Kapitel 4

Feldnotiz 229 / Um mich abzulenken und auf andere Gedanken zu kommen, habe ich einen Spaziergang zum Golfplatz gemacht. Beobachtete das Treiben von einem Hügel aus. Das Gelände lässt an eine Naturlandschaft denken, dabei ist jede Erhebung, jede Mulde, jede Baumgruppe, jede Sandgrube, jeder Tümpel arrangiert. Eine künstlich geschaffene Landschaft. Geradezu tröstlich fand ich die verwelkten und abgefallenen Blätter, die der Wind vor sich her trieb. Aus der Distanz betrachtet, wirkten die Figuren, die sich über den Platz bewegten, als führten sie ein absurdes Theaterstück auf. Ein Golfplatz bietet die Möglichkeit, sich im Gehen zu unterhalten, ohne dabei von Dritten gestört zu werden, über Dinge zu sprechen, von denen andere nichts wissen sollen. Man gibt sich kollegial, auch unter Konkurrenten, bleibt unter sich und doch auf Distanz. Das weitläufige Gelände dient der Abkühlung. Musste an den lange zurückliegenden Schulunterricht denken, an das Boyle-Mariottsche Gesetz. Auf einem Golfplatz ließe es sich gut erklären. Keine andere Sportart käme der im Unternehmen herrschenden Geschäftigkeit mehr entgegen. Man tut nur so, als gäbe man sich dem Müßiggang hin. Tatsächlich wird gearbeitet. Es gilt, einen Ball mit so und so vielen Schlägen in ein Loch zu bugsieren. Während ich das Treiben unter mir betrachtete, musste ich an all die Löcher denken, in die ich im Monitorraum starre. Dort sollte ich Golf spielen, einen Bildschirm nach dem anderen mit dem Ball anvisieren. Bei der Wahl des Schlägers müsste ich mich wohl für einen Lob Wedge entscheiden, eignet er sich doch für sehr kurze, aber hohe Schläge.

Feldnotiz 234 / Habe M. noch immer nicht geschrieben. Fand mich morgens wieder allein im Bett liegend.

