Kapitel 7

„Vertrauen Sie nicht länger Ihrer Raumpflegerin!“, hatte Deborah gemeint. Aber so, als wäre nichts geschehen, hörte ich am nächsten Morgen, wie ich es gewohnt war, die Tür ins Schloss fallen. Die neue Raumpflegerin. Ich lag noch im Bett. Wozu hätte ich auch aufstehen sollen? Es gab niemanden, der auf mich gewartet hätte. Es gab nichts, was ich hätte tun sollen. Auch wusste ich nicht, was mit mir weiter geschehen würde. Vor mir eine Frau mit dunklen, strähnigen Haaren. Eine unförmige Person mit breiten Hüften, zu kurz geratenen Schenkeln. Das Gesicht aufgedunsen, die Augen ausdruckslos. Ihre Höflichkeit wirkte auf mich einmal unterwürfig, dann wieder distanzlos. Zielstrebig verschwand sie im Badezimmer. Offensichtlich suchte sie nach Einmalhandschuhen, nein, nicht nach Einmalhandschuhen. Sie schien an Gummihandschuhe gewöhnt. Ich fragte sie, wer sie geschickt habe. Die Gebäudeverwaltung. Die Verwaltung. Aber wer ist schon die Verwaltung? Immerhin ließ mich die Art und Weise, wie sie sich in der Wohnung bewegte, wissen, nun wirkliche eine Raumpflegerin vor mir zu haben. Ein billiges Parfüm vermochte ihre Körperausdünstungen nicht zu überdecken. Ein penetranter Geruch nach Stress, ein Modergeruch.
„Vertrauen Sie Ihrer Raumpflegerin!“ Das galt nun nicht mehr. Dafür drohte mir keine Enttäuschung. Die neue Raumpflegerin zeigte nicht das geringste Interesse an meinem Leben. Sie putzte und erledigte einfach die anfallenden Hausarbeiten. Beim Kochen gab sie sich nicht die geringste Mühe. Genaugenommen kochte sie nicht, vermutlich konnte sie gar nicht kochen. Kochen meint Zubereiten, aus diesen und jenen Zutaten. Statt dessen Fertiggerichte, Gefrierfach und Mikrowelle, den Teller ohne jede Aufmerksamkeit vorgesetzt. All das, was sie als Raumpflegerin zu tun hatte, sieht man vom täglichen Einkauf ab, wäre in einer halben Stunde zu erledigen gewesen. Um nicht untätig zu sein, stopfte sie die eben gebügelte Wäsche wieder in die Waschmaschine, um sie erneut zu bügeln, kaum war der Trockenvorgang beendet, putzte sie Fensterscheiben, die sie nicht einmal zwei Stunden zuvor geputzt und poliert hatte, um gleich darauf den Staubsauger erneut in Betrieb zu setzen. An eine ungenierte Bewegung in der Wohnung war nicht mehr zu denken. War sie im Bad beschäftigt, konnte ich das Bad nicht betreten, versuchte ich einige Zeilen auf ein Blatt Papier zu bringen, dann schien es ihr nötig, die Tischfläche gründlich zu reinigen, starrte ich aus dem Fenster, so dauerte es nicht lange und sie machte sich an Vorhängen und Scheiben zu schaffen. Putzte sie die Scheibe, während ich vor dem Fenster stand, auf der äußeren Seite, so schien es mir, als habe ich eine ins Riesenhafte vergrößerte Amöbe vor mir, und es wäre mir nicht verwunderlich erschienen, hätte sich aus ihrem Mund ein Rüssel geschoben, um die Scheibe trocken zu lecken oder selbst das kleinste Schmutzkörnchen, den kleinsten Fliegenschiss in sich aufzunehmen. Wiederholt konnte ich die Raumpflegerin dabei beobachten, wie sie mit dem eben erst geleerten und somit leeren Abfallkübel zum Container lief. Das hatte seine guten Seiten. Ich musste mich nun um mein Leben selbst kümmern. Allein die Anwesenheit dieser Frau trieb mich aus der Wohnung. Dass ich es nun mit einer wirklichen Raumpflegerin zu tun hatte, war wohl auch Teil eines ausgeklügelten Programms. War Deborahs Geständnis echt gewesen oder hatte sie es nur gespielt? Wie unterscheiden sich echte von unechten Tränen, also Krokodilstränen? Krokodile weinen nicht. Können Birken weinen? Diese Frage drängte sich mir beim Anblick einer Birke auf, die ich im nahegelegenen Park verstümmelt sah. Aus allen Schnittstellen tropfte Wasser. Tagelang, kübelweise. Die Schnittstellen ließen mich an Wunden denken, es sind ja Wunden, die Tropfen an Tränen oder Blut, an durchsichtiges Blut. Und doch war es nur Wasser.

