Kapitel 17

Längere Zeit teilte ich meine Wohnung mit Neurath. Ich mochte ihn, warum auch immer. An den Wochenenden fuhren wir aufs Land, manchmal ans Meer. Wir schauten uns Museen, oft genug seltsamste Bauwerke an. Wiederholt ließen wir uns durch den einen oder anderen Rinderbetrieb führen. Konzerte mieden wir. Mag sein, dass ich es nicht ertrage, dicht gedrängt unter Menschen zu sitzen, dass es mir schwer fällt, meinen Bewegungsdrang zu beherrschen. Es kann auch an meinem empfindlichen Gehör liegen. Die Normalität unserer Ausflüge machte mich, trotz aller Missverständnisse und Auseinandersetzungen, beinahe glücklich. Aber dann kam ich eines Tages in meine Wohnung. Ich sah es auf den ersten Blick. Meine Zeichnungen und Notizen lagen nicht mehr so in den Laden, wie ich sie hineingelegt, geordnet hatte. Ich hatte ihn ertappt wie einen kleinen Jungen, der Kleingeld geklaut hat, um sich Süßigkeiten zu kaufen. Neurath suchte sich zu rechtfertigen. Erstmals erzählte er von seiner Arbeit, von seiner Zeit im Monitorraum, auch, dass unsere Beziehung alles andere als ein Zufall sei, dass er dafür bezahlt werde, Material über mich zu sammeln. Ich habe ihm viel von mir, von meiner Geschichte erzählt. Und was tat er? Er schrieb Berichte darüber. Nicht einmal war ihm eine unbedachte Bemerkung herausgerutscht, die mich auf seine Zeit im Monitorraum hätte schließen lassen, auf seine vielen Gespräche mit Champell, dessen Namen er nun erstmals erwähnte, das Geld, das er damit verdiente. Ich warf ihn hinaus. Er packte seine wenigen Sachen und verließ die Wohnung brav wie ein ertappter Junge. Was für ein Schlappschwanz.

„Do you speak English?” „Yes.” „Do you know a bar with many females ...?” Females kennen auch Hunde, Heuschrecken oder Kellerasseln. Weibchen. Ich fand diese Bezeichnung treffend, war der Mann doch auf der Suche nach einer Geschlechtspartnerin. Sind viele anwesend, dann lässt sich eine Auswahl treffen. Später saß ich in einer Bar. Einer der Gäste fragte nach einer Zeitung. Es sei völlig gleichgültig, wann sie erschienen sei. Es schien mir, als bräuchte er etwas, um sich festzuhalten. Als eine Frau, auf die er offensichtlich gewartet hatte, das Lokal betrat, legte er die Zeitung beiseite. Nun nahm sie den Platz der Zeitung ein. Denke ich an die Zeit mit Neurath, dann habe ich lange genug den Platz einer Zeitung eingenommen. In der zeitlichen Distanz kann ich dem eine komische Seite nicht absprechen. Da fährt ein Mann mit seinem Auto durch die Gegend, manchmal durch beeindruckende Landschaften, auf dem Beifahrersitz ein die eigenen Seiten selbst umblätterndes Boulevardblatt, voll von den übelsten Geschichten, zumindest in den Augen des Fahrers, der gleichzeitig keine Mühe hat, ist er nicht mit dem Knüppel der Gangschaltung beschäftigt, zwischen die Beine des Boulevardblattes zu greifen. „Many females.“ Neuraths Welt. Der Park, das Dorf der Frauen.

Manchmal konnte mir Neurath die seltsamsten Fragen stellen, so etwa, ob wir im Park auch Doktorspiele getrieben hätten? Neurath, der meine Erzählungen oft genug als Hirngespinste abtat. Sicher habe es Möglichkeiten gegeben, Männer kennenzulernen, so bei Spaziergängen auf den Rinderweiden. Davon wie von anderem hatte ich ihm nie erzählt. Schon gar nicht von Paul. Es hätte mich stutzig machen müssen, aber da er stets so tat, als scherze er, kam ich nicht auf den Gedanken, er könnte mehr über mich wissen, als ich ihm erzählt hatte. Tatsächlich wusste er sehr viel über mich. Er wusste selbst um das Spiel, mit dem ich mich beschäftigt hatte. In einem Antiquariat muss er sich den längst vergessenen Roman gekauft haben, in dem es beschrieben ist. Das Spiel konnte ihm gar nicht bekannt sein, wäre er nicht von anderen darauf aufmerksam gemacht worden. Ich war wohl der erste Mensch, der versucht hat, dieses Spiel, also das große Wagnis, zu spielen, und wie ich sehen muss, wusste und weiß mein gesichts- und namenloses Gegenüber die Wände der labyrinthartigen Festung so zu stellen, dass sich mir jedes Mal, wenn ich meinem Gefängnis zu entkommen meine, auch dieser Fluchtweg als verschlossen erweist.

Wie mir Neurath gestand, hat er sich mit Champell nicht nur ausführlich über das Programm, sondern auch über all das unterhalten, was den Park so funktionieren lässt, wie er nun einmal funktioniert, nicht zuletzt über Privilegien und Leistungsanreize. Wir sollten überzeugt sein, uns frei bewegen zu können, dabei sei unser ganzes Verhalten geplant und somit vorhersehbar gewesen. All das verdanke sich der Arbeit zahlloser Verhaltensforscher, Psychologen oder auch Informatiker. Alles sollte vermieden werden, was auch nur im entferntesten an Zwang denken ließe. Wir sollten nicht überzeugt werden, was eine Kenntnis von Alternativen zur Voraussetzung gehabt hätte, wir sollten überzeugt sein. Die Überzeugung sollte uns eingepflanzt sein, damit wir uns aus eigenem Antrieb in die Abläufe fügen würden. Und das taten wir auch. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Neurath sprach mit Champell auch über die Feiern, die ihm dieser schlicht als sinnstiftende Angebote erklärte. Dafür scheint mir der betriebene Aufwand doch etwas hoch. Ich muss nur an den Altar denken oder an die Kostümierungen der Zurüster, der Maschinenobergefreiten und Badediener, die tagsüber in Labors, Behandlungs- oder Kontrollräumen beschäftigt sind, vor Bilanzen sitzen oder sich über den Golfplatz bewegen, um sich über Aktienkurse oder neue Geschäftsmöglichkeiten zu unterhalten, die sich also in einer Welt bewegen, die ich nicht kannte und die uns völlig verschlossen blieb. Champell muss Neurath den Park sehr technokratisch erklärt, vieles dabei aber verschwiegen haben, etwa das ganze Vokabular, in dem wir lebten, das unseren Alltag, all unser Tun ordnete, ein Vokabular, das sich andere ausgedacht haben. Wohl nie sprach er von Zurüstern, gewiss nicht von der Großen Mutter, von Badedienerinnen oder Dienerinnen, die durch irgendein unerklärliches Gesetz sprachlos wurden. Mochte Champell Neurath gegenüber manches verschwiegen haben, so entschuldigt es sein Verhalten dennoch nicht.

