sehen. Nur noch die Sonnenterasse, lange Gänge, die großen Fenster oder die davor liegende Landschaft erinnern an seine Kindheit, nicht zu vergessen die junge Frau, die dem Reh die Stirn küsst.

Wie andere Menschen putze ich mir die Zähne, dusche ich mich, wie andere führe ich die Tasse zum Mund. Und doch ist mir diese Welt fremd, trennt mich von anderen ein tiefer Abgrund. Das Entscheidende werde ich nie erklären können. Es gibt Erfahrungen, die sich nicht mitteilen lassen, mag man sich noch so sehr bemühen, diese in Worte zu fassen. Oft fällt es mir schwer, mich mit Menschen zu unterhalten, die in meinem Alter und mir wohlgesonnen sind. Der Abgrund, der uns trennt, ist ebenso groß wie jener zwischen mir und Mädchen, die mit einem Jungen auf einer Parkbank erste Küsse tauschen. Die verrücktesten Menschen können mich beschäftigen. Was machen sie? Sie arbeiten in Büros, Banken, Supermärkten. Und sie tun es, obwohl ihnen all das längst zum Hals heraushängt. Lustlos wirken all diese Menschen auf mich, ohne jede Vorstellung. Ich fühle mich fremd. Die Welt, in der ich heute lebe, erscheint mir nicht weniger absurd als jene, in der ich aufgewachsen bin. Manche sind Jahrzehnte damit beschäftigt, Stühle in Lieferwagen zu stapeln. Jeden Tag. Nicht weniger verrückt als das Leben, das ich führte. Ich hatte beste Eizellen zu liefern, andere stapeln tagtäglich Stühle in Lieferwagen. Wer soll denn auf all diesen Stühlen sitzen! Die meisten Menschen finden ein solches Tun völlig normal. Ich kann es nicht so sehen. Sie denken wohl, wer immer mit einer solchen Arbeit beschäftigt sei, habe doch die Freiheit, sich für eine andere Tätigkeit zu entscheiden. Eine seltsame Freiheit nenne ich das. Was unterscheidet mich von anderen? Jene, denen ich meine Existenz verdanke, würden sagen, ich unterscheide mich durch mein genetisches Potential. Nein, es sind die Erfahrungen, die mich geprägt haben. Ich führe ein sehr häusliches Dasein mit dem Tod. Stehe ich morgens auf, dann stets im Wissen, dass eben dieser Tag mein Sterbetag sein kann. Hat man einmal begonnen, die Welt so zu sehen, dann betrachtet man sie vollkommen anders. Man wird frei, bezahlt dies aber mit einer großen Einsamkeit.

Ich habe das Bild vor mir. Ich blicke aus dem Fenster in den Garten und sehe eines der Mädchen mit großen Schritten zwischen den beschnittenen Hecken einen Kiesweg entlanggehen, ganz stolz, klar in all seinen Bewegungen. Es trägt einen kurzen Rock mit rotem Schottenkaro, weiße Strümpfe. Dieses Bild ist mir so vertraut – es ist, als blickte ich jetzt aus dem Fenster, als liefe in eben diesem Augenblick das Mädchen unten vor dem Fenster vorbei. Und doch ist es lange her. Hatte das Mädchen kurzes oder langes Haar? Ich wüsste es nicht zu sagen. Wohin sind die Schuhe gekommen, wo ist das Gesicht des Mädchens geblieben? Nur Bruchstücke bleiben in Erinnerung. Das Vergangene ist weit weg, bestenfalls schemenhaft in unserem Gedächtnis verankert. Wir schuppen die Vergangenheit ab, wie Schlangen häuten wir uns. Deshalb müssen wir sie ständig neu erfinden. Nicht auf die Sprache ist Verlass, nur auf das, was sich in unsere Körper eingeschrieben hat, auf all die Narben und Schmerzen, auf Bewegungen, denen sich unsere Arme und Beine versagen. Dass sich mir dieses Bild eingeprägt hat, ist nicht erstaunlich, war es den Mädchen des Parks doch strengstens verboten, allein den Garten zu betreten. Ich hätte das in seinem Alter nie gewagt. Das Mädchen hätte sich nicht an dieser Stelle befinden dürfen.