Ich musste lernen, mich allein zu bewegen. Ich erinnere mich an meine Angst, eine vielbefahrene Straße zu überqueren. Um Straßen zu queren, schloss ich mich oft genug Müttern mit Kindern an. Allmählich gewöhnte ich mich an den Lärm und die vielen raschen Bewegungen, an Supermärkte. Ich gab mir Mühe, mein Essen selbst zuzubereiten. Ich begann mit einfachen Gerichten, die ich in einem Kochbuch fand. Kochbuch, das trifft es nicht ganz, handelte es sich doch um eine aufklappbare Schatulle mit alphabetisch geordneten Karteikärtchen. Darin waren auch alle benötigten Geräte beschrieben. Mit üblichen Gebrauchsanweisungen hatte ich es nicht zu tun, lasen sie sich doch, als hätte jemand einem Mädchen des achtzehnten Jahrhunderts, elektrischen Strom gab es damals noch nicht, einen Elektroherd erklärt. Die Texte, immer wieder waren von Hand kleine Zeichnungen eingefügt, waren nicht ohne Poesie: „Der Mixstab: Man verwendet ihn, um in einem → engen Gefäß Früchte wie → Erdbeeren, → Kiwis, → Bananen etc. zu einem → Püree zu verarbeiten, auch dazu, um → Gemüse oder → Fleisch zu zerkleinern. Für → Steinfrüchte nur dann geeignet, wird das Fruchtfleisch vom Stein gelöst. Vorsicht! Das schnell rotierende → Drehmesser kann bei Unachtsamkeit schwerste Verletzungen zur Folge haben. Was machten wir ohne Fingerkuppen! Wie berühren, wie denken? Erst dann auf den Knopf drücken, ist der Mixstab in das Gefäß eingeführt. Das Mixgut kann aufsprühen. Nimmt die Masse eine cremige Substanz an, auf den Knopf drücken. Den Mixstab erst dann aus dem Gefäß ziehen, ist er zur Ruhe gekommen. Eines der ersten Modelle wurde als ‚Zauberstab der Hausfrau’ angeboten. Eine → Hausfrau bist du nicht. Der Mixstab kann dir dennoch Vergnügen bereiten.“ Dazwischen immer wieder kleine Ausführungen zu Unglücksfällen in der Küche oder Dramen, die mit Essen oder Kochen verbunden sein können.
Wusste ich auch nicht, wem sich all das verdankte, so ermunterte es mich, all die durchnummerierten und alphabetisch geordneten Kärtchen zu lesen und erste Kochversuche anzustellen. Und doch machte es mich traurig. Es gab niemanden, mit dem ich sprechen hätte können. An manchen Abenden kochte ich für zwei Personen, deckte ich den Tisch, als ob jemand zu Besuch käme. Eine brennende Kerze durfte nicht fehlen. Die beiden Teller schön anzurichten, die Kelle so zu führen, dass kein Tropfen der Sauce auf den weißen Rand fiel, kostete mich einige Mühe. Je mehr Sorgfalt ich aufwandte, umso trauriger endete der Abend. Mehr in sich selbst gefangen kann ein Mensch gar nicht sein als dann, wenn er selbst das fehlende Gegenüber zu spielen hat: „Sag doch etwas. Habe ich mir nicht viel Mühe gegeben?“ Der Teller gegenüber blieb stumm, erkaltete. Manchmal kippte ich das unberührte Essen in die Toilette, meist ließ ich es einfach stehen.[1] Wozu gibt es Raumpflegerinnen?
Um meiner Einsamkeit zu entkommen, begann ich in kleinen Restaurants zu essen. In der Nähe gab es ein georgisches Lokal. Schön geformte Teigtaschen mit vielfältigsten Füllungen. Es war ein Glück für mich, unter Menschen zu sitzen, deren Sprache ich nicht verstand, unter Menschen, die es wie mich hierher verschlagen hatte. Was das Leben betrifft, waren diese Menschen praktischer begabt als ich. Und dann waren sie aufgehoben in ihrer Sprache. Da das Lokal nur wenigen Gästen Platz bot, bediente die Köchin, eine ältere Frau, zumeist selbst. Hatte sie wenig zu tun, wechselten wir manchmal einige Worte. Sie muss meine Einsamkeit gespürt haben. An manchen Tagen gab sie sich, das war nicht zu übersehen, mit meinem Teller mehr Mühe als üblich. So konnte sie neben den Teigtaschen einige Granatapfelkerne, Walnüsse oder Blütenblätter gleich Zeichen anordnen, als wollte sie mir sagen: „Warum sitzen Sie so traurig und verloren da? Ich denke manchmal an Sie.“ Auf den Tellern der benachbarten Tische sah ich solche Botschaften nie. An einem der Abende kam die Köchin auf mich zu, reichte mir einen Geldschein, auf den ein Zettel geheftet war: „Dieses Geld gehört Yo.“ Sie meinte, mir sei dieser Geldschein bei meinem letzten Besuch unter den Tisch gefallen. Erstmals nannte jemand meinen Namen. Gerne hätte ich ihr den Geldschein geschenkt, um meiner Freude Ausdruck zu geben. Aber sie wollte ihn nicht annehmen.