Meine Enttäuschung war umso größer, als ich mir ein Leben mit Neurath durchaus vorstellen hätte können. Wochen später schrieb er mir einen langen Brief, in dem er mich um Verzeihung bat. Es tue ihm leid. Er habe nicht nur mich, sondern auch sich selbst verraten. Auch er sei, nicht viel anders als ich, vom Unternehmen als Versuchsperson behandelt worden. Er schrieb über seine Erfahrungen im Monitorraum, die ihn offenbar beinahe in den Wahnsinn getrieben hatten. Er legte mir Kopien seiner damaligen Tagebücher bei. Ganz abgesehen davon, dass es mich befremdete, wie wenig er vom Park begriff, hätte er früher darüber sprechen müssen, spätestens in dem Augenblick, als ich das noble Mädchenpensionat am Genfer See in sich zusammenstürzen ließ. Er liebe und begehre mich noch immer, so schrieb er mir. Da kann ich nur sagen: Sieh auf meine verletzte Haube. Ist die Liebe einmal zerstört, dann hilft auch angebliche Zuneigung nicht mehr. Wer sein Haus auf Lügen baut, hat schlecht gebaut. Wie Sofia Wassiljewna führte ich, ohne dass ich darum wusste, ein zweites Leben auf Papier.[1] Ich würde nur zu gerne wissen, was er darüber schrieb, wie ich unter ihm lag und von ihm beackert wurde. Nein, ich möchte es nicht wissen. Das Papier würde mehr über ihn aussagen als über mich. Vor allem ertrage ich kein Selbstmitleid. Es gab kein Zurück in ein gemeinsames Leben. Dabei hätte es möglich sein können. Uns verband einiges. Wie ich wollte auch Neurath ein anderes Leben beginnen. Wie in mir, so war in ihm vieles zerbrochen. Auch Neurath schien aus allen Selbstverständlichkeiten gefallen. Gemeinsam wollten wir nach Italien fahren, um uns ein Kloster ansehen, in dem sich einst Mystik und Sexualität durchdrangen, das Sakramentale eine geschlechtliche Praxis kannte. Nun musste ich allein fahren.