Ich sitze auf einem Fensterbrett und blicke hinaus in den Park, in dem größere Mädchen spielen. Äste und Blätter der Bäume werfen unruhige Schatten. Hinter mir steht eine meiner Mütter. Mit der einen Hand hält sie mich umfasst, mit der anderen kämmt sie mit einer weichen Bürste mein Haar. Ich genieße diese Liebkosung ebenso wie meinen Platz auf dem Fenstersims, der mich drinnen und draußen sein lässt, bei den größeren Mädchen, die mit einem so kleinen Ding, wie ich es bin, nichts zu tun haben wollen. Ich habe die Bürste deutlich vor Augen. Eine Bürste aus hellem Holz mit flachem Rücken, mit dichten, kurzen, aber nicht zu kurzen Haaren. Es muss wohl Rosshaar gewesen sein. Welchem Spiel gaben sich die Mädchen hin? In einem Museum sah ich ein Gemälde von Max Liebermann.[3] Darauf sind Mädchen zu sehen, die Baumstämme umfassen und zwischen Bäumen hin- und herlaufen. Sie spielen „Bäumchen wechsle dich“, ein Fangspiel. Wir kannten das Spiel nicht, wohl aber Spiele, in denen ein Kind übrig bleibt. Die Stimmung auf diesem Gemälde kommt meiner Erinnerung sehr nahe. Natürlich waren wir anders gekleidet. Was meine Kindheit betrifft, so mangelt es mir nicht an Bildern, auch nicht an Empfindungen. Ich wüsste aber nicht zu sagen, in welchem Zimmer ich auf dem sonnenbeschienenen Fensterbrett saß. Warum fallen mir so viele Fensterbilder ein? Das Vergangene ist nur durch Fenster sichtbar, aus großer Entfernung, immer nur in Ausschnitten.

Die große Feier war zweifelllos ein wichtiger Tag in meinem Leben. Ich hatte mich auf diesen Tag gefreut. Ich wurde lange darauf vorbereitet. Und doch ist er mir nur schemenhaft in Erinnerung geblieben. Im Wissen, nun im Mittelpunkt zu stehen, von so vielen Augen gesehen zu werden, war ich zu sehr mit mir selbst beschäftigt, damit, die mir zugedachte Rolle einzunehmen. Dass ich heute eine klarere Vorstellung von diesem Tag habe, all das, was während des Festes geschah, mich selbst darin betrachten kann, so als sähe ich mich jetzt auf dem Altar liegen, verdankt sich kaum meinen Erinnerungen an diesen Tag. Damals sah ich die Welt mit ganz anderen Augen. Die Worte, die mir zur Verfügung standen, ließen mich vieles nicht sehen. An den Empfindungen ist nicht zu zweifeln. Aber was habe ich erlebt? Was ist mir geschehen? Ich saß während solcher Feiern selbst oft genug auf den Zuschauerbänken. Zuschauerbänke, das trifft es nicht. Auch wenn ich auf eine Bühne hinunterblickte, das was ich sah, war alles andere als ein seltsames, mir fremdes Spektakel. Wie alle, die um mich herum saßen, nahm ich lebhaft am Geschehen teil. Wir waren nicht einfach Zuschauer, sondern Teil des Geschehens. Ich sah mich selbst an der Stelle jener, die vom Altar in diese oder jene Position gebracht wurde, an der, so wie das Zeremoniell es vorschrieb und verlangte, diese oder jene Handlungen vorgenommen wurden. Hätte damals jemand Aufnahmen gemacht, als an mir, vor den Augen vieler, die erste Insemination durchgeführt wurde, dann könnte ich heute sagen: „Da siehst du mich ... das ist der oberste Zurüster. Du erkennst ihn an seiner Federkrone. Das ist ein Maschinenobergefreiter. Er trägt das Sperma zum Altar.“ Aber es wurden keine Aufnahmen gemacht. Hätte ich die Feier nur an jenem Tag erlebt, ich hätte sie bestenfalls als eine Art Traumgeschehen in Erinnerung, als Begattungsphantasie, Bewegungen und Dingen ausgeliefert, die in keinem sinnvollen Zusammenhang stünden. Erzählte ich Neurath davon, konnte er mich in seine Arme nehmen, mich an sich drücken, aber er glaubte mir nicht.