Entwurzelte sehnen sich stets in die Welt ihrer Kindheit zurück, mochte sie auch Gewalt und Schrecken kennen. Als Kind lernte ich eine Genauigkeit kennen, die ich nun vermisste. Halbheiten waren dem Leben, das ich führte, fremd. Ich wuchs in einer gut organisierten Welt auf. Vielleicht war ich sogar glücklich. Zumindest erlebte ich es so. Es fehlte nicht an Zärtlichkeit. Mochten unsere Mütter auch verschieden sein, so fand sich doch stets eine, der ich mich anvertrauen konnte. Zweifellos habe ich eine sehr gute Ausbildung erfahren, eine Ausbildung, in der nicht einfach Wissen vermittelt, sondern auf Bildung des Geistes und des Körpers Wert gelegt wurde. Eine solche Ausbildung wird üblichen Schülern nicht zuteil. Und doch drängten sich in diese Sehnsucht nach meiner Kindheit, nach dem unbeschwerten Spiel im Park, im Schatten großer Bäume, auch düstere Bilder. Mit äußerstem Ernst gaben wir uns dem Theater hin. Dabei wurde auf Stimm- und Körperübungen großer Wert gelegt. In einem dieser Stücke, es war kein wirkliches Stück, fehlte doch ein längerer Handlungsstrang, hatte Lydia, eines der größeren Mädchen, eine Vestalin zu spielen, die eines Fehltrittes wegen ausgestoßen wurde. Welcher Fehltritt der Vestalin zum Vorwurf gemacht wurde, daran kann ich mich nicht erinnern. An unerlaubten geschlechtlichen Verkehr dachten wir gewiss nicht. Anderes drängte sich auf, etwa aus Unachtsamkeit Wasser, heiliges Wasser verschüttet zu haben. Lydia wurde von uns mit großem Eifer gefesselt und geknebelt, dann in eine Sänfte gesetzt. Um die nötige Wirkung zu erzielen, wurde die Szene oft wiederholt. Es war mehr als ein Spiel. Das Tuch, mit dem Lydia geknebelt wurde, drohte sie zu ersticken. In einem wirklichen Theater spielt man nur eine Rolle. Man muss keine Prinzessin sein, um eine Prinzessin darzustellen. Damals war das anders. Lydia hatte die Rolle der Vestalin zu spielen, weil sie eine der vielen Regeln übertreten hatte. Ich kann mich nicht mehr an den Anlass erinnern. Es gab so viele Regeln. Nicht eines der Mädchen vermochte alle einzuhalten. Es genügte, bei einer der vielen Übungen, die uns auf unsere spätere Aufgabe vorbereiten sollten, etwa einer Verbeugung nicht die geforderte Hingabe gezeigt zu haben. Vielleicht hatte Lydia Blumen unachtsam in eine Vase gesteckt. Über Vestalinnen wurde uns viel erzählt, über ihr Noviziat, ihre Aufgaben als Priesterinnen, später als Lehrerinnen. Wir wussten auch um das Schicksal der Verurteilten, auch um den Erdhügel, der lateinisch Damm hieß (also auch auf jene Körperstelle verweist, die zwischen dem Geschlecht und dem After liegt), wussten um den unterirdischen Raum, in den die verurteilte Vestalin, hatte man ihr die Fesseln abgenommen und den Knebel gelöst, über eine Leiter hinabzusteigen hatte. Unten eine Liegestatt mit Decken, auch Brot, Wasser und Öl, nicht zu vergessen eine brennende Lampe. Die Entfernung der Leiter, das Verschließen des Lochs, die Unkenntlichmachung der Stelle, habe sicher nicht nur ich mir in meiner kindlicher Phantasie in allen Farben ausgeschmückt. Nein, ich wurde nicht bei lebendigem Leib begraben. Und doch stellt sich die Frage: Hätte ich für meinen Fehltritt eine trächtige Kuh opfern sollen? Wo eine solche Kuh hernehmen? Und schließlich, wie wäre sie zu opfern? Auch zählte es nicht zu meiner Aufgabe, aus der Asche ungeborener Kälber, vermengt mit den leeren Hülsen harter Bohnen, Räucherwerk für kultische Handlungen zu bereiten.[2] Oder doch? Sitze ich nicht auf einem Aschehaufen ungeborener Kälber?
Erstaunlicherweise wurden wir auch in Physik unterrichtet. Dass auch unser Leben nach physikalischen Gesetzen organisiert war, begann ich erst lange später zu verstehen. Das Boyle-Mariottsche Gesetz ist nicht nur auf Gase anzuwenden, wie sich kommunizierende Gefäße auch im menschlichen Leben finden. Damals sah ich es nicht, konnte es nicht sehen, war ich doch nur eines von vielen Molekülen. Der Park war nicht anders organisiert. Die Zahl sollte stets dieselbe sein. Eine Erhitzung galt es ebenso zu vermeiden wie eine Abkühlung. Allerdings wäre nur in einem überdachten Park eine gleichbleibende Temperatur denkbar gewesen. Im Herbst wurden die Bäume welk, Blätter fielen ab. Dann begann es zu schneien, wie überall in diesen Breitengraden. Im Frühjahr die ersten Triebe und Blumen.
Die Unterrichtsstunden schienen auf den ersten Blick, nicht anders als in üblichen Schulen, nichts miteinander zu tun zu haben. Was haben die Thesmophorien, also die Feiern, die die Frauen Athens im Spätherbst begingen, mit Physik zu tun? Auf den ersten Blick nichts. Und doch war alles aufeinander abgestimmt. Die Gesetze der Thermodynamik hatten, ohne dass uns dies bewusst oder erklärt wurde, mit den Stoffen zu tun, die wir im Theater aufführten. Es ging nicht um oberflächliches Wissen, es ging um Hingabe. Der jeweilige Stoff sollte uns durchdringen. Robert Boyle etwa ist mir in Erinnerung geblieben, auch ein Gemälde, das ihn bei einem seiner Versuche zeigt.[3] Wir stellten es als Tableau vivant nach. Ich hatte das Mädchen zu spielen, das in seiner Angst, der weiße Kakadu könnte das Experiment nicht überleben, zu Boden blickt und mit seiner linken Hand die Augen bedeckt. Auch wenn ich wusste, dass ein Vogel in einem Glasgefäß, pumpt man die Luft ab, rasch in Krämpfe verfällt und schließlich zugrunde geht, es berührte mich nicht, war doch der Vogel den Vorgaben des Gemäldes entsprechend ausgestopft und in Position gebracht, nichts als ein Requisit, wie auch die Luftpumpe und all die anderen Gegenstände, die auf dem Gemälde zu sehen sind. Wie hätte ich mich verhalten, wäre der Vogel in der Glaskugel lebendig, die Vakuumpumpe funktionstüchtig gewesen, wäre der Kakadu erstickt? Ich weiß es nicht. Mädchen sollen empfindsamer sein. Ich bin mir da nicht sicher. Auch Mädchen können grausam sein. Erst lange später, als ich an einem Sommerabend eine Mücke erschlug und mich fragte, ob Mücken vier oder sechs Beine hätten, musste ich wieder an das Gemälde denken. Unter dem Vergrößerungsglas konnte ich den Todeskampf der Mücke verfolgen, die lange anhaltenden krampfartigen Bewegungen der Beine, die schließlich verebbten. Dieser Anblick berührte mich seltsam. Und ich fragte mich, ob Mücken eine Stimme haben, ob sie klagen können oder die Natur dies als Verschwendung erachtet hat? Es war nicht einfach so, dass mir etwas Schreckliches geschehen, zugestoßen wäre, so ganz ohne mein Zutun. Ich fühlte es an jenem Abend, als ich die letzten Zuckungen der Mücke betrachtete, mochte ich es auch nicht in seiner ganzen Bedeutung verstehen. Den Park gäbe es nicht, übernähmen nicht Mädchen, kaum haben sie Schwächere unter sich, Disziplinargewalt.
Ich klage viel. Ich klage oft. Dabei mangelt es nicht an Schicksalen, die furchtbarer als das meine sind. Saß in einem Lokal, das schon bessere Zeiten kannte. Wirtsleute, alt und müde geworden, obwohl nicht viel älter als fünfzig. An den Wänden zahllose Fotos, die von glücklicheren Tagen zeugten. Da waren die beiden noch jung, voller Kraft. Auf einem der Barhocker des nahezu leeren Lokals eine großgewachsene hübsche junge Frau, ein Bein über das andere geschlagen. Langes schwarzes Haar fiel offen über ihre Schulter, ihre großen Brüste, die sich unter ihrer Bluse abhoben. Und doch ließ ihr ganzes Verhalten an ein Kind denken, an ein Mädchen, das noch nicht um die Bedeutung der Körperteile weiß. Kratzte sich ungeniert zwischen ihren Schenkeln. Verlangsamte Bewegungen. Die Tochter der Wirtsleute. Als Kind von einem Pferd gestürzt. Als das Unglück geschah, muss das Mädchen etwa zwölf Jahre alt gewesen sein, was den vielen Aufnahmen zu entnehmen war, die die junge Frau als Mädchen mit Pferden zeigten. Mit zwölf Jahren erlebte ich die große Feier. Ich hätte auch unglücklich von einem Pferd stürzen können. Ich musste an eine alte Mesnerin denken, die mich durch eine spätmittelalterliche Kirche geführt hatte. Auch sie hatte etwas Kindliches. Auf dem Friedhof stehend meinte sie, sie habe ihr halbes Gehirn verloren. Es sei auf der Straße ausgelaufen wie ein aufgeschlagenes Ei. Auf einem grob geschotterten Weg sei sie als junges Mädchen von einem Motorrad erfasst worden. An eine Heirat sei nicht mehr zu denken gewesen, als aufgeschlagenes Ei. Eierschalenleben. Man denke an Kinder, die um die Gefahren des Lebens noch nicht wissen, dabei aber noch so zerbrechlich sind. Erst später werden sie sich eine schützende Fettschicht zulegen, einen Mantel, einen Panzer, der das Leben erträglich macht. Von wie vielen Zufällen das Leben eines Menschen entschieden wird! Ich hätte als Kind armer Wirtsleute geboren werden können. Man hätte mich gelehrt, Tische abzuräumen, Teller zu tragen, aufzutragen. Womöglich hätte es den Wirtsleuten gefallen, mich gegen geringes Geld einem städtischen Beamten oder anderen zu überlassen, eine halbe Stunde, in einer kleinen Kammer, flink eingeschoben zwischen dem Auftragen eines Essens und dem Abräumen eines Tisches. Vermutlich hätte ich all das als gegeben betrachtet. Man kann sich die Welt nicht aussuchen, in die man geboren wird. Bestenfalls fällt man auf die bessere Seite, wird etwa als Mann geboren, dessen Geschlecht und Herkunft ihn zu einem städtischen Beamten machen.
Ob ich mich manchmal in den Park zurücksehne? In die Gefangenschaft? Ich habe meine Kindheit, selbst jene Zeit, in der ich im Programm war, nicht als Gefangenschaft erlebt. Erst während der letzten Monate litt ich unter all den Regeln. Erst das Verschwinden von Paul warf mich auf mich selbst zurück, machte mir bewusst, allein zu sein, mich niemandem mitteilen zu können. Und dennoch kenne ich Augenblicke, in denen ich mich in den Park zurücksehne, vielleicht nicht zurücksehne, zumindest aber dessen klare Ordnungen vermisse. Heute lebe ich in einer Welt, die mein Leben nicht weniger bestimmt, deren Reglements aber unausgesprochen bleiben, in der jeder gezwungen ist, sich ständig neu zu erfinden. Frei fühle ich mich auch heute nicht.