Feldnotiz 237 / Champell hielt mir einen Vortrag über die Geschichte der Reproduktionsmedizin. Aldous Huxley sei wie andere seiner Zeit von der Möglichkeit einer ektogenetischen Fortpflanzung überzeugt gewesen.[1] Die heutige Reproduktionsmedizin kenne dagegen weder Bruträume noch Fließbänder. Die Vorstellung, Kinder in der Retorte heranzuzüchten, habe sich entgegen aller Vorhersagen nicht behauptet: "Wie sollte es auch möglich sein, ein so komplexes Organ wie die Gebärmutter nachzubilden? Warum sollte dies ökonomisch sinnvoll sein, lassen sich doch in den untersten Schichten der Gesellschaft genügend Frauen finden, die gegen entsprechende Anreize diesbezügliche Funktionen übernehmen. Sie verdienen ihren Lebensunterhalt, indem sie ihren Körper zu Reproduktionszwecken zur Verfügung stellen. Neben einer genauen Auswahl ist einzig eine kurze Einschulung erforderlich. Es kommen nur Frauen in Frage, die jung und gesund sind, deren psychologische Testergebnisse neben der Bereitschaft, sich der nötigen Disziplin zu unterwerfen, vor allem erwarten lassen, das von ihnen ausgetragene Kind nicht emotional zu besetzen."
Ich fragte, ob sich das Austragen einer Schwangerschaft als Arbeit bezeichnen lasse: "Was wird bezahlt? Der Verschleiß des Körpers? Der Verzicht auf ein eigenes Kind? Sich vielfältigsten medizinischen Untersuchungen, auch schmerzhaften Eingriffen, unterziehen zu müssen? Dafür, zwar ein Kind geboren zu haben, dieses aber nicht das eigene nennen zu dürfen? Üblicherweise versteht man unter Arbeit zielgerichtetes Tun, eine Austragemutter hat dagegen vor allem zu unterlassen, passiv zu sein, an sich geschehen zu lassen."
"Was zählen solche Spitzfindigkeiten! Es wird kein Zwang ausgeübt."
"Wenn ich Sie richtig verstehe, dann können nur Menschen aus besseren Einkommensverhältnissen die Angebote Ihres Unternehmens in Anspruch nehmen."
"Eine Gesellschaft, die nach den Regeln des Marktes organisiert ist, kann nicht anders funktionieren. In jeder Gesellschaft finden sich Gewinner und Verlierer. Und die Verlierer werden nicht dadurch glücklich, lässt man ihnen all das zukommen, was ihnen im Verhältnis zu den Gewinnern fehlt. Man mag es bedauern, aber es wird immer Menschen geben, die am Rand leben, davon bedroht, ins Nichts zu fallen. Es ist ein Naturgesetz."
"Ein ökonomisches Gesetz."
"Die Marktwirtschaft ist Ausdruck von Naturgesetzen, die seit Millionen von Jahren gelten."
"Ist das nicht unmenschlich?"
"Gesellschaften bilden keine starren Systeme. Reiche können sich plötzlich auf der anderen Seite wiederfinden, Arme können Erfolg haben und aufsteigen. Ich möchte solche Diskussionen lieber Gesellschaftstheoretikern überlassen. Ich bin Biologe und kein Gerechtigkeitsapostel."
"Sie haben Kinder. Haben Sie diese selbst gezeugt?"
"Wo denken Sie hin! Wie könnte ich, der in unserem Unternehmen in verantwortlicher Position steht, meine Kinder selbst zeugen? Wie könnte ich der biologische Vater meiner Kinder sein! Weder meine Frau noch ich sind von schlechten Eltern. Aber wir wissen, dass es besseres Erbmaterial gibt. Ich muss nur an unsere Kinder denken, um zu wissen, dass das Unternehmen den richtigen Weg geht. Nur in den untersten Schichten der Gesellschaft finden sich noch Menschen, die dem alten Aberglauben anhängen, ein Kind müsse vom eigenen Blut sein."
"Hat Ihre Frau die Kinder ausgetragen?"
"Natürlich nicht. Heute hat es keine Mutter, die in gesicherten finanziellen Verhältnissen lebt, mehr notwendig, ihre Kinder selbst zu gebären. In früheren Zeiten wurde schwangeren Frauen eine besondere Beachtung geschenkt. Sie strahlten etwas Auratisches aus, will man der Kunstgeschichte glauben. Für mich völlig unverständlich. Moderne Eltern wählen aus. Es geht ihnen nicht um das Körpergeschehen, sondern um die bestmögliche Kontrolle biologischer Vorgänge, letztlich um Wettbewerbsvorteile. Genau das bieten wir unseren Kunden und Kundinnen an. Sie sollten einmal eine unserer Entbindungsstationen besuchen, sehen, wie ein neugeborenes Kind von seinen Eltern in Empfang genommen wird. Denken Sie doch an frühere Zeiten: Damals waren Kinder Produkte eines Zufalls, einer Laune der Natur, oft genug unbeherrschter Triebregungen, unter denen vor allem Frauen zu leiden hatten. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit sind Kinder tatsächlich Ergebnis eines Wunsches."

Feldnotiz 239 / Wie in jeder anderen Stadt gibt es auch hier eine öffentliche Bibliothek, was umso erstaunlicher ist, als nur die wenigsten derer, die hier leben, Zeit haben dürften, ein Buch zu lesen. Zwischen den Regalen fanden sich denn auch nur einige Frauen. Lieh mir Hitchcocks "Psycho" aus. Norman Bates beobachtet durch ein Loch in der Wand Marion Crane, die sich vor der offenstehenden Badezimmertür Rock und Bluse abstreift. Er kann nicht sehen, was die Frau im Nebenraum beschäftigt, ihre Geschichte liegt außerhalb seines Blickfeldes. Er sieht das Geld nicht, das es ihm ermöglichen würde, ein neues Leben zu beginnen. Er bleibt in seinem präformierten Blick, in seinem Programm gefangen. Das Guckloch taucht in mehreren Einstellungen auf, in der Klomuschel, in der Marion Crane ein zerrissenes Blatt hinunterspült, im dunklen Abflussloch der Badewanne, in dem ihr mit Wasser vermischtes Blut in einer Spiralbewegung verschwindet, schließlich im starren Auge des Opfers, in dem sich Norman Bates' Blick wiederholt. Das Auge und die Spirale. Madeleines Haarknoten. Soll ich Norman Bates oder Marion Crane spielen? Für welche Seite des Gucklochs soll ich mich entscheiden? Nein, ich will weder mit der einen noch mit der anderen Geschichte etwas zu tun haben. Madeleine? Auch nicht.[2]