Ich denke es mir oft: Halt findet man nur im Konkreten. Mich vor den Tisch setzen, meine Hände über die Tischfläche gleiten lassen, jede Unebenheit spüren, mit geschlossenen Augen. Skandinavische Landschaften betrachten, Bild um Bild. Da siehst du ein Knäuel Wolle, du weißt nicht, wo sich der Anfang, wo sich das Ende findet. Ist der Wollfaden gerissen, wie fügt er sich zusammen? Als ich im Gartenhäuschen lebte, saß ich nach Einbruch der Dunkelheit oft davor und betrachtete eine der vielen Kröten, den Schein einer Taschenlampe auf sie gerichtet. Ich mochte sie, achtete darauf, keine von ihnen in der Dunkelheit zu zertreten, wenn sie aus ihren Schlupflöchern kamen, um sich Nahrung zu suchen. Auch Kröten führen ein einsames Leben. Sieht man von der Paarungszeit ab, so scheinen sie kaum Notiz voneinander zu nehmen. Jede geht ihren Weg und jede ist mit sich selbst allein, selbst dann, wenn sie an heißen Tagen dichtgedrängt in einem feuchten Unterschlupf hocken. Nähert man sich ihnen, verharren sie still und springen im letzten Augenblick zur Seite. Eine der Kröten ist mir im Gedächtnis geblieben. Sie war gut erkennbar durch ihre auffallend helle und groß gemusterte Zeichnung, so ganz aus der Ordnung gefallen. Blieb sie hocken, so ließ ich die Spitze meines Zeigefingers über ihre Wirbelsäule gleiten. Es ist erstaunlich, und man möchte es bei dieser dick scheinenden Haut gar nicht für möglich halten, aber jeder einzelne der kleinen Wirbel ist zu spüren, jede Atembewegung, legt man den Finger an eine der Seiten oder unter den Kehlsack. Was ging im Kopf der Kröte vor? Warum sprang sie nicht weg? Hatte es mit meinen Ausdünstungen zu tun? Kröten im Schein der Taschenlampe. Zumeist sitzen sie ruhig da, machen kaum eine Bewegung. Doch plötzlich kann ihr Kopf vorschnellen, schnappt nach einer Fliege oder einem Nachtfalter, um dann wieder in die Ruhestellung zurückzukehren. Und das innerhalb eines Sekundenbruchteils, mit menschlichem Auge nicht wirklich wahrnehmbar. Tatsächlich vermag man weniger die Bewegung zu sehen als die Leerstelle, die sie hinterlässt. Der Käfer, der über einen Stein krabbelte, ist verschwunden. Dieser Mechanismus ließ mich an den Altar denken. Auch er kehrte, hatte er seine Beute vorgezeigt, in die Ruhestellung zurück. Den Altar kann ich nicht tadeln. All seine Bewegungen waren ihm nur eingepflanzt. Man darf sich nicht in der Vergangenheit verlieren. Es ist besser, Kröten zu betrachten oder Blüten, die am Verdorren sind. Sonst richten wir uns ein in Häusern, die viele Wände kennen, in Räumen, in denen Menschen vor uns geboren wurden, in denen andere siech lagen und starben. Reißt man die hölzerne Vertäfelung heraus, dann findet sich dahinter eine andere Wand, mit Bildern behangen, mit Zeitungsausschnitten, die vor langer Zeit mit Reißnägeln an die Wand geheftet wurden. Niemand erinnert sich an die Menschen, die abgebildet sind, die hier einst lebten, niemand vermag die alte Schrift zu entziffern. Man schneidet die Gesichter aus den Rahmen, wirft sie weg. Nur die Rahmen bleiben. Und doch: „Je suis mon passé.“[4]