Es wurde Tag, es wurde Nacht, es wurde Tag. Raumpflegerinnen kamen, Raumpflegerinnen gingen, quälten mich mit Staubsaugergeräuschen. Sie verhielten sich, als gäbe es mich nicht. Stundenlang lag ich mit geschlossenen Augen auf dem Bett. Ich konnte auch, war ich allein, vor dem Fenster stehen und in den Innenhof starren. Die Menschen, die ich sah, gingen ihren Beschäftigungen nach. Ich hatte keine Beschäftigung. Ich war für niemanden verantwortlich, vielleicht nicht einmal für mich selbst. Ich wurde gefüttert, ließ mich füttern, mochte mir dies auch nicht behagen. Nur die Jahreszeiten wechselten. Die ersten Frühlingsblumen, wiederkehrende Schwalben, Gartenrotschwänzchen, die Hitze des Sommers, das sich verfärbende Laub im Herbst, der erste Schnee, die langen Winternächte. Alpendohlen im Birnbaum vor dem Fenster. Mit ihren gelben scharfen Schnäbeln hacken sie gefrorenes Fleisch aus den im Schnee liegenden Birnen. Schwächere Dohlen werden von stärkeren vertrieben. Schnabel- und Flügeldrohen, Neid und Streit. Aber fliegt nur eine von ihnen auf, dann fliegen alle weg. Schreckhaft sind sie, misstrauisch und scheu. Der Boden ist ihnen nicht geheuer. Lieber sitzen sie auf einem noch so dünnen Ast, der sich unter ihrer Last biegt, stets abflugbereit. Fliegt der Schwarm auf, oft genug infolge eines völlig unbedeutenden Geräusches, dann bilden die Dohlen trotz aller Zwietracht ein Ganzes. Auch jene, auf deren Köpfe eingehackt wird, fliegen mit. Glück im Unglück. Dazugehören. Ist der Schwarm verschwunden, nehmen Amseln den Platz der Dohlen ein. Unter den Amseln ein Star. Seltsam, dieser müsste längst in sein Winterquartier geflogen sein. Zurückgeblieben, mischt er sich unter die Vögel, die ihm am ähnlichsten sind. Aber er fällt auf. Was wäre, steckte ich in seiner Haut? Ob er den Winter überleben wird?

Es musste sich etwas in meinem Leben ändern. So konnte ich nicht weiterleben. Warum nicht Deborah anrufen? Ich trug ihren Zettel immer noch bei mir: BITTE NICHT LAUT LESEN. MAN KÖNNTE SIE HÖREN. SOLLTEN SIE HILFE BENÖTIGEN, RUFEN SIE FOLGENDE NUMMER AN ... MAN WIRD IHNEN SAGEN, WO SIE MICH FINDEN KÖNNEN. VERTRAUEN SIE NIEMANDEM! VERZEIHEN SIE MIR. ICH DANKE IHNEN. ICH HABE VIEL VON IHNEN GELERNT. Ich rief an. Am anderen Ende, direkt an meinem Ohr, eine männliche, eine angenehme Stimme. Ja, er könne sich erinnern, Deborah habe von mir erzählt. Sicher werde sich Deborah bald bei mir melden. Wenige Stunden später rief sie mich an. Ich war ganz aufgeregt, hatte mich doch in meinem ganzen Leben noch nie jemand angerufen. In meinem früheren Leben wurde ich immer nur aufgerufen. An Antworten war nicht gedacht. Man wusste, was man zu tun hatte, was von einem erwartet wurde.
Deborah schlug mir eine gemeinsame Wanderung ins Katzenloch vor. Katzenloch? Ob ich Lust dazu hätte. Morgen, kurz nach Mittag. Sie werde mich mit dem Auto abholen. Ich war ganz aufgeregt. In der Nacht träumte ich von Deborah. Sie saß an meinem Bettrand, sah mich an und sagte, jedes Wort, jede Silbe betonend: „Ich sperre dich in einen Käfig, fünfundzwanzig Rettungsautos seien dir beigegeben, sieben Vögel, ein Papagei, ein Rotkehlchen, ein Grünspecht, vier Raben, eine hornlose Kuh mit langen Ohren. Die Tür zu diesem Käfig ist alt und morsch. Du wirst sie aber nicht öffnen können. Im Keller habe ich eine neue Türe eingebaut, dir einen Fluchtweg.“

In der Hand hält es einen Stock,
daran, an einer Schnur befestigt,
ein kleiner Käfig, der,
öffnete man ihn,
das ICH und DU und ER SIE ES erstickte,
das ängstliche Kind,
sich an die Mauer drückend,
begegnet es dem Pferd mit prallem Leib,
geschwollnem Bauch,
den langen blonden Haaren,
den Augen der Mutter.