Über Jahrzehnte wurde sie tradiert, die Praxis der geschlechtlichen Frömmigkeit, von einer Äbtissin an die nächste weitergegeben. Die Vermählung mit dem göttlichen Gemahl wurde nicht nur in Gedanken vollzogen. All das verdankt sich den mystischen Erfahrungen der Gründerin. In einer ihrer Visionen ergießt sich aus der Seitenwunde des Herrn statt Blut eine klare Flüssigkeit, tropft auf ihr Gesicht, fließt über ihren nackten Körper und sammelt sich zwischen ihren zusammengepressten Oberschenkeln. In anderen Visionen tropft der himmlische Liquor aus einer Rippe oder aus dem Mund des Herrn. Er habe diesen Liquor über sie ergossen und ihr eingeflößt, damit sie sich dessen bedienen könne, um ihre Töchter zu reinigen und zu heiligen. Solche Reinigungen, man sprach von Purifizierungen, galten vor allem den Novizinnen. So konnte eine Novizin von der Vikarin mit dem Hinweis, sie werde reich beschenkt, in die Zelle der Äbtissin geführt werden. Der Raum war mit schweren Vorhängen abgedunkelt und nur von drei Kerzen und einigen im Ofen flackernden Holzscheiten erhellt. Das Bett, kopfseitig an die Wand gerückt, war von beiden Seiten zugänglich, hatte die Vikarin doch einige Handreichungen zu leisten. Über dem Bett hing ein großes Gemälde des Martyriums der Heiligen Agathe. Die Novizin sah die Äbtissin auf dem Bett liegen, ganz von Sinnen, in einem Zustand ekstatischer Erregung. Die Vikarin erklärte dem verwirrten Mädchen, die Äbtissin werde eben vom Herrn erleuchtet, die Röte in ihrem Gesicht sei ein Zeichen seiner großen Liebe. Von ihr dazu aufgefordert, trat die Novizin an das Bett der Äbtissin und küsste deren Hand, worauf die Vikarin die Mutter entkleidete, diese ihre Schenkel spreizte und ihr Geschlecht darbot, welches die Vikarin mit ihren Fingern so lange streichelte und betastete, bis sich die Scham nässte. Die Novizin wurde aufgefordert, sich den Finger zu benetzen und Kreuzzeichen auf Stirn und Lippen zu machen.
Verließen die beiden, nachdem die Vikarin die Äbtissin wieder zugedeckt hatte, die Zelle, so wurde die Novizin, kaum hatte sich die Tür hinter ihnen geschlossen, wieder zurückgerufen. Die Äbtissin erklärte ihr nun, sie habe vom Herrn ein großes Geschenk erhalten, dies sei erst der Anfang, es sei ihre Aufgabe, das Geschenk zu erfüllen: „Denkst du an Essen? Bist du ein Bauchmensch? Ich bin die Herrin des Betttuchs. Nimm Dir meine Brüste, Überfluss für dich, Überfluss, den ich besitze, der mir für dich gegeben wurde.“ Dann hatte sich die Novizin in das Bett der Äbtissin zu legen, worauf sie von dieser entkleidet wurde. Nach Umarmungen, zahlreichen Küssen auf Stirn, Augen und Mund, auf Schultern und Arme, mancherlei zärtlichen Worten wie „Was für eine weiche und sanfte Haut du hast, was für schöne weiße Zähne, so leuchtende Augen ...“, aber nicht ohne an den ihr geschuldeten Gehorsam zu erinnern, stieg die Äbtissin auf die Novizin und bearbeitete deren Geschlecht: „Du wirst den Heil-Samen in dir spüren, / seine Süße auf der Zunge. / Schon beim Gedanken daran / läuft einem das Wasser / im Mund zusammen, / beginnt es andernorts / zu träufeln und zu spritzen / bereit zur Empfängnis des Heil-Samens, / des göttlichen Gemahls / der es klingen und läuten lässt, / ist er einmal in uns / und wir in ihm.“ Manche der Mädchen müssen wohl erschrocken sein, fiel die Äbtissin plötzlich in Ekstase, stieß sie tiefe Seufzer aus, als würde sie sterben. Die Nacht vor ihrer Einkleidung verbrachte die Novizin im Bett der Vikarin, Gesicht an Gesicht, Brust an Brust, all das unter heftigen Umarmungen und anderen purifizierenden Berührungen. Der folgende Tag begann mit dem Abrasieren der Haare.
Die Purifizierungen, Teil des alltäglichen Lebens, überlagerten sich mit erotischem Begehren, mit dem Austausch von Zärtlichkeiten, mit dem Betrachten und Untersuchen der Körper – ein ins Kloster gelangtes medizinisches Fachbuch, in dem sich Abbildungen von Geschlechtsorganen fanden, mochte eine Rolle gespielt haben – mit dem Berühren und Lecken von Brüsten und Scham, mit Zungenküssen, die dem göttlichen Liquor galten. Die höchste Form des Gebens und Empfangens fand sich, brachten sich die beiden in eine Stellung, die es erlaubte, die Beine so zu verflechten, dass ein Geschlecht das andere berührte und es so zum Austausch von Sekreten kam. Mechanische Hilfsmittel wurden nicht benutzt. Es bedurfte des Körpers einer anderen, um den abwesenden Herrn zu ersetzen, an dessen Gnaden teilzuhaben, den göttlichen Geist zu empfangen. Dabei konnten sie sich im Himmel sehen, von der Jungfrau Maria an die Brust genommen, dreiunddreißigmal gestillt, während der göttliche Gemahl sie mit allerlei Zärtlichkeiten erfreute, ihre Haare kämmte, sie mit seinem Umhang kleidete, mit ihnen aß, um sich endlich mit ihnen zu vermählen. Wieder aufgewacht aus solch Visionen konnten sie sagen, die Heftigkeit seiner Liebe sei heftig gewesen. Die gebrochenen Rippen, die geschwollene Zunge, der von Beulen entstellte Kopf belegten die Echtheit des Mysteriums.
Theologisch betrachtet diente all dies erstens der Erkenntnis, zweitens der spirituellen Versenkung, drittens der Verwandlung und viertens der substanziellen Kommunikation. Dreimal den Mund der Vikarin küssen. Drei Tage liegen zwischen Tod und Auferstehung. Fünfmal an der Brust saugen. Die Zahl 5 steht für die fünf Buchstaben des Namens Maria. Siebenmal die Zunge in den Mund einer anderen schieben. Siebenmal beugte sich Elischa über den toten Knaben.[2] Dreiunddreißigmal das Geschlecht einer anderen küssen. Dreiunddreißig Lebensjahre weilte Christus unter den Menschen. Ungerade Zahlen: 3 – 5 – 7 – 33.
Um diese Tradition von Äbtissin zu Äbtissin nicht abbrechen zu lassen, bedurfte es, spätestens nach der Wahl einer neuen Äbtissin, eines priesterlichen Segens. Das Prozedere lässt an ein höfisches Zeremoniell denken, in vielem an die Feiern des Parks, wie ich sie in Erinnerung habe. Die Äbtissin fiel vor dem Beichtvater auf die Knie. Er erteilte ihr den Segen, worauf sie in Ekstase geriet. In diesem Augenblick kniete sich der Beichtvater vor der Nonne nieder (eine Geste, die mich an Zurüster denken lässt, an Verfügungsansprüche, die sich in Demut kleiden), stützte ihren rechten Arm, küsste ihr die Stirn, das Gesicht, die Lippen. Er hob die Guimpe, das Brusttuch der Nonnentracht, und zeichnete mit seiner Zunge einige Kreuzzeichen, während er die Worte sprach: „Meine Tochter, meine liebe Tochter, Erstgeborene, Bevorzugte, mein Wohlgefallen, meine Wonne, mein Schatz.“ Er konnte das Skapulier[3] heben, mit der Hand in den Schlitz des Habits fahren und längere Zeit mit der Hand das Herz der Nonne reiben, dabei die Worte wiederholend: „Reines Herz, heiliges Herz, unbeflecktes Herz ...“ Schließlich schob er seine Zunge in den Mund der Äbtissin und ließ sie dort lange verharren. Diese substanzielle Kommunikation zwischen den beiden hatte siebenmal im Jahr zu geschehen, das Einführen der Zunge insgesamt dreiunddreißigmal innerhalb eines Jahres, seitens des Beichtvaters mit einer Haltung, die jede sittenlose Liebe und Zuneigung, die zu einer größeren Vertraulichkeit hätte führen können, ausschloss, war es doch der Herr selbst, der die Zunge in den Mund schob, das Herz küsste.[4] Wollust, gottesfürchtig geworden. Das notierte ich während meiner Fahrt nach Rom. Blickte ich aus dem Fenster meines Abteils, bot sich mir eine ganz andere Welt. Autobahnen, trostlose, metastasierende Vorstadt- und Industriegebiete, heruntergekommene Orte, einzig durch eine maßlose Geschäftigkeit zusammengehalten, die nur Hässliches zur Folge hat.

Ich betrat das ehemalige Parlatorium, die Spreche, ein anderes Wort fällt mir nicht ein, also jenen Raum, der dem Kontakt mit der Außenwelt diente. Einen solchen Raum kannte meine Welt nicht. Da gab es kein Sprechgitter, keine Rota, keine Verbindung zur Außenwelt. Es muss aber ein Sprechgitter, auch eine Rota gegeben haben, wurde doch eingefügt und ausgeschieden. Woher hätten all die Mädchen kommen sollen, wenn nicht aus der Außenwelt? Der Park war von zahllosen Schwangeren oder solchen bevölkert, die schwanger werden sollten. Er diente einer permanenten Trächtigkeit. Dennoch kam nie ein Kind zur Welt. Der Park kannte wohl Kranke, als Geweihte ist man in ständiger medizinischer Behandlung, aber keine Siechen. Wo niemand stirbt, da braucht es keinen Friedhof oder eine anders organisierte Bestattungsform. Wer dem Ideal nicht entsprach, musste also durch eine Art Drehtür wieder zum Verschwinden gebracht werden. Nicht zu vergessen die Zurüster, die Maschinenobergefreiten und Badediener, die während der Großen Feier zu sehen waren. Es muss also Sprechgitter gegeben haben, höchst beredte Sprechgitter sogar. Aber ich wüsste keinen diesbezüglichen Raum zu nennen. Ich wurde nie in ein Parlatorium gerufen. Wer aus der Außenwelt hätte schon nach mir fragen können?
Das Parlatorium des einstigen Klosters ist nahezu unverändert erhalten geblieben. Man stelle sich zwei durch eine Scheidewand getrennte Räume vor, in diese Scheidewand eingelassen ein hölzernes Sprechgitter, eine kleine Drehtür, durch die Gegenstände nach innen wie nach außen verhandelt werden konnten. Drinnen und draußen, hell und dunkel, rein und unrein. Während in den äußeren Bereich durch große Fenster Tageslicht fiel, war es hinter der Durchreiche dunkel. Bestenfalls drangen einzelne Lichtstrahlen durch die kleinen Löcher des Sprechgitters. Während die dahinter stehende Nonne, die die Besucher nach ihrem Begehren fragte, diese im hell erleuchteten Eingangsbereich sehen konnte, vermochte kein Außenstehender das Gesicht der Nonne dahinter zu erkennen. Diese Drehtür erschien mir als höchst sinnreiche Konstruktion. Das Sprechgitter war in eine vorne und hinten offene Trommel eingefügt. Stand während einer Drehung das Sprechgitter der Rota quer zur Trennwand, so war es dennoch nicht möglich, einen Blick in den dahinter liegenden Raum zu werfen.