Feldnotiz 242 / Es ödet mich an, Mädchen zu betrachten, die sich irgendwelchen Spielen oder Körperübungen hingeben. Seit Tagen suche ich nach Bildern, die etwas anderes zeigen. Irgendeine Unordnung, eine Störung. Nichts dergleichen. Stattdessen eine groteske Parkidylle. Seltsam gekleidete Mädchen, die nicht weniger seltsame Spiele treiben und älter werden. Na und?

Feldnotiz 247 / Die Bildregie setzt mir diese oder jene Bilder vor. Manchmal tauchen weitere Räume oder Bilder dann auf, wenn ich kein Interesse mehr zeige, in meinem Stuhl döse oder mich in ein Buch vertiefe. In der Regel werde ich durch den mitgelieferten Ton aus meiner Abwesenheit gerissen. Aber kaum blicke ich auf die Monitorwand, fällt der Ton schon wieder aus.

Feldnotiz 253 / Ich habe mir, um mich abzulenken, einen Putter[3] gekauft, auch einen Golfball. Was auf den Bildschirmen zu sehen ist, interessiert mich nicht. Ich lege ein weißes Blatt auf den Boden und versuche aus einiger Entfernung, den Ball über den Spannteppich auf das Blatt zu bugsieren. Es gelingt mir fast nie. Dabei ist der Spannteppich grün, wie auch seine Faserung an einen Rasen denken lässt. Meist rollt der Ball über das Blatt hinweg. Manchmal bleibt er knapp davor liegen. Während ich mir solcherart die Zeit vertrieb, kam Champell zur Tür herein. Er tat so, als sei es das Normalste auf der Welt, in einem Monitorraum Golf zu spielen. "Lassen Sie sich nur nicht stören", meinte er. Ich ließ mich nicht stören, was mich zugegebenermaßen einige Anstrengung kostete. Er hielt mir einen Vortrag über Initiationsriten. Mir! Er scheint sich eingehend damit beschäftigt zu haben. Einmal prallte der Ball, ich muss wohl etwas zu heftig geschlagen haben, von einer Bodenleiste ab und kam unter dem Schreibtisch zu liegen. Als ich unter den Tisch kroch, kam ich auf Gewalt- und Angsterfahrungen zu sprechen, die oft genug mit Initiationsriten einhergingen. Champell unterbrach meine Ausführungen, er hatte es offenbar eilig, meinte nur, auch die Mädchen würden initiiert, rituell in das Programm eingeführt. Das diene der Sinnstiftung. Ihre Einführung fände anlässlich der ersten Befruchtung statt. Der Ritus werde in der Großen Kammer vollzogen, unter den Augen all der Mädchen und Frauen, die im Park lebten. Die Initiantinnen würden mit kostbaren Ölen gesalbt, mit einem Ornat bekleidet. Ich warf ein, das ließe mich an die Priesterweihe denken.
Champell: "Auch wir glauben an das Göttliche, an eine göttliche Ordnung, nur dass wir diese in den Keimzellen sehen. Wir glauben an das Opfer, selbst an Sünde. Ist es denn nicht Sünde, krankhafte Eigenschaften weiterzugeben, eine Sünde den so entstandenen Geschöpfen und kommenden Generationen gegenüber?
" "Reproduktionsmediziner als Priester?"
"Wir sind nüchtern genug, um zu wissen, dass Gesten Bedeutung besitzen."
"Unbefleckte Empfängnis, und zwar seriell."
"Wir glauben nicht an Mystik. Wir denken an technologische und organisatorische Möglichkeiten."
"Verwenden die Gynäkologen während der rituellen Befruchtung Einmalhandschuhe?"
"Das Göttliche darf nicht von menschlichen Händen berührt werden. Selbst Usa, der nach der Bundeslade griff, als sie vom Wagen zu fallen drohte, wurde von Gottes Zorn getroffen."[4] "Was geschieht, ist die Befruchtung vollzogen, das Ritual beendet?"
"Wie in alten Theatern versinkt der Stuhl und mit ihm die Initiantin im Boden. Es bleibt eine Leerstelle. Eine feierliche Ruhe tritt ein."
"Und im Kellergeschoß?"
"Helfer stehen bereit, um die Initiierte in ein Bad zu führen."