Deborah holte mich tatsächlich ab. Sie stieg aus ihrem Wagen, umarmte mich, drückte mich an sich: „Ich habe lange auf deinen Anruf gewartet. Ich war mir sicher, du würdest mich anrufen ...“
„Hattest du wegen mir Schwierigkeiten?“
„Nein. Ich rief an und sagte, ich könne die Arbeit nicht weiter machen ... Ich wurde nicht nach den Gründen gefragt.“
Trotz der herzlichen Begrüßung kamen wir nicht recht ins Gespräch. Was hätte ich schon erzählen können? Nach einer langen Fahrt durch Stadt und Vorstadt zweigte Deborah in eine kleine Seitenstraße ab und bog schließlich in einen Feldweg ein. Eine hügelige Landschaft, die im Hintergrund in ein Gebirgsmassiv überging. Ein sehr schmaler Weg, der durch ein enges Tal führte. Eine Waldlandschaft, immer wieder durch Lichtungen unterbrochen. Steil abfallende Wiesen, unten ein Bach. Einzelne Nebelfetzen bewegten sich aufragenden Felsen zu. Dort, wo eine schmale Brücke den Bach querte, parkte Deborah den Wagen. Wir wanderten den Bach entlang, bergwärts. Das Rauschen des über natürliche oder künstlich angelegte Kaskaden ins Tal stürzenden Wassers war so laut, dass an ein Gespräch nicht zu denken war. Ich empfand dies als Erleichterung. So konnte ich mir einige Sätze zurechtlegen: „Ich ertrage mein Leben nicht länger. Ich hasse die Raumpflegerinnen. Sie gehen mir auf die Nerven. Ich muss etwas ändern. Mein Leben ist sinnlos. Ich werde gefüttert wie eine Made. Ich habe keine Aufgabe. Niemand liebt mich, niemand nimmt mich in seine Arme. Ich kenne niemanden, den ich lieben könnte ...“
In meine Gedanken versunken bemerkte ich es gar nicht. Der Fußpfad hatte sich vom Bach entfernt und sein Rauschen war nur noch aus Tiefe der Schlucht zu hören. So als hätte Deborah meine Gedanken erraten, unterbrach sie plötzlich das Schweigen:
„Du solltest nicht länger in der Wohnung bleiben ...“
„Ja ...“
„Im Augenblick weiß ich aber nicht, wie ich dir dabei helfen kann.“
Schweigend setzten wir unsere Wanderung fort. Wohl deshalb, weil mir Deborahs Bemerkung, ich wusste nur zu gut, wie Recht sie hatte, unangenehm war, so wie auch unser Schweigen, sagte ich schließlich:
„Was bedeutet Katzenloch?“
„So nannten die Bauern, die hier einmal lebten, diese Schlucht. Vermutlich wurden die erschlagenen Katzen in diese Schlucht geworfen. Siehst du das Dorf gegenüber? Es ist nicht weit von der Kirche bis zu jener Stelle, an der die Wiesen senkrecht in die Schlucht abfallen. Zweifellos haben die Leute all das, dessen sie sich entledigen wollten, in diese Schlucht geworfen. Alte Lumpen, verendete Tiere, auch erschlagene Katzen ...“
„Schrecklich!“
„Heute gibt es die Müllabfuhr und die Tierkörperverwertung. Das sind auch Schluchten.“ „Hast du eine Katze?“
„Nein. Ich wäre für sie verantwortlich ... Mit den Namen ist es so eine Sache. Auf der anderen Seite des Dorfes gibt es auch eine Schlucht. Die nennt man Teufelskeller. Niemand weiß, wie sie zu diesem Namen gekommen ist.“
„Klingt bedrohlich.“
„Es gibt keinen Teufel. Und gäbe es einen, er fände sich an andern Orten. Übrigens ist diese Schlucht, längst Naturschutzgebiet, von großartiger Schönheit. Dort ist es mir manchmal, als spürte ich die Existenz Gottes, kann mich die Vorstellung einer Schöpfung überfallen ...“
„Glaubst du an Gott?“
„Natürlich nicht.“
Aus irgendeinem Grund, ich kann mich nicht mehr genau erinnern, kam Deborah auf ihre Arbeit zu sprechen. Sie erzählte von einem Mädchen:
„Astrid ist sieben Jahre alt. Ein hübsches Mädchen, mit sehr dunklen Augen. Stundenlang sitzt sie unter dem Tisch, macht wippende Bewegungen. Ich habe lange gebraucht, aber es gelingt mir allmählich, das Vertrauen des Kindes zu gewinnen. Nun sitzt Astrid oft auf meinem Schoß, klammert sich mit der einen Hand an meine Kleidung, während sie mit der Zunge die Innenfläche der anderen Hand leckt. Nein, das ist nicht genau, es ist anders. bewegt weniger ihre Zunge, vielmehr zieht sie ihre Hand in einer gleichbleibenden Bewegung über die herausgestreckte Zunge, reibt ihre Handinnenfläche an der Zunge. Das macht sie, seit sie zu uns in Behandlung kam, seit langen Wochen. Bewegungen, die sich selbständig gemacht haben, die ein Eigenleben führen ...“
„Gibt es eine Erklärung für dieses Verhalten?“
„Manchmal scheint es, als würde Astrid bei diesen Bewegungen große Lustgefühle empfinden. Aber dann sehe ich jemanden, der ihr mit Gewalt den Mund zudrückt, zuhält, sie zum Schweigen bringt, ihr auf den Mund schlägt. Astrid hat gelernt, dieser bösen Hand zuvorzukommen. Deshalb schlägt sie sich selbst mit der Hand auf den Mund und sagt: ‚Nicht schlagen, lieb haben.’“
„Weiß man etwas über die Geschichte dieses Kindes?“
„Dass es im Kindergarten auffällig wurde, dass sich viele Psychologinnen an ihm abgearbeitet haben, allerdings ohne den geringsten Erfolg, dass es sich um ein Einzelkind handelt, die Eltern der untersten Einkommensschicht angehören. All das sagt wenig aus über das Kind.“
„Können nicht die Eltern Auskunft geben?“
„Ich kenne nur die Mutter. Ich glaube ihr kein Wort ... Wie den Akten zu entnehmen ist, wurde Astrid, als sie zu laufen begann, wie ein Tier tagsüber stundenlang in eine Kiste gesperrt. Nachbarn gaben dies zu Protokoll ... Im Akt fand sich ein Foto. Eine Bretterkiste mit oben aufklappbarem und verschließbarem Deckel, gerade so hoch, dass sich ein Kind darin kriechend bewegen kann, aber selbst einfaches Sitzen unmöglich ist. Die Kiste, beinahe hätte ich vergessen, es zu erwähnen, befand sich unter dem Tisch der Küche. Nicht zufällig verkriecht sich Astrid, ängstigt sie etwas, noch heute unter einem Tisch, so als gäbe es da eine Kiste, in die sie sich zurückziehen könnte. So schrecklich das klingen mag, die Kiste war nicht nur ein Käfig, in dem sie weggesperrt wurde, dieser Käfig bot auch Geborgenheit ... Wirklich Auskunft geben kann nur Astrid selbst.“
„Aber sie sagt doch wenig.“
„Nur sie kann ihre Geschichte erzählen. Und wenn man ihr genau zuhört, redet sie doch sehr viel. Freilich nicht mit Worten. Sie spricht durch die Bewegungen, die sie wiederholt, durch Gesten, durch Dinge, vor denen sie sich fürchtet. Auch Weglassungen und Leerstellen können beredt sein. Mag auch kein Käfig vorhanden sein, man muss die unsichtbare Kiste sehen, in die sie sich zurückzieht. Und gäbe es eine, gewiss würde sie den Deckel über sich zuschlagen. Astrid wurde sehr früh in das Geschlechtliche gestoßen. Gewalt wurde ihr angetan ...“
„... auch ich wurde früh in das Geschlechtliche gestoßen.“
Deborah antwortete nicht. Als ich mich umblickte, sah ich mich auf einem Almboden, in einer Landschaft, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Erst jetzt bemerkte ich die Kühe, die zwischen blühenden Almrosen nach Gras suchten.