Heute ist dieser rückwärtige Raum dezent beleuchtet. Ich betrat eine Art Wunderkammer, in der sich alles um das Genitale zu drehen schien und in die, ohne jede zeitliche oder inhaltliche Ordnung, alles Eingang fand, was sich im entferntesten Sinn dem Geschlechtsapparat zuordnen lässt, angefangen von anatomischen Feucht- und Trockenpräparaten über wertvollste Plastiken (zumeist aus anderen Kulturen) bis hin zu billigstem Kitsch oder Formen aus der Natur, die wie die Frucht der Meeresnusspalme an das weibliche Geschlecht denken lassen. Jedes der Objekte, aus seinem ursprünglichen Zusammenhang gerissen, wurde, sei es durch Gegenüberstellung oder bloße Nachbarschaft, in eine neue, oft genug bizarre Lesart gebracht. So konnte etwa einer vor langer Zeit in Stein gehauenen Baubo ein Reliquiar entgegengesetzt sein, dessen Form nur zu offensichtlich an das weibliche Geschlecht denken ließ. Kleine und große Projektile, Mörsergranaten, Bischofsmützen, Trichter und Kellen, Godemichés und Dildos, Nadeln, Ringe und Kränze, eine Sammlung von Glaskugeln, in denen Phallusfiguren in aus bunten Korallen und Elfenbein gefertigten Miniaturlandschaften zu sehen sind. Hätte ich es gewagt, eine dieser Kugeln in die Hand zu nehmen und zu schütteln, sicher hätte es zu schneien begonnen.

Ich war die einzige Besucherin. Nicht eine Aufsichtsperson verfolgte mich als Schatten, mehr noch, es gab nicht einmal eine Kassa, an der ich eine Eintrittskarte hätte kaufen können, wie sich auch die Eingangstür, die übrigens keinen Hinweis auf das Museum kennt, von selbst öffnete, kaum war ich in ihre Nähe getreten. Das Museum schien auf mich gewartet zu haben. Es wäre spannend gewesen, mit Neurath durch diese Räume zu gehen, nachdem er sich so lange Frauenwelten gewidmet hat. Aber er hätte genauso gut Hühner beobachten können. Vielleicht wäre ihm in diesem Museum doch das eine oder andere eingefallen. Musste an den Tag denken, an dem ich ihn aus meiner Wohnung warf:
„Warst du jemals im Park, hast du auch nur mit einer der Geweihten gesprochen?“
„Das war nicht möglich. Es hätte auch keinen Sinn gemacht. Das Leben im Park ließ sich auf zahllosen Monitoren verfolgen. Ich konnte stets zwischen unterschiedlichsten Kameras wechseln. Kein Ethnologe zuvor hatte je die Möglichkeit, eine Kultur aus so vielen Perspektiven zu sehen, und das, ohne selbst zu einer Störung im Feld zu werden. Ich bedurfte keiner Täuschungen, keiner Kameras, die etwas anderes dokumentieren, als das übergroße Objektiv behauptet.“[5]
„Lassen sich Menschen verstehen, ohne mit ihnen zu sprechen, ohne dass einem selbst Fragen gestellt werden? Vermutlich wärst du zu ganz anderen Schlussfolgerungen gekommen, hättest du dich mit einer der Frauen unterhalten, hättest du dich unter die turnenden Mädchen gemischt, hättest du an den kindlichen Körperuntersuchungen, an einer der vielen Einübungen ins Programm teilgenommen, an einer der großen Feiern. Hättest du dich verliebt, dich wie Nerval zwischen Sklavinnen entscheiden müssen.[6] Die Widersprüche hätten sich nicht übersehen lassen. Man kann Tausende von Stunden vor Monitoren sitzen. Aber eine fremde Welt vermag man doch nur dann zu verstehen, bewegt man sich in ihr, nimmt man Teil, fühlt man sie mit dem ganzen Körper, nimmt man ihre Gerüche war.“ „Mag sein. Aber das war nicht meine Aufgabe. Du kennst das Ende von Nerval. Er hat sich am Gitter eines Abflusskanals erhängt. Nein, das lohnte sich nicht.“
Hätte ich alles ganz anders gesehen, wäre ich in Begleitung von Neurath gewesen?
Glücklicherweise war ich allein.