Feldnotiz 258 / Die Bilder, die ich sehe, sind alles andere als zufällig. Als ich mich mit Champell letzthin über Initiationsriten unterhielt, konnte ich am folgenden Tag zumindest einen Vorspann der Aufführung sehen, die er die "große Feier" nennt. In einem nüchternen, hell erleuchteten Raum waren einige Frauen, sie trugen ganz übliche weiße Arbeitskleidung, wie wir sie von Mitarbeiterinnen in Badeanstalten kennen, damit beschäftigt, ein nacktes Mädchen im Alter von etwa dreizehn Jahren mit Tüchern trocken zu reiben. Offensichtlich war das Mädchen eben aus der im Hintergrund sichtbaren Badewanne gestiegen. Die Bewegungen der Frauen, es wurde kaum gesprochen, schienen völlig routiniert und hätten genauso gut an einem anderen Ort, in einem anderen Kontext, so geschehen können, sieht man einmal von der Passivität des Mädchens ab. Es trocknete sich nicht selbst ab, es wurde abgetrocknet, es rieb sich nicht selbst mit Ölen ein, es wurde von flinken Händen eingerieben, es kleidete sich nicht selbst an, es wurde eingekleidet. Ein weißes, nicht allzu langes Tuch aus Seide wurde um seine Hüfte geschlagen und mit Hilfe von zwei Bändern verschnürt. Dann wurde dem Mädchen ein kurzes weißes, nicht eng anliegendes Hemd, dessen Ärmel über die Handgelenke reichten, übergestreift. Es folgte ein weiteres ebenfalls weißes, nun ärmelloses, vorne offenes Unterkleid, das bis zu den Knöcheln reichte, aber nur im Brustbereich mit wenigen Knöpfen verschlossen wurde. Ein breites rotes Band, unter den Brustansätzen um den Körper gelegt, gab dem Ganzen den nötigen Halt. Eine Friseuse brachte rasch die Haare des Mädchens in Ordnung. Schließlich wurde ihm ein schwerer, blauer, mit Goldfäden reich bestickter blauer Umhang aus Samt umgelegt, der bis zum Boden reichte und dessen weite Ärmel die Hände fast zum Verschwinden brachten. Wie das Unterkleid war auch dieses Kleidungsstück vorne offen und nur bis zur Bauchnabelgegend durch Bänder zusammengehalten. Zwei der Damen fassten das Mädchen an Kniekehlen und Schultern und hoben es auf das bereits erwähnte thronartige Gebilde, auf dem es mit seinen hochgelagerten Beinen eine mehr liegende als sitzende Stellung einnahm, zupften und strichen das Prachtgewand zurecht, legten da und dort eine Falte, wobei der schwere Stoff auf den Innenseiten der Schenkel bis zum Boden fiel und sich das weiße Unterkleid an keiner Stelle zeigte. Musste an das Garnieren eines Festtagsbratens vor dem Auftragen denken. Nein, einer Kelle bedurfte es nicht, um das Mädchen mit einer Sauce zu begießen, aber es ging um Fleisch. Hier wurde mir ein Blick auf die Hinterbühne gewährt, der mich ahnen lässt, wie sehr die zeremonielle Behauptung im Gegensatz zur alltäglichen Banalität und Pragmatik steht. Noch ehe ich verfolgen konnte, was dann weiter geschah, waren nur noch spielende Mädchen zu sehen, die sich unzweifelhaft einem Datenträger verdankten, war es doch, was ich durch einen Blick auf meine Uhr feststellen konnte, draußen bereits dunkel geworden, während die Mädchen auf den Monitoren in grellem Sonnenlicht oder im Schatten von Bäumen umherliefen. Auf einem der Monitore war dann doch noch etwas zu sehen, nämlich der von mir längst vermutete Orchestergraben, Mädchen beim Stimmen ihrer Instrumente.