Correggios Gemälde ‚Jupiter und Io‘. Die Szene, so las ich, in der Jupiter in der Gestalt einer Wolke die Nymphe umarme, küsse und ihr das Bewusstsein raube, sei ein wahres Wunderwerk.[4] Die leichte Wolke umhülle den glatten Körper des Mädchens, zöge dieses in eine sanfte Umarmung. Alles andere als eine amouröse Geschichte. Tatsächlich ist die Wolke, in die Io von Jupiter gehüllt wird, ihr zuzuordnen, nicht ihm. In der Nebelpranke, die ihren Leib umfasst, kündigt sich jener Rauch an, der vom Opferaltar aufsteigen wird. Nicht zufällig wird Io in eine schneeweiße Kuh, also in ein Opfertier, verwandelt. Io ist es, die wie viele andere verdampft, in Rauch aufgeht. Io ist eine Verdampfende, bereits ihr fleischiger Körper kennt den Übergang zur Wolke, zum Nebel, zum Rauch.[5] Betrachte ich die Io des Correggio, dann muss ich an jene Zeit denken, in der ich in ähnlicher Weise genommen wurde, ohne dies zu begreifen. Damals dachte ich an ausgespülte Eizellen und Embryonen, an erwartete Leistungen, von denen ich mit meinen zwölf Jahren keine Ahnung haben konnte, und das nicht nur meines Alters wegen. Zu vieles wurde im Unklaren gelassen. Eine Nebelpranke umfasste auch mich. Eine alles andere als sanfte Umarmung, schon gar keine amouröse, eine Ergreifung zu praktischem Gebrauch. Einmal eingefügt, gab ich, ohne dass ich es verstehen hätte können, bei jedem der Eingriffe kleine Rauchwölkchen ab, Rauchwölkchen, die keine Götter zu erreichen vermochten.[6] Letztlich kennt das Opfer keine Geschichte, muss es doch ständig wiederholt werden. Zahllose Ios wären zu nennen. Nicht viel anders als im Kloster der Ewigen Anbetung, wo lange Zeit in jede leergewordene Zelle, in jeden unbesetzten Gebetsstuhl ein junges Mädchen eingefügt wurde, so dachte man auch mich als Verdampfende.[7] Aber wer sieht das schon? Alles geht seinen gewohnten Gang. Da pflügt ein Bauer ein Feld, dort steigt Rauch aus den Kaminen der Grubenarbeiter.
Eine Frau, deren Aufgabe einzig darin besteht, hochwertige Eizellen und Embryonen abzusondern, unterscheidet sich nicht sehr von einer eierlegenden Ameisenkönigin. Ausgesuchte Exemplare, für die bestens gesorgt wird. Sie werden genährt, geputzt, gewartet. Dafür sind sie bewegungs- und flugunfähig, haben sie einmal die Flügel abgeworfen. Ein hoher Preis. Als ich in jener Kirche war und die Nonnen auf ihren Knien beten sah, da dachte ich mit Schaudern an die Knie der alten Nonnen, die seit Jahrzehnten täglich mehrere Stunden in dieser Kirche ihr Gebet verrichten. Können verkrüppelte Knie Zeugnis der Tugend geben?[8] Was soll das für eine Tugend sein? Ob verkrüppelte und verhornte Knie oder ein vernarbter Unterleib, ich vermag da keinen nennenswerten Unterschied zu sehen. Ich führte ein recht ähnliches Leben wie diese Nonnen. Nicht viel anders wurden wir versorgt. Der Blick durch das Gitter auf die betenden Frauen, die unmerklich, aber doch sichtbar, ihr Gewicht von einem Knie auf das andere verlagerten, war für mich eine Offenbarung. Wie gebannt stand ich dort. In die Faszination mischte sich der tröstliche Gedanke, dass diese ewige Anbetung ein Ende haben werde.[9]

Gefeiert wurde das Fest der zusammenprallenden Steine, das Fest des ausgeschütteten Weines, das Fest des geläuterten Fleisches. Ich war eingestimmt, hatte man mich doch lange gehütet, mit der erlesensten Nahrung genährt, mich auf diesen Tag vorbereitet. Die geforderten Beherrschungen waren mir dank langen Übens in Fleisch und Blut übergegangen. Der Zurüster, seine Wangen zinnoberrot geschminkt, seine Arme von den Ellbogen abwärts mit grünen Papageienfedern geschmückt, zerriss unter dem Klang von Trompetenstößen den um meinen Hals gelegten Blütenkranz. Dämpfe machten mich schläfrig, willenlos. Schon machte sich der Zurüster, auf dem Kopf eine dreifache Krone, mit einem Pinsel bewaffnet, zwischen meinen Beinen zu schaffen. Gelbe Blütenpollen schwebten im Licht. Der Bischof von Aleppo in seiner Uniform, Kriegsmarine, auf dem Kopf eine bunte Bischofsmütze, saß rechterhand erhöht auf einem goldenen Thron. Nicht ich war es, die sich bewegte. Es war der Altar, nach Norden gestellt[10], der mich, in eine Schale gebettet, hob und senkte, drehte und wendete, meinen Körper in diese oder jene Position brachte. Er war es, der mich, meine Körperöffnungen darbot. Nicht ich, der Altar führte einen ausgeprägten Balztanz auf, der Altar mit seinen dornenbehafteten Fangbeinen, an deren Ende jeweils eine eiserne Klaue sitzt, der Altar, dessen Arme sich aufklappen wie ein motorbetriebenes Schweizer Taschenmesser.[11] Sein verlängerter Halsschild hob mein Gesicht, sollte ich Zustimmung signalisieren, ließ meinen Kopf sinken, galt es, mir die Sicht auf das zu rauben, was um mich herum, an mir geschah. Die Lichttatze über mir blendete mich. Ich sah die vielen nicht, die dem Akt beiwohnten, die gebannt auf mich blickten, auf das, was an mir geschah, an mir vollzogen wurde. Ich hörte nur das Anheben und Verebben vieler Stimmen. Von ganz ferne. Der Zurüster riss mein Herz aus meinem Leib und verschlang es. Er zog mir die Haut ab, legte sich diese an wie ein Gewand, hüllte sich in meinen Ornat, trat bluttriefend vor die versammelte Festgemeinde, und dies in meiner Erscheinung. Aber ich, die Schönste, die er finden konnte, fühlte nichts.[12] Einen Thron besteigen, einen Altar besteigen, ein Pferd besteigen, eine Frau besteigen. Gekrönt, geopfert, beherrscht, gedeckt oder geschlachtet werden. Der Hahn besteigt die Henne.
Erst als mich der Altar wieder zusammenklappte, um mich zu verräumen, mich in der Versenkung verschwinden zu lassen, wurde ich mir meiner selbst bewusst. Ich tauchte in die Tiefe, in einen hell erleuchteten, ausgekachelten Raum. Eine kräftige Badedienerin stand bereit, um mich zu entkleiden, schob wohlwollend (vielleicht teilte sie mit mir ähnliche Erfahrungen) ihre rechte Hand unter meinen Nacken, unter meine Schultern, so dass mein Kopf sicher in ihrer Armbeuge zu liegen kam. Mit der anderen Hand fasste sie unter meine Hüften, hob mich vom Altar, dem heiligen Tisch, dem heiligen Bett, trug mich in einen Nebenraum und legte mich nicht weniger zärtlich in eine gefüllte Badewanne: „Ruhen Sie sich aus!“ Es duftete nach Orangenblüten. Ich blickte auf ein Fenster, hinaus in eine Landschaft mit klaren Farben. Rechts im Hintergrund ein Wasserfall, Gestrüpp, Bäume. Angenehm das Blau des Himmels mit wenigen zarten Wolken. Es war mir, meine nackten Beine betrachtend, als läge ich, um die eigene Achse gedreht, in der heilsversprechenden Landschaft.