Im Parlatorium drängte sich mir die Frage nach dem Gegenstück auf, also der Kloake, in der alles zum Verschwinden gebracht wurde, was mit dem Begehren zu tun hatte, war eine bedroht, ertappt zu werden: Liebesbriefe, goldene Ringe, verbotene Schriften, Bücher mit anatomischen Abbildungen der Geschlechtsteile, abgetriebene Früchte und erstickte Säuglinge. Eine gründliche Untersuchung der Latrine während eines inquisitorischen Verfahrens soll manches davon ans Tageslicht gebracht haben. Es trieb mich aus der Wunderkammer. Wozu auch hätte ich mir all das ansehen sollen? Eine Tür stand offen. Ich stieg einige Stufen empor und befand mich in einem langen Gang. Die in Rautenform gelegten Marmorplatten waren an manchen Stellen abgetreten, der Boden uneben. An den Wänden hingen Darstellungen von christlichen Märtyrerinnen. Solche Darstellungen haben mich noch nie berührt, gilt es doch nur, die Zeichen zu erkennen, den Turm, das Rad, das Schwert, den Kelch mit der Hostie, die beiden Augen oder die beiden Brüste auf einem Teller, von der Heiligen selbst vorgezeigt. Nie geht es um empfundenen Schmerz. Ich wüsste viele Fotografien von Frauen und Mädchen zu nennen, die so unerträglich sind, dass es mir schwerfällt, sie zu betrachten. Es muss nicht einmal Blut zu sehen sein, kein verletzter Körper. Es reicht schon eine widernatürliche Lage, es reichen Augen, die ins Leere starren, um die Gewalt zu sehen, die diesem Mädchen, jener Frau zugefügt wurde. Ich weiß, Bilder können täuschen. Was legt man nicht alles in Bilder hinein! Aber es finden sich zahllose Aufnahmen, die jede Täuschung ausschließen, mag einem das Vorkommnis auch völlig unbekannt sein, Aufnahmen, die all die Spielarten von Gewalt deklinieren. Warum hätten mich Darstellungen von Martyrien aus vergangenen Jahrhunderten berühren sollen? Aber dann geschah etwas höchst Merkwürdiges. Wo immer ich stand, stets waren all die Augen der Dargestellten auf mich gerichtet. Diese Augen wirkten lebendig. Ich musste an Porträts von Geweihten denken, die an den Wänden eines Korridors hingen, der zur Großen Kammer führte. Ganz gleich von welcher Stelle ich sie betrachtete, stets hatten sie ihre Augen auf mich gerichtet. In meiner Kindheit schienen mir diese Gesichter lebendig, und ich war mir sicher, sie würden es sehen, war ich laut, wo ich schweigen, war ich in Gedanken versunken, wo ich aufmerksam hätte sein müssen. Dabei verdankten sie sich einzig einer gekonnten Maltechnik. Da ich aber nun kein Kind mehr war, meinte ich, es müssten Glasaugen sein, die sich, von einem kleinen Motor betrieben, einmal in diese, dann in jene Richtung drehen. Es waren aber keine Glasaugen. Warum sollten Bilder nicht sehen können, warum sollte kein Leben in ihnen stecken? Nun ließe sich einwerfen, würde Leben in ihnen stecken, dann müssten sich die Dargestellten vor Schmerzen krümmen, sie müssten schreien, werden sie in siedendes Öl getaucht, wird ihnen die Haut vom Leib gerissen, werden sie gekreuzigt, werden ihnen die Augen ausgestochen oder die Brüste abgeschnitten. Die Zeit tilgt all die Schmerzen, was bleibt, das ist die Neugier, womöglich ein großes Befremden, sehen sie vor sich eine Wiedergängerin, auf deren Schicksal sie keinen Einfluss nehmen und mit der sie nie in Zwiesprache treten können.

Als ich im Kapitelsaal stand, also jenem Raum, in dem gemeinschaftliche Anliegen erörtert, Äbtissinnen und Novizenmeisterinnen gewählt wurden und der nun eine Versammlung mittelalterlicher Madonnen beherbergte, geschah etwas, was ich bislang in keinem Museum erlebt habe. Drehte ich mich kurz zur Seite, schloss ich nur einen Augenblick meine Augen, um dann wieder eine der Figuren zu betrachten, dann schien mir jeweils etwas verrückt, verändert worden zu sein, wenn auch nahezu unmerklich, sei es, dass eine der Madonnen nicht länger den Jesusknaben, sondern stattdessen mich anblickte, einer der Jesusknaben anders auf Marias Schoß saß. Sooft ich meine Augen schloss, um dann wieder hinzublicken, stets hatte sich etwas geändert, sei es der Ausdruck eines Gesichts, die Gestik einer Hand, der Blick oder auch die Körperhaltung. All die Bewegungen ließen mich an einen Filmstreifen denken, den irgendjemand, kaum hatte ich meine Augen geschlossen, um einige Bilder vorrückte, um ein neues Standbild zu zeigen. Dem war aber nicht so, konnte doch einer der Jesusknaben plötzlich statt einer Birne ein Feuerzeug in seiner Hand halten. Kurz zuvor hätte ich mir gerne eine Zigarette angesteckt. Solche Plastiken kannte ich aus früheren Museumsbesuchen. Aber hier fühlte ich mich nicht im Mittelalter. Ich befand mich in der Gegenwart, in meiner Gegenwart, mochten sich auch Bilder der Vergangenheit hineindrängen. Beinahe hätte ich mir selbst eine gewisse Überreizung unterstellt, wäre nicht einem der vielen Jesusknaben der hölzerne, mit Gold überzogene Apfel, den er nun seit neunhundert Jahren sicher in der Hand gehalten hatte, mit einem lauten Geräusch auf den Boden gefallen. Mag sein, dass nur ich all das sah und andere Besucher achtlos an all den Figuren vorbeigewandert wären.

Im Refektorium, hier waren Verkündigungsdarstellungen zu sehen, war nichts dergleichen zu beobachten, und doch hatte ich es mit einer alles andere als beliebigen Aneinanderreihung von Gemälden zu tun, waren doch nur Darstellungen zu sehen, in denen das Buch, die Festschreibung, von besonderer Bedeutung war. Üblicherweise findet das Buch nur als Beiwerk Beachtung, wie weiße Lilien oder anderes. Unter all den Darstellungen eine, die mich nur zu gut meine eigene Geschichte wissen ließ. Auf einem Lesepult das Buch. Die Fingerspitzen von Marias rechter Hand sind auf eine Zeile des aufgeschlagenen Buches gelegt. Ihre Augen sind nicht auf die Schrift gerichtet. Würde sie ins Buch blicken, dann wäre ihr Blick gefangen. So als wäre sie blind, tastet sie ab, was geschrieben steht. Ihr Blick ist geradeaus gerichtet. Dennoch sieht sie den Engel nicht, den Angel Boy[7], den Glanz, den sein Gesicht ausstrahlt. Bestenfalls nimmt sie ihn als Schatten wahr. Es ist, als sähe sie in weite Ferne, in eine andere Zeit, in der das Unmittelbare, das vor den Augen Liegende, keine Bedeutung kennt. Wie könnte es anders sein? Ist doch nichts unvorstellbarer als eine Begegnung mit dem Angel Boy, der von Unvorstellbarem kündet: Die geltende Ordnung sei außer Kraft gesetzt und es nehme seinen Ausgang in ihr. Ihre geöffnete linke Hand hält sie ihm entgegen, unbestimmt allerdings, abwehrend und doch empfangend. War es nicht auch bei mir so gewesen? Habe nicht auch ich meine Hand abwehrend vor mich gehalten, dann aber doch Bereitschaft bekundet? Es bedurfte keiner Stimme aus dem Off. Es hallte in mir: „... Du wirst empfangen ...“ – „Wie soll das möglich sein, da ich doch keinen Mann erkenne?“[8] Ich hörte den Zurüster beschwörend sagen: „Dich, Amata, ... du wirst empfangen ... ein Geisthauch gehe in dich ein ...“ Und ich hörte mich antworten, was im Gesang unterging und niemand sonst hören konnte: „Mir geschehe, wie du gesagt hast.“ Es waren Stimmen, die aus mir tönten, aus meiner Vergangenheit.