Feldnotiz 263 / Im Traum sah ich mich in die Masturbationsmaschine steigen. Ich nahm Platz wie auf einem Zahnarztstuhl. Die beiden Flügel schlossen sich, ohne dass es eines Knopfdruckes bedurft hätte, so wie ich es oft beobachtet hatte. Statt mich sanft zu tragen und zu wiegen, schnürte mir die Maschine die Luft ab, presste mich zusammen. Zweifellos wäre ich erstickt, wenn ich nicht aus dem Schlaf aufgeschreckt wäre.[5]

Feldnotiz 269 / Habe ich einen klaren Kopf, dann nehme ich mir vor, nichts anderes zu tun, als mein eigenes Verhalten zu untersuchen, mein zunehmend merkwürdigeres Verhalten. Vielleicht die einzige Möglichkeit, das zu unterlaufen, was mit mir beabsichtigt ist. Ich will mir selbst Versuchsperson sein. Ich muss diesen ganzen Mädchenkram vergessen. Was ich sehe, ist alles andere als wirklich. Manchmal frage ich mich, ob ich nicht Opfer einer großangelegten Täuschung bin. Vielleicht gibt es all diese Mädchen nicht, vielleicht verdanken sich ihre Körper, ihre Stimmen, ihre Bewegungen einzig einem Rechner. Die Ebenmäßigkeit ihrer makellosen Körper lässt diesen Verdacht aufkommen. Muss noch einmal "Morels Erfindung" lesen. Tea for two.[6] Dabei nahm ich mir in den letzten Tagen vor, mich mit dem Rohen, dem Gekochten und dem Verfaulten zu beschäftigen. Aber wie sollte das möglich sein, ist man von der Sprache ausgeschlossen! Zeichensysteme von Gespenstern entziehen sich jeder Deutung. Wie sollte es möglich sein, Gegensatzpaare zu untersuchen, ist die Wirklichkeit, so es sie überhaupt gibt, stets nur in Ausschnitten zu sehen. Wo wird das Gemüse angebaut? Ich weiß es nicht. Wird überhaupt Gemüse angebaut? Wo werden die Toten bestattet? Ich wüsste nur zu gern, wie die Mädchen, an solchen mangelt es nicht, in den Park gelangen. Besatzmaßnahmen. Vergleichbar mit dem Aussetzen von Fischen in Flüssen.

Feldnotiz 273 / Das Entscheidende liegt stets außerhalb des Bildrandes.

Feldnotiz 276 / Habe versucht, all die Räume aufzulisten, in die ich Einblick habe. Die meisten von ihnen lassen sich eindeutig dem Park oder dem Garten zuordnen. Nur jener Raum, in dem die seltsamen Feiern stattfinden, wird von den heranwachsenden Mädchen und von den jungen Frauen, die im Programm sind, also im Garten leben, gemeinschaftlich genutzt. Es sind weitere Überschneidungen anzunehmen. Die Masturbationsmaschine ist klar dem Garten zuzuordnen. Aber warum sollte es solche Apparate nicht auch in den Kellergeschoßen der Pavillons geben, werden die Mädchen doch von älteren Damen beaufsichtigt. Der Garten dient der Produktion hochwertiger Embryonen. Aber von all dem sehe ich nichts. Die jungen Frauen, die im Programm sind, haben sich zweifellos zahllosen Untersuchungen und Eingriffen zu unterziehen. So als gäbe es keine Medizin, als würden Embryonen gleichsam im Grünen wachsen und bräuchten nur geerntet zu werden (sie werden tatsächlich geerntet, aber anders), ist mir diesbezüglich bislang noch kein einziges Bild untergekommen. Nicht einen einzigen weißen Kittel habe ich gesehen, nicht eine einzige Medikamentenschachtel, keine Nierenschale, kein sterilisiertes Instrument, keinen einzigen Einmalhandschuh, geschweige denn eine Untersuchung oder einen Eingriff. Im Garten kann ich die jungen Frauen bei Spaziergängen auf mit Kies bestreuten Wegen, die von streng geschnittenen Hecken gesäumt sind (noch vor nicht allzu langer Zeit militärisches Sperrgebiet!), beobachten. Für eine historische Gartenanlage fällt der darin befindliche nierenförmige Pool doch etwas aus dem Rahmen. Würde ich den mir vorgesetzten Bildern Glauben schenken, dann gäben sich die jungen Frauen den ganzen Tag dem Müßiggang hin. Wie Echsen lägen sie in der Sonne, um dann und wann im Pool einige Schwimmzüge zu machen. Aber da es sich um junge Frauen und nicht um Echsen aus ferner Urzeit handelt, verbrächten sie die restliche Zeit mit Lesen oder Ballspielen. Aus einem der offen stehenden Fenster wäre Klavierspiel zu hören: Bach, Satie, Matthias Hauer. Ich muss mir vieles hinzudenken: zahllose Untersuchungen, Belehrungen, Zurechtweisungen, Terminpläne, operative Eingriffe, Alpträume und anderes.