Als mich Deborah nach unserer Wanderung ins Katzenloch wieder zu meiner Wohnung gebracht hatte, stieg sie aus, lief um den Wagen, umarmte mich und sagte: „Es war ein schöner Tag für mich. Werde ich mit Astrid arbeiten, so werde ich an dich denken. Auch du wurdest zu früh in das Genitale gestoßen ... Du solltest aus dieser Wohnung ausziehen, nicht ganz, aber probeweise. Leg einen Zettel auf den Tisch: WERDE LÄNGER ABWESEND SEIN. KOMME WIEDER. Du könntest in unserem Gartenhäuschen wohnen, aber du müsstest dich daran gewöhnen, einiges selbst zu machen. Dort gibt es keine Raumpflegerinnen ...“
„Ich werde es mir überlegen.“
Nach wenigen Tagen rief ich Deborah an.
Auf einem Hügel ein ehemaliges Winzerhäuschen, ein aus Holz errichtetes Gebäude mit kleinen Fenstern, auf einem aus behauenen Steinen errichteten Keller ruhend. Davor ein alter Nussbaum. Unter dem Baum ein verwitterter Tisch mit einigen Stühlen, die ungeordnet dastanden. An der Hauswand ein Feigenbaum. Ein verwilderter Garten. Am Fuße des Hügels ein großer Teich. Eine Wohnküche mit einem Holzherd, daneben ein kleiner Raum, in dem ein Bett stand. Bettbezüge lagen bereit. Ich musste das Bett selbst beziehen, was mich einige Mühe kostete, hatte ich doch in meinem ganzen Leben so etwas noch nie gemacht. Die ersten Nächte erlebte ich als bedrohlich. Ich wusste viele Geräusche nicht zu deuten. Selbst kleinste Geräusche ließen mich aufschrecken. Ich fürchtete mich. Dabei schlich niemand um das Haus. Niemand trachtete mir nach dem Leben. Niemand wollte mir Gewalt antun, niemand wollte mich ausrauben. Man hätte mir nicht viel rauben können. Im Gegenteil, es wurde mir nur zu bewusst, dass sich niemand für mich interessierte. Deborah, ja, aber sie hätte keinen Grund gehabt, nachts herumzuschleichen.
Ich gewöhnte mich an die nächtlichen Geräusche. Ein aus Holz errichtetes Gebäude ächzt, knarrt. Es kommt nie ganz zur Ruhe. Siebenschläfer und andere Tiere haben darin ihr Zuhause. Ich gewöhnte mich an das einfache Leben, ein Leben, das mit vielen alltäglichen Mühen verbunden war. Wollte ich es warm haben, dann musste ich einheizen. Ich musste selbst putzen. Niemand kaufte für mich ein. Niemand kochte für mich. Es gab niemanden, der meine Wäsche gewaschen hätte. So schwer mir dies in den ersten Monaten fiel, so sah ich doch, dass all das wesentlich weniger anstrengend ist, als nichts zu tun, im Bett zu liegen und an die Decke zu starren. Manchmal blickte ich mit Stolz auf die kleinsten Dinge, die mir gelungen waren. Die Gartenarbeit gefiel mir. Ein Garten ist ein Lebewesen. Übt man sich, so lässt sich mit ihm Zwiesprache führen.
Deborah, sie wohnte in der Nähe, besuchte mich regelmäßig und erklärte mir oft die einfachsten Dinge. Ich sprach viel von meinem Aufwachsen, meinem früheren Leben, erzählte von kindlichen Spielen, all den Strafen, beschrieb ihr die Zurüster, auch den Altar. Gut möglich, dass sie all das nicht wörtlich nahm, aber an meiner tiefen Verletzung zweifelte sie nie. Wohl deshalb erwähnte sie oft genug ihre Arbeit mit Kindern:
„Heute saß Astrid lange auf meinem Schoß. Sie untersuchte mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand mein Gesicht. Irgendwann schloss ich meine Augen. Bei jeder Berührung benannte ich die entsprechende Stelle: ‚Auge, Stirn, Mund, Ohr, Mund, Lippen, Wange, Mund, Ohrläppchen, Wange, Lippen, Nase, Stirn, Oberlippe, Kinn ...’ Nach einer gewissen Zeit begann, ich berührte Stellen meines Gesichts falsch zu benennen. Sagte ich ‚Ohr’, hatte Astrid meine Stirn berührt, so gab sie mir mit ihren Fingern einen Klaps auf den Mund. Üblicherweise schlägt sie sich selbst auf den Mund, droht etwas in Unordnung zu geraten. Ich war sehr glücklich in diesem Augenblick.“
„Und dann?“
„Ich überließ mich wieder Astrids vertrauter Ordnung. Es wird sehr viel Zeit erfordern, bis es möglich sein wird, in kleinen Schritten das Spiel zu erweitern ... Ich kann ihr dabei helfen, ihr die nötige Sicherheit geben, aber Astrid muss die Schritte selbst machen.“
„Wird sie das je können?“
„Wer weiß? Aber ich könnte nicht mit Kindern arbeiten, wäre ich nicht von einer Kraft überzeugt, die in ihnen steckt und nach einem Ich ruft. Ich sage das, obwohl ich inzwischen so etwas wie eine vage Vorstellung von Astrids tiefer Verletzung habe ... Dein Garten gefällt mir. Die Pfingstrosen haben bei mir nie so schön geblüht.“
„Was hat der Garten mit Astrid zu tun?“
„Natürlich nichts. Aber manchmal muss ich während meiner Arbeit an das Wachstum von Pflanzen denken. Im Keim ist alles gut angelegt. Nehmen wir einmal an, ein Same fällt auf einen fruchtbaren Boden. Er beginnt zu keimen. Wird das zarte Pflänzchen verletzt, so bestimmt die Verletzung sein weiteres Wachstum. Es trägt diese Verletzung ein ganzes Pflanzenleben in sich ... Da wird ein Kind geboren. Es entwickelt sich, durchlebt zahlreiche Wandlungen, die alle vorgegeben sind. Jede dieser Wandlungen hat frühere Wandlungen zur Voraussetzung. Wusstest du, dass die Tag- und Nachtlänge in einem bestimmten Verhältnis stehen müssen, soll eine Zwiebel beim Keimen nicht verkümmern? Man sollte das nicht durcheinanderbringen. Aber ich hab nicht nur an Astrid, ich hab auch an dich gedacht.“
„Ich weiß, was du mir sagen wolltest.“
Wir standen am Gartenzaun. Es war bereits dunkel geworden. Schweigen. Dieses Schweigen machte mir bewusst, dass auch die Einsamkeit ihren Lärm kennt, und das an einem Ort abseits von Siedlungen, Straßen und Autobahnen. Das Quaken der Frösche, das Gezirpe der Grillen, ich hatte es bis zu diesem Augenblick kaum wahrgenommen, erschien mir plötzlich unerträglich laut. Ich hörte Tiere durch das Unterholz brechen, bedrohliche Rufe und Schreie von Tieren, die ich nicht kannte, da und dort, irgendwo im Dunkeln, unten beim Teich. Es war mir, als gälte dieser ganze Lärm mir, das mechanische Gezirpe, das ununterbrochene Quaken, all die Rufe und Schreie. Solche Geräusche sind vor allem während der ersten Nachtstunden zu vernehmen. Es bricht buchstäblich heraus, das Fressen und Gefressenwerden, das hastige Fressen von Gras, während des Herbstes auch Fallobst, auch das Gefressenwerden, all die Kämpfe. Deborah riss mich aus meinen Gedanken. Sie drehte sich mir zu, umarmte mich, hielt mich zärtlich in ihren Armen. Lange. Dann meinte sie:
„Du bist nicht Astrid. Man hat auch dir viel angetan, dich getäuscht, vieles verödet, mögliche Entwicklungen verhindert. Das tut weh. Aber du hast Möglichkeiten. Du bist sehr schön, du bist klug ... Ich mag deinen Geruch, ich mag es, wie du mich berührst ...“