Kann man sich an die eigene Geburt erinnern? Manche behaupten es. Neurath meinte, manchmal schrecke er aus dem Schlaf, wache er mit einem Würgegefühl im Hals auf, mit einem salzigseifigen Geschmack im Mund. Zweifellos habe sein Körper eine sehr frühe Erinnerung gespeichert. Mag sein. Die Hebamme hatte ihn als Totgeburt betrachtet, beiseite gelegt, um sich um die Mutter zu kümmern. Erst später brachte sie ihn mit Schlägen zum Leben. Mir fehlen diesbezügliche Empfindungen. Ich habe noch nie den von Neurath beschriebenen Geschmack im Mund empfunden. Ich bin noch nie mit einem Würgegefühl im Hals aufgewacht. Wurde ich überhaupt geboren? Nicht das Würgegefühl im Hals, anderes hat sich in meinen Körper eingeschrieben. Meine Erinnerungen laufen auseinander wie Tinte auf einem nassen Blatt Papier. Dagegen hängt mein Gehirn, mein ganzes Ich, an roten Fäden meiner vernarbten Wunden. Mit roten Fäden ist mein Kindsein an die Gegenwart geknüpft. Kann ich mich an Paul erinnern? An seinen Geruch? Ich kann mich an Geschichten erinnern, die er mir erzählt hat, an unsere kindlichen Spiele, an Holzstapel, an denen wir lehnten, an ausapernde Wiesen, an Flecken, die in der warmen Frühlingssonne dampften, an seine Berührungen, an das erste Mal, als wir uns liebten. Ich kann mich daran erinnern, wie ich mit nackten Beinen durch Brennnesseln lief, im Glauben, ihm so meine Liebe zu beweisen. Aber selbst sein Gesicht habe ich nur noch undeutlich vor Augen.

Ich stelle mir auf dieser Tischfläche eine Schatulle vor. Ich öffne den Deckel und sehe in einem der Fächer der obersten Lade, genau in der Mitte, eine Seifenschale mit einer Seife darin, daneben sechs oder sieben schmale Fächer für die Rasiermesser, dann eine Reihe anderer Fächer mit Schreibwerkzeug, Visitenkarten und anderem. Die Streusandbüchse und das Tintenfass erwähne ich nicht, sind sie doch außer Gebrauch gekommen. Die oberste Lade lässt sich heraus nehmen. Darunter finden sich weitere Laden mit Fächern und Abteilungen. In einem der Fächer ist Papiergeld zu sehen, in einem anderen eine Adressliste mit handschriftlichen Randbemerkungen: „Netter Kerl, aber reichlich naiv. Täuscht Begabung und Vermögen nur vor.“ Wollte ich etwas über den Besitzer der Schatulle in Erfahrung bringen, so ließen sich viele Fragen stellen, etwa jene, was die Abteilung mit dem Papiergeld mit der drei Stockwerke höher gelegenen Seifenschale zu tun hat. Und würde ich dies tun, jede Frage hätte wohl mehr Fragen als Antworten zur Folge. Die Seifenschale in der Mitte der obersten Lade ist einfach zu erklären. Zweifellos ist es praktisch, will man sich Gesicht oder Hände waschen, wenn die Seife griffbereit liegt, sobald man den Deckel der Schatulle öffnet. Aber bereits hier stellen sich weitere Fragen, etwa die, ob die Seife vor oder nach einem Treffen Verwendung findet.[5] In meiner Beschäftigung mit dem Park denke ich oft an ein ähnliches Ding. Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, da oder dort eine Schublade herauszunehmen und diese an anderer Stelle einzufügen, mich etwa zu fragen, was die Große Kammer mit dem REGISTER zu tun hat. Solche Überlegungen verdanke ich nicht zuletzt Paul. Mit seinem Abstraktionsvermögen hätte er Karriere machen können, hätte sich nicht etwas in ihm gesperrt. Er wusste Rätselhaftes in Worte zu fassen. Er brauchte nur einige Holzstückchen, Kieselsteine, Blätter oder Kuhfladen, um die ganze Welt des Parks durchzuspielen. Er setzte das eine mit dem anderen in Beziehung, machte diese deutlich, indem er Linien in den Sand zog. Dabei konnte er einzelne Gegenstände an andere Stellen legen, entfernen oder hinzufügen: „Bist du dir sicher, könnte es nicht anders sein?“ Seine Fragen machten mir deutlich, wie wenig Gedanken ich mir über die Welt gemacht hatte, in der ich damals lebte. Warum hätte ich mich auch fragen sollen? Sie war einfach gegeben, da. Niemand stellte sie in Frage. Das REGISTER stand da, und zwar mitten im Park. Wie oft hatten wir in seinem Schatten gespielt, es in Wettläufen umrundet! Umgab das REGISTER auch etwas Geheimnisvolles, so fragten wir doch nie nach dem Gebäude, dessen Türen stets verschlossen blieben. Alles habe eine Bedeutung, meinte Paul. Nichts stünde einfach da. Und stünde ein Gebäude nur noch da und würde nicht mehr benützt, dann müsse es früher einmal eine Bedeutung gehabt haben. Man müsse sich also fragen, zu welchem Zweck es errichtet, oder auch, weshalb es aufgegeben worden war. Nur deshalb, weil nie jemand zu sehen sei, der das REGISTER betritt oder verlässt, sei noch lange nicht anzunehmen, in seinem Inneren herrsche kein reger Betrieb. Vermutlich seien alle Gebäude des Parks durch unterirdische Gänge miteinander verbunden. Da werde in die Wege geleitet, dort ausgeschieden, als wertvolles Gut, oder aber als Abfall: „Hier sind die verdächtigen Fälle. Zurüster, Maschinenobergefreite, Badediener, Badedienerinnen und weitere Gehilfen betreten diesen Bereich durch eigene Türen. Hier siehst du den Behandlungstrakt, die Große Kammer, die Wäscherei, den Wassertank, dort die Leichenhalle mit der Brennkammer. Gestern, ich lag noch lange wach, da verstand ich es. Wir haben es mit doppelten Kreisläufen zu tun.“ Bedeutender als das, was man sehe, sei das, was dem Auge verborgen bleibe, das REGISTER etwa. Zweifellos lebten wir auf einem Labyrinth von Räumen, die unter der Erde lägen. Setzten wir uns zu Tisch, war das Essen bereits aufgetragen. Wo wurde es zubereitet? Die Schmutzwäsche verschwand in Öffnungen. Und diese wiesen nach unten. Verschwand nicht auch der Altar in der Tiefe?[6] Paul konnte manches verstehen, da die Rinderbetriebe nicht viel anders organisiert waren als der Park. Auch dort gäbe es ein Register. Nur werde es nicht so genannt. Das REGISTER, so Paul, bilde das Herz, das eigentliche Zentrum des Parks, in ihm lägen Leben und Tod ganz nahe beieinander. Hätte es mir Paul nicht erklärt, ich hätte die Bedeutung des REGISTERS nie verstanden. Es wäre mir nur als rätselhafter, von Bäumen beschatteter anthrazitfarbener Monolith in Erinnerung geblieben. Niemand in meinem heutigen Umfeld vermag so zu denken, schon gar nicht Neurath. Paul ließ all das, was ich erzählte oder einfach so vor mich hinsagte, gelten. Zuneigung und Sachverstand schließen sich nicht aus. Im Gegenteil.