Das Museum der geschlechtlichen Frömmigkeit schien einzig für mich gemacht. Allein bewegte ich mich durch die Räume. Dessen wurde ich mir spätestens in jenem Augenblick bewusst, als ich den ehemaligen Kirchenraum betrat, in dem etwa bis Kniehöhe ein bläulicher Nebel einmal dahin, einmal dorthin wogte, als ich in mattem Licht den Mantel und den Altar erkannte. Vorne der Hochaltar mit geöffnetem und innen hell erleuchtetem, aber leerem Tabernakel. Der Altar und der Mantel standen sich exakt in der Mittelachse gegenüber und bildeten mit dem Tabernakel ein gleichschenkliges Dreieck. Die beiden führten in grotesker Weise all die Bewegungen aus, die mir nur zu vertraut waren, nur dass sie leer liefen, lag doch auf dem Altar kein Mädchen, das er herzeigen, dessen Schenkel er spreizen hätte können. Auch der Mantel war tätig, aber ganz gegen sein übliches Benehmen hatte er vergessen, seine Flügel zu schließen, mehr noch, wie unbefestigte Fensterläden im Wind schlugen sie bei jeder Bewegung einmal auf oder zu, gegeneinander. Erstmals vernahm ich die Maschinengeräusche der beiden, die ich in meinem früheren Leben nie wahrgenommen hatte, nicht wahrnehmen hätte können, wurden doch die Geräusche des Altars vom Gesang und vom Orchester übertönt und war im Raum, in dem sich der Mantel befand, das Rauschen von Wellen, die gegen Felsen schlagen, zu hören. Nun hörte ich ihr Surren, ihr Quietschen, als hätte man seit langem vergessen, ihre Gelenke zu ölen, und wurde mir ihrer ganzen Mechanik bewusst. Der Mantel wiederholte gleichbleibend nach längeren Pausen in derselben Stimmlage: „Wo ist dein rechtes Knie? Ich fühle nichts. Ich spüre keinen Nacken. Ich fühle keine Wärme, kein Geschlecht, in das ich mich schieben könnte ...“ Hinter dem Mantel türmte sich ein Berg aus bräunlichem, durchsichtigem Gewebe, das mich an getrocknete Kalbsdärme denken ließ. Offensichtlich hatte niemand an ein Absaugrohr gedacht. Ich wusste zwar, dass der Mantel nach jedem Gebrauch sein Inneres häutet, aber solche Häute hatte ich nie gesehen. Stets hatte ich nur ein kurzes Surren vernommen.

Beim Anblick des Mantels überkam mich beinahe Mitleid. Auch der Altar berührte mich, als ich ihn in seinen sinnlosen Bewegungen sah. Aber ich dachte mir, mögen die Bewegungen des Altars noch so kunstfertig sein, es steckt kein Leben in ihm. Alles Lebendige ist ihm fremd. Aber auch ich war eine Maschine, in vergleichbarer Weise programmiert. Konstante Innentemperatur. Flimmerhärchen treiben mit rhythmischen Bewegungen Eizellen durch die Fallopschen Röhren, an deren Ende sie in die Bruthöhle fallen. Dann der Befruchtungsregen. Ein Sprühnebel wie in Gewächshäusern. Schon bald tritt die Zeit der Ernte ein, der Ausspülung. Ich, eine Wirtsmaschine, einzig Geschlechtsapparat, die restlichen Organe, Arme, Beine, Kopf nichts als Anhängsel, nur dazu dienlich, diesen aufrechtzuerhalten, zu versorgen, zu durchbluten, mit Leben zu erfüllen. Herz, Lunge, Leber und Niere sind nötig, auch der Verdauungsapparat. Nicht zu vergessen Arme und Beine. Ein völlig schlaff daliegender Gebärmuttersack mit den beiden Eierstöcken wäre nicht sehr produktiv. Es ließen sich Apparate entwickeln, die ihn in ständiger Bewegung hielten, ihn wie einen bettlägerigen, an Dekubitusgeschwüren leidenden Kranken einmal dahin, dann dorthin drehten. Hühnerherzen lassen sich in Nährlösungen erstaunlich lange am Leben erhalten. So ein Herz schlägt und schlägt und schlägt. Aber ist es lebendig? Nein, ich denke nicht, mag das Herz auch schlagen und schlagen und schlagen und schlagen. Mit Hilfe von Maschinen lässt sich vieles simulieren, nicht aber das Lebendige. Wäre es möglich, es bräuchte keinen Park, keine herumlaufenden Mädchen, keine Mädchen, die grausame Spiele treiben. Ginge es nur um Biologie, dann ließen sich Eizellen ebenso von Hirntoten oder Mädchen in frühester Kindheit gewinnen. Wären das wirklich vitale Eizellen? Nein. Ihre Qualität bedarf auch eines tätigen Gehirns, eines Gehirns voller Widersprüche. All das ging mir durch den Kopf.

Und noch etwas fiel mir nun zum ersten Mal auf, das Rot des Altars. Im matten Licht, im blauwogenden Nebel, in dem der Altar zu versinken drohte, schien es noch mehr zu leuchten. Ich kenne kein vergleichbares Rot. Es war kein Zinnoberrot, kein Kirschrot, kein Chromrot, kein Indischrot, auch kein Sophienrot, nicht jenes der Malve, auch nicht jenes der Erdbeere. Vermutlich verdankt sich dieses Rot einer eigenen Auftragetechnik, transparenten Schichten verschiedener Rottöne. Mark Rothko hätte dieses Rot gefallen, gebrochen zwar, aber dennoch von großer Leuchtkraft. In diesem Rot fand sich das Rot des Blutes, schwerer Rotweine, schon ins Blaue färbend, das Rot der Kuckucksnelke, andere Rottöne. Farben sind schwer zu beschreiben.[9] Auch das Rot des Blutes kennt unterschiedliche Töne. Hell ist das Blut eines aus der Nase blutenden Kindes. Ein sehr helles Rot. Dagegen das dunkle Rot von Blutquargeln. Oder getrocknetes Blut, das sich ins Braune, ins Rostfarbene färbt.