Ich versuche, zwei Bilder zur Deckung zu bringen. Ein kräftiger Ast eines blühenden Kirschbaumes wird auf zwei Armlängen in der Mitte gespalten. Gehilfen dehnen die Asthälften auseinander, während ein Zurüster, mit Tränen in den Augen, den Hals eines geschlechtsreifen, aber noch unberührten Mädchens in die künstlich geschaffene Gabel drückt. Die Gehilfen lassen die Gabel zuschnellen. Das Mädchen erstickt. Aus seinem Fleisch wird unter Beigabe von Kräutern und zerriebenen Samen eine Paste bereitet, die gemeinschaftlich verzehrt wird. Der Rest wird verbrannt, die Asche auf den Feldern ausgestreut. Ein Befruchtungsvorgang. Dann: Während der Paarungszeit bildet ein im Wasser treibendes, geschlechtsreifes Mädchen eine Legeröhre aus, die Armlänge erreichen kann, eine blauschimmernde durchsichtige Röhre. Die Röhre wird in die Atemöffnung einer Riesenmuschel eingeführt. Auf diese Weise gelangen die mit freiem Auge nicht sichtbaren Eizellen in die Kiemen. Ein junger Bursche, der schönste unter seinesgleichen, schwimmt über der Muschel und ergießt seinen Samen ins Wasser. Mit dem Atemwasser wird dieser eingesaugt, werden die Eizellen befruchtet. Im Inneren, durch das stete Öffnen und Schließen der Schale hin und her gespült, kann sich die Brut gut geschützt entwickeln. Mit dem Atemwasser werden die Säuglinge schließlich ausgestoßen und treiben an die Oberfläche. Was hat ein blühender Kirschbaum mit einer Riesenmuschel gemein?



Anmerkungen

Handschriftliche Randnotizen, eingelegte Notizblätter sowie Anmerkungen des Herausgebers. Letztere sind in eckige Klammern gesetzt.

[1] Laurence Sterne an seine Braut Elizabeth Lumley: „Ein einziger Teller, ein Messer, eine Gabel, ein Glas! – ich warf unendlich nachdenkliche Blicke auf den Stuhl, den Du so oft geziert hattest damals bei jenen geruhsamen und gefühlsseligen Soupers – dann mußte ich Messer und Gabel niederlegen, ich zog mein Taschentuch hervor, bedeckte mein Gesicht damit und weinte wie ein Kind.“

[2] [„suffimen“; Plutarch, Numa.]

[3] [Joseph Wright of Derby, „Das Experiment mit dem Vogel in der Luftpumpe“, 1767.]

[4] [Kunsthistorisches Museum, Wien.]

[5] Auch in anderen Mythen kann ein Gott oder ein Dämon sich in Gestalt einer Wolke eines Mädchens bemächtigen. Um nicht in Rauch aufzugehen, hebt es den Rock und zeigt sein Geschlecht. [So etwa im japanischen Märchen „Als die Dämonen lachten“.]

[6] Nicht mit dem Mund, mit der Nase nehmen die Götter Nahrung in Form von Gerüchen auf. [Ähnlich wie Lukians Seleniten ernähren sich die Mondbewohner in Cyrano de Bergeracs „Die Reise zu den Mondstaaten und Sonnenreichen“ einzig von aufsteigendem Dampf.]

[7] In endloser Folge stülpt sich ein Geschöpf aus dem anderen. Eihaut, Fruchtsack, Gebärmutter, Leibeshöhle, ein Bett, eine Kammer oder eine hölzerne Kiste im Inneren eines Schiffsrumpfes, schließlich das Schiff. Es wird untergehen. Das Meer als alles verschlingende Mutter.

[8] [Bezieht sich offensichtlich auf eine Anekdote, die Sigmund Freud in seinem Geleitwort zu John Gregory Bourkes „Buch des Unrats“ erwähnt: „Als ich im Jahre 1895 als Schüler Charcots in Paris weilte, zogen mich neben den Vorlesungen des Meisters die Demonstrationen und Reden Brouardels am stärksten an, der uns an dem Leichenmaterial der Morgue zu zeigen pflegte, wieviel es Wissenswertes für den Arzt gäbe, wovon doch die Wissenschaft keine Notiz zu nehmen beliebte. Als er einmal die Kennzeichen erörterte, aus denen man Stand, Charakter und Herkunft des namenlosen Leichnams erraten könne, hörte ich ihn sagen: Les genous sales sont le signe d’une fille honnète. Er ließ die schmutzigen Knie Zeugnis ablegen für die Tugend des Mädchens!“]

[9] „Ewig anbeten“, so absurd wie „ewig lieben“ oder „ewig kopulieren“. Lässt sich nur maschinell lösen. In einem Glaskasten eine Uhr, über dem Ziffernblatt Christus am Kreuz, dessen Kopf sich nun seit Jahrhunderten, freilich vorausgesetzt, die Uhr ist aufgezogen, unmerklich hebt, um am Ende jeder vollen Minute abrupt auf die Brust zu fallen.

[10] Plinius schrieb dem Nordwind eine befruchtende Wirkung zu. Deshalb würden Stuten, die ohne Zutun eines Hengstes ein Fohlen wollten, sich mit ihrem Hinterteil nach Norden in den Wind stellen.

[11] Fehler! / Messerteller blockiert. / Vorsicht! / Türe enthauptet sich selbst. / Messerteller blockiert.

[12] [Verdichtung kulturhistorischer Literatur, womöglich James George Frazer, „Der goldene Zweig“, Joseph Campbell, „Mythologie der Urvölker“ etc.]