Was Paul meinte, als er sagte, im REGISTER lägen Leben und Tod ganz nahe beieinander, verstand ich erst, als ich Gelegenheit hatte, ein von Archäologen freigelegtes Gestell zu betrachten, auf dem tausende von Schädeln, wie auf einem Abakus, einer einfachen Rechenmaschine, aufgefädelt waren. Schädel an Schädel, aneinandergereiht wie Maiskolben auf Trockengestellen.[7] Es genügte nicht, dem Opfer auf einem Altar das Herz aus dem Leib zu reißen und den zuckenden Körper über Stufen hinunterzuwerfen. Nein, der Kopf musste vom Rumpf getrennt, alles Fleisch von den Schädelknochen geschabt werden. Löcher waren seitlich in die Schädel zu bohren, damit sie sich auf eine Stange schieben ließen, mit dem Gesicht nach vorne, mit leeren Augenhöhlen, die keinen Blick aufnehmen, keinen Blick erwidern können. Sie mussten blind sein, wäre es doch sonst nicht möglich gewesen, an solchen Gestellen vorbeizulaufen, auf den Markt zu eilen oder anderen Geschäften nachzugehen. Das REGISTER mag man sich ähnlich vorstellen. Auch da sind Zahllose aufgefädelt, kennt es auch nur Daten, bestenfalls Behälter mit flüssigem Stickstoff, in denen Sperma, Eizellen und Embryonen archiviert sind. Leer auch hier die Augenhöhlen, wiewohl die goldenen Lettern das Gegenteil behaupten: DIE AUGEN SIND DER HEIMLICHE DIEB DER SEELE. Und dann doch ein entscheidender Unterschied: Ob Holzkugeln, Glasperlen oder Totenköpfe, mit einer Rechenmaschine haben wir es nur dann zu tun, gibt es Leerstellen, lässt sich hin und her schieben. Bei den Gestellen war das nicht der Fall. Es ließ sich nur hinzufügen, und zwar endlos. Als ich vor dem Gestell mit den aufgefädelten Köpfen stand, war mir plötzlich, als hörte ich aus weiter Ferne das Gekreisch der Masse, als würde einem Opfer das Herz aus dem Leib gerissen, um im nächsten Augenblick nur noch Abfall zu sein. Aber es drängten sich mir noch andere Geräusche auf, all die Kratz- und Schabgeräusche, die gewiss zu hören waren, wurden die Schädel, nein, nicht in Präparate, sondern in Trophäen verwandelt. Mochte man die Opfer kurze Zeit auch als gottähnliche Wesen betrachtet und behandelt haben, es waren Besiegte, die man vorrätig hielt für den großen Tag, das große Fest, die große Feier. Solche Geräusche nahm wohl niemand wahr, und wenn, dann wies er ihnen so wenig Bedeutung zu wie dem Rauschen der Blätter im Wind. Sie gingen unter wie die Todesschreie im Gekreisch der Masse. Ich musste an das Fest der zusammenprallenden Steine denken, an den betörenden Gesang, der jeden Laut erstickte. Ich blieb stumm. Selbst wenn ich mich geäußert, gar geschrien hätte, niemand hätte es vernommen. Das REGISTER, heute weiß ich es, befand sich mitten im Park. Ein düsteres, hoch aufragendes Gebäude mit blinden Fenstern und Türen.