Feldnotiz 278 / Wie man sich durch Bilder täuschen lässt: Beim Betrachten des sonnenbeschienenen blauen Pools drängten sich mir sommerliche Bilder auf, mochte er noch so verwaist daliegen. Dachte an Wärme, Hitze. Tatsächlich ist es Spätherbst, viel zu kalt, um im Freien zu baden. Aber das spüre ich in diesem Raum nicht.

Feldnotiz 281 / Die jungen Frauen aus dem Garten lassen sich manchmal auch im Park blicken. Sie scheinen sich um einzelne Mädchen zu kümmern. Als was werden sie von diesen wahrgenommen? Für erzieherische Aufgaben scheinen sie nicht zuständig. Ganz gleich, ob es sich um Unterricht, Übungen, das Essen oder um das Schlafengehen handelt, all das fällt in die Zuständigkeit älterer Damen. Aber was heißt hier schon älter? Die meisten von ihnen dürften das dreißigste Lebensjahr gerade erst überschritten haben.

Feldnotiz 285 / Einer der jungen Frauen habe ich den Namen Isolde gegeben. Isolde, ja, so will ich sie nennen, fiel mir durch ihr Verhalten auf. Sie scheint sich von den anderen abzusondern, sich in Lektüre zu flüchten (nicht anders, als ich es mache). Immer wieder sehe ich sie in ein Buch vertieft auf einem Bett liegen. In Gedanken spiele ich den Tristan. Sehr bedauerlich, werde ich doch mit diesem Mädchen nie das Bett teilen, nie meinen Kopf auf Isoldes Bauch legen können. Es wird nie nötig sein, mein Schwert (ich besitze keines) zwischen uns zu legen.[7] Das Schwert findet sich in der Monitorwand. Lieber selbst besessen sein als Besessene beobachten, nur nicht die unmenschliche Haltung eines Beobachters einnehmen: "Zum Teufel mit der Ethnographie!"[8]

Feldnotiz 287 / Eine Unterhaltung mit Champell ist allein deshalb schwierig, weil er, technisch aufgerüstet, sein Büro immer mit sich trägt, im rechten Ohr, im linken Brillenglas. Er ist anwesend und abwesend zugleich. Nur manchmal nimmt er seine Brille ab. Mag er auch so tun, als würde er sich nur mit mir unterhalten, ich sehe es an der Mimik seines Gesichtes, an kleinen Zuckungen, daran, wie es manchmal geradezu maskenhaft erstarrt, um sich dann für einen Augenblick erleichtert aufzuhellen, dass er doch stets mit anderem beschäftigt ist.

Feldnotiz 289 / In einer der Nebenstraßen entdeckte ich ein Antiquariat. Keine Billigware. Alles bestens sortiert, darunter bemerkenswerte Druckgraphiken, vor allem japanische Holzschnitte. Das Unternehmen weiß Mitarbeiter, Kunden oder Geschäftspartner mit kleinen Kostbarkeiten zu überraschen. Kaufte mir ein Buch aus dem Jahr 1900, eine kluge Studie zur Prostitution im Japan der damaligen Zeit.[9] In Yoshiwara, dem durch einen breiten Wassergraben ("im Sommer von Stechginster und Lotosblumen bedeckt") und einen Zaun aus Bambusstangen abgegrenzten Bordellviertel Tokios, lebten damals mehr als fünfzehntausend Menschen, Bordellwirte, Dirnen, Tänzerinnen, Diener, Beamte, Händler, Nachtwächter, Feuerwächter, Türhüter usw. Allein der Umstand, dass auf jede Kurtisane etwa vierzehn Menschen in unterschiedlichster Stellung und Funktion kamen, macht deutlich, dass sich Yoshiwara dem europäischen Besucher als ein komplexes soziales Gebilde darbot, dessen Strukturen das Leben im Inneren wie nach außen regelten. Der Park in seiner Eigenart lässt in vielem an Yoshiwara denken. Mögen die Mädchen auch nicht hinter Gittern zur Schau gestellt und feilgeboten werden, zweifellos finden sich auch hier Freier.