Mittelalterliche Madonnen, die kleinste Bewegungen ausführen, hat man die Augen einen Augenblick geschlossen, Frauen, die gefoltert werden, aber all das, was ihnen angetan wird, nicht zu empfinden scheinen, die nur durch ihre Augen lebendig sind, durch Augen, die einem immer folgen, daran gewöhnt man sich rasch. Nach kürzester Zeit erkennt man gewisse Gesetzmäßigkeiten, mehr noch, diese werden zur Gewissheit, lassen sich, trotz aller Überraschungen, Muster vorhersagen. Die gemarterten Frauen mochten etwas mit mir zu tun haben, aber ich fand mich in ihnen nicht wirklich wieder. Nicht das Empfundene, die Metaphorik kann von Bedeutung sein. Das dachte ich mir angesichts einer Darstellung der Heiligen Margaretha, mag die Geschichte auch lachhaft sein. Von einem Drachen verschlungen, soll sie ein Kreuzeszeichen geschlagen haben. Das Ungeheuer zerbarst, so, als hätte man ein Ei aufgeschlagen. Wir Geweihten hätten uns Margaretha zur Patronin nehmen sollen.[10] Eine andere Zeit, andere Praktiken, andere Körperteile, das dachte ich mir, als ich vor einer Heiligen Agathe stand. Meine Brüste waren immer nebensächlich. Es hätte ihrer gar nicht bedurft, waren sie doch nur funktionsloser Teil meines Körpers. Erst später, in meinen Männerbegegnungen, waren sie von Bedeutung. Ganz anders als die vielen Darstellungen wiesen der Altar und der Mantel, so seltsam sie arrangiert waren und so absurd mir ihre Bewegungen, aus jedem Zusammenhang gerissen, erschienen, tief in meine Geschichte. Ich wollte diesem Raum entkommen.

Ich verließ die Kirche durch die Sakristei, in der, wie in einem Textilmuseum, sakrale Gewänder zu sehen waren, die ich nicht länger beachtete, obwohl sich unter ihnen Ornate fanden, die mir nur zu vertraut waren und sich durch ihren gleichbleibenden Schnitt wie ihre Ornamentierung von all den anderen Gewändern abhoben, die in unterschiedlichsten Kulturen im Laufe der Jahrhunderte für zeremonielle Anlässe gebräuchlich waren. Dem Göttlichen, dem Heiligen, dem Gesetz oder wie immer man es nennen mag, darf man sich nicht in alltäglicher Kleidung, schon gar nicht nackt nähern. Eine Schutzkleidung ist vonnöten. So verschieden Menschen sein mögen, so ist dies doch allen Kulturen eigen. So es das Göttliche gibt, sollte man sich ihm nackt nähern, bloß, ohne Schutzanzug, zurückgeworfen auf die eigene Verletzlichkeit. Ich verließ die Sakristei, wie ein Huhn, das körnerpickend seinen Weg sucht und keinen Gedanken daran verschwendet, die ausgestreuten Körner könnten es in guter (zurück in den sicheren Stall, da Füchse lauern) oder böser Absicht (es wird geschlachtet, wir drehen dir den Hals um) lenken. Körner waren nicht ausgestreut. Ich bin kein Huhn. Ich sähe die Körner gar nicht. Stattdessen auf dem Boden, dem von zahllosen Nonnen abgetretenen, glattgeschliffenen Boden, im Rautenmuster Lichtpfeile, die mir die Richtung wiesen. Ich schritt an einstigen Zellen entlang, deren Türen offenstanden und in denen auf Monitoren Filme flackerten, die Ethnologen, kaum gab es den Stummfilm, einst gedreht hatten. Mochten die Bewegungen auch abgehackt und wie im Zeitraffer wirken, so waren doch schon beim flüchtigen Hinsehen Initiationsriten zu erkennen. Ich wollte all das nicht sehen, nicht an die große Feier erinnert werden. Kurz blieb ich vor einer der Zellentüren stehen. Ein schönes junges Mädchen, mit zeremoniellem Schmuck herausgeputzt, wurde durch eine tanzende Menschenmenge gezerrt, die um ein Gestell, auf dem schwere Holzbalken ruhten, einen Kreis bildete. Es war mir, als hörte ich den Gesang der Masse, angepeitscht durch das Dröhnen von Schlitztrommeln und das Surren von Schwirrhölzern. Gewaltsam wurde das Mädchen unter dem Gestell auf den Boden geworfen, worauf sich der erste der Initianten auf das Mädchen stürzte und es vor aller Augen nahm. Ich konnte nicht länger hinsehen, wusste ich doch, was schon wenige Augenblicke später geschehen würde.[11] Nein, das wollte ich nicht sehen. Es wäre mir nur an einem Schnittpult erträglich gewesen, hätte ich die Möglichkeit gehabt, den Ablauf, das Schreckliche anzuhalten, Bild um Bild anzuschauen, immer wieder einige Sekunden zurückzuspulen, um einen Lidschlag, eine Handbewegung, eine unmerkliche Drehung eines Beines so lange zu betrachten, bis ich Gewissheit hätte. Wer immer sich einen Film ansieht, der sieht das Wesentliche nicht.