Anmerkungen
Handschriftliche Randnotizen, eingelegte Notizblätter sowie Anmerkungen des Herausgebers. Letztere sind in eckige Klammern gesetzt.


[1] Den Blick meiden, nicht in die Augen sehen. Sich mit einer lächerlichen Münze freikaufen. Die Bitte schroff zurückweisen. Dagegen einer jungen Frau, die klagt, sie müsse heute noch ihre Miete zahlen, sonst würde sie die Wohnung verlieren, was ich ihr nicht glaube, deutlich mehr als den genannten Betrag geben. Dank ablehnen. Wechselt fortan, erblickt sie mich, die Straßenseite. Ein Bettler, auf dem kalten Pflaster sitzend, mit mitleidsheischenden Gebärden. Mit einer Münze den empfundenen Widerwillen bekämpfen. Stunden später, ich komme wieder an dieser Stelle vorbei, winkte er mir lachend zu, stellt den Becher beiseite.

[2] [Pier Paolo Pasolini wurde am 2. November 1975 in der Nacht von Allerheiligen auf Allerseelen am Strand von Ostia ermordet. Er wurde mehrfach von seinem eigenen Wagen, einem Alfa Romeo 2000 GT Veloce, überrollt.]

[3] [Max Liebermann, „Spielende Kinder“, 1882.]

[4] „Ich bin meine Vergangenheit.“

[5] [Bezieht sich auf die Schatulle des Kollegienassessors Tschitschikow in Gogols „Toten Seelen“. Wie Gogols Roman scheint auch der vorliegende Text als Schatullengeschichte angelegt, mit dem einen Unterschied, dass der für das Rasiermesser, die Seife oder das Schreibwerkzeug vorgesehene Platz keineswegs sicher ist. An toten Seelen mangelt es auch hier nicht.]

[6] „Der Ort, an dem die Leichenverbrennung vollzogen wird, ist ein Tempel ohne Glaubensbekenntnis. Er hat seine Ästhetik von Bahnhöfen, Straßenlaternen, von den Petroleumdepots, ein bisschen auch vom Stieltopf und von der Essigkanne bezogen.“ Unter dem Sektionstisch ein Loch, durch das man die Abfälle der Körperdemonstrationen verschwinden ließ. Darunter ein Kellergewölbe, ein Auffangbecken, Diener, die die Leichenteile zu entsorgen, die Bottiche mit Bürsten und heißem Wasser zu reinigen hatten. [Die Eintragung bezieht sich vermutlich auf das Anatomische Theater in Padua; dann: Tudor Arghezi, „Der Friedhof Mariä Verkündigung“ (1936).]

[7] [Gemeint sind wohl „Tzompantli“, also jene Gestelle, auf denen die Azteken Totenschädel ihrer Opfer zur Schau stellten.]