Feldnotiz 295 / Die Monitorwand behauptet: Essen ist einfach vorhanden.

Feldnotiz 296 / Der Garten ist vom Park weder durch einen Zaun noch durch eine Mauer abgegrenzt. Das ließ sich vom Hügel aus deutlich erkennen. Und doch scheint dieser Bereich den Mädchen des Parks verschlossen.

Feldnotiz 300 / Immer wieder suche ich auf den Bildschirmen die Masturbationsmaschine. Ein Klappmechanismus, in den sich nackte junge Frauen einfügen. Ich muss an Blüten denken, die man, um sie zu pressen, zwischen zwei Seiten eines Buches legt. Was im Inneren des Apparates geschieht, ist mir unbekannt. Aber zweifellos dient er der Befriedigung sexueller Bedürfnisse. Plötzlich empfand ich selbst eine sexuelle Erregung. Ich hätte meinen Gürtel geöffnet, hätte ich nicht an die auf mich gerichteten Kameraaugen gedacht.

Feldnotiz 302 / Ein Wintergarten. Auf Liegestühlen zwei der jungen Frauen. Ihre Augen sind geschlossen. Sie tragen keinen Bikini. Wozu auch? Ihre Körper sind ihnen vertraut. Dennoch wirken sie, als würden sie Kleidungsstücke tragen.

Feldnotiz 305 / Der erste Schnee. Machte einen Spaziergang. Der Wind blies mir Schneeflocken ins Gesicht. Schnee! Schnee! Es lässt sich doch nicht alles beherrschen. Mich überkam ein Glücksgefühl.

Feldnotiz 307 / Sich nach leiblicher Gemeinschaft sehnen (bei mir im Augenblick sehr ausgeprägt). So dies nicht möglich ist, zumindest andere in leiblicher Gemeinschaft betrachten, so wie die Königin, die sich von einer ihrer Hofdamen bereden ließ, ein Loch in die Wand zu bohren, um zu sehen, was ihr Mann, der König, mit seiner Mätresse treibe. Und was sah sie? Sie sah die Nebenbuhlerin einmal nackt, dann wieder mit einem Hemd bekleidet. Neid überkam sie, als sie den schönen Körper und seine glatte, weiße Haut betrachtete. Sie sah auch, wie sich die beiden liebkosten und dabei allerlei Unfug trieben, sei es im Bett oder auf einem Teppich. Und obwohl sie darüber in eine große Traurigkeit verfiel, konnte sie dennoch nicht davon ablassen, auch weiterhin durch das Loch in der Wand zu starren.[10] Meine Situation in diesem Raum hier ist damit nicht vergleichbar. Ich habe keinen Grund zur Eifersucht. Mit keinem Mädchen, mit keiner Frau, die ich betrachte, habe ich zu tun. Sie sind für mich nichts als Schatten. Und dann bin vor allem ich es, der beobachtet wird.

Feldnotiz 309 / Das Leben im Park geht seinen gleichförmigen Gang. Mädchen spielen, sie werden unterrichtet, um kaum, haben sie die Geschlechtsreife erreicht, in den Garten zu wechseln. Ein stabiles System also. Auch Yoshiwara bildete über Jahrhunderte hinweg, trotz aller Wirren und Feuersbrünste, ein stabiles System; erstaunlich angesichts des Umstands, dass es auf absoluter Ausbeutung beruhte, noch erstaunlicher, dass es letztlich von den Sklavinnen aufrechterhalten wurde. Sie richteten kleinere und größere Mädchen darauf ab, das zu ertragen, was zu ertragen ihnen selbst oft wohl schwergefallen sein