Ich folgte den Pfeilen. Plötzlich stand ich vor jenem Raum, in dem die Äbtissin vor langer Zeit das praktizierte, was in diesem Kloster unter leiblicher Kommunion verstanden wurde. Die Tür stand offen. Aus dem Raum war das Surren eines alten Filmprojektors zu hören. Das beruhigte mich etwas. Das erste Bild schien mir friedlich. Eine langsame Kamerabewegung, vor und zurück, vor und zurück, nahezu gleichbleibend, ein an einer Stelle abgetretener Grasboden, ein großer Ast einer Föhre, im Hintergrund andere Bäume, unscharf, das Blau des Himmels, dann wieder Gras, der nackte Grasboden, Gras, dunkles Astwerk, Gras, der nackte Grasboden ... Plötzlich sah ich mich, ich konnte mich erinnern, es war ein Sommertag, ich mochte etwa zehn Jahre alt gewesen sein, als ich mich an einem Trapez mit eingehakten Beinen endlos vor- und zurückschwingen ließ. Das Trapez war mit langen Seilen an einem Ast einer mächtigen Föhre befestigt. Ich trug eine kurze Hose und ein schmales Oberteil. Ich erinnerte mich, welche Lust mir ein solches Schweben damals bereitet hatte, wie es mir das Blut in den Kopf trieb, wie ich ganz in dieser Bewegung aufging. Hätte nicht eine der Mütter an jenem warmen Sommertag ein Auge auf mich gehabt und die Schaukel zum Stehen gebracht, mich in die Wirklichkeit zurückgeholt, ich wäre wohl irgendwann hart auf dem Boden aufgeschlagen. Dann sah ich mich in der Mitte eines Raumes stehen, sah die Große Mutter, die mich entkleidete, jedes der Kleidungsstücke geradezu unwillig auf den Boden warf, die Große Mutter, die mich auspackte, als sei ich ein Geschenk oder eine Ware, um sie herzuzeigen, sah mehrere Zurüster, unter ihnen ein Gehörnter, erinnerte mich an meine Angst, warum hätte ich mich nicht fürchten sollen, hatte ich doch nie zuvor einen Zurüster gesehen. Ich sah mein Haar zu Boden fallen, sah eine Badedienerin mich auf den Altar heben, mein Gesicht, ganz groß, von einer seltsamen Anspannung ergriffen, fühlte, wie ich mich durch die dunkle Röhre nach oben bewegte, sah von oben Licht einfallen ... Dann mein Gesicht in Großaufnahme. Plötzlich rutschte es nach unten, während sich mein Mund erstaunt öffnete. Über mir die Lichtkrake mit dem Lamellengitter, das Gesicht des Zurüsters, der sich über mich beugt. Ich spürte, so als geschähe es in diesem Augenblick, wie sich sein Körper gegen meine Schenkel presst und er in mich eindringt. Die Bilder liefen immer schneller. Ausschnitte meines früheren Lebens, mit meinen Augen, dann wieder ich mit den Augen anderer betrachtet, mit strengen Augen, mit Kameraaugen. Warum sollte im Augenblick des Todes das Leben wie ein Film vorbeiziehen? Und doch schien es mir, als spule es sich nun ab, wenn auch ganz wirr durcheinandergebracht. Ich verließ den Raum der Äbtissin rasch. Wieder wiesen mir Lichtpfeile den Weg. Der Gang war nun nur noch schwach beleuchtet, seine Wände kahl. Nicht ein einziges Gemälde. Meine Schritte hallten laut, so als würden sie all das Gesehene, all das, was aus mir schrie und doch schweigen musste, zum Ausdruck bringen. Schließlich fand ich mich vor einer Tür, neben der auf einer weißen Tafel zu lesen stand: „Bischof von Aleppo. Museumsdirektor.“


Anmerkungen
Handschriftliche Randnotizen, eingelegte Notizblätter sowie Anmerkungen des Herausgebers. Letztere sind in eckige Klammern gesetzt.

[1] [Anspielung auf Boris Pilnjaks Erzählung „Wie Erzählungen entstehen“.]

[2] [2. Könige 4.]

[3] [Überwurf über die Tunika der Ordenstracht.]

[4] [Bezieht sich auf das Kloster Sant’Ambrogio in Rom. Tatsächlich verdankte sich die hier beschriebene geschlechtliche Frömmigkeit niederen Triebregungen. Ein Inquisitionsverfahren kam zu ernüchternden Erkenntnissen. Statt Frömmigkeit Unzucht, statt Hingabe immer wieder Gewaltakte, Morde, Mordversuche, auch Abtreibungen. Statt wirklicher Zuneigung Missbrauchsgeschichten, in denen Äbtissinnen und Novizenmeisterinnen zu Gehorsam verpflichtete Untergebene zu sexuellen Handlungen nötigten und die Opfer in ihrem späteren Leben selbst zu Täterinnen wurden. Mit Hilfe von vorgetäuschten Visionen und fingierten Briefen der Gottesmutter wurden die Novizinnen manipuliert, sexuelle Handlungen als gottgewollt behauptet. Die Beschuldigten ließen nahezu alle Beweisstücke verschwinden, verbrannten die Himmelsbriefe oder warfen diese in die Latrine. Während der Befragung soll ihnen nach anfänglichem Leugnen, ausweichenden Antworten oder Schuldzuweisungen schließlich die Schamesröte ins Gesicht gestiegen sein. Am Ende waren alle geständig. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass alle Beschuldigten, gleichgültig welche Rolle sie gespielt hatten, in einem kindlichen Glauben gefangen waren, ihr Tun mit den Frömmigkeitsvorstellungen des neunzehnten Jahrhunderts verschmolz, zu deren Inventar Visionen, mystische Vermählungen oder auch die Marienverehrung zählten. Zweifellos glaubten auch jene an die Echtheit der Himmelsbriefe, die sie diktiert oder geschrieben hatten. Es bedurfte eines gewissenhaft durchgeführten Verfahrens, um sie wieder in die Wirklichkeit zurückzuholen. Die Hauptbeschuldigte des Prozesses, die Vikarin und Novizenmeisterin Maria Luisa, wurde in das Kloster della Purificazione überführt. Weitere Stationen: Die Kerker des Buon Pastore, das Gefängnis Casa della Penitenza alle Terme, das Ospizio dei Dementi, die römische Irrenanstalt. Schließlich verliert sich ihre Spur in der Gosse. Im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen mussten ihre Gebeine nicht, um einer falschen Heiligenverehrung vorzubeugen, ausgegraben und andernorts anonym bestattet werden. Vgl. Hubert Wolf, „Die Nonnen von Sant’Ambrogio“.]

[5] [Die Sozialwissenschaften kennen zahllose solcher Bemühungen. Man denke etwa die Winkelkamera des Verhaltensforschers Irenäus Eibl-Eibesfeldt oder Einwegscheiben, die einen Spiegel vortäuschen, tatsächlich aber der Beobachtung dienen.]

[6] [Gérard de Nerval, „Die Frauen von Kairo“.]

[7] [Anspielung auf eine mystische Erfahrung von Simone Weil in Solesmes.]

[8] [Lk 1,26-28.]

[9] „Wie definiert ein Chinese anhand eines Bildes, welches nicht mit roter Farbe gemalt ist, die Farbe ‚rot’? Er stellt folgende Bilder nebeneinander: ROSE – KIRSCHE, ROST – FLAMINGO.“ [Ezra Pound: „ABC des Lesens“.]

[10] [Gilt als Patronin der Schwangeren.]

[11] [... dass die Stützpfeiler des Gestells gekappt, die Baumstämme herunterstürzen und das Mädchen mit dem letzten der Initianten unter sich begraben werden. Das Ganze endet im gemeinschaftlichen Verzehr der beiden Opfer. Paul Wirz, „Die Marind-anim von Holländisch-Süd-Neu-Guinea“ (1922 – 1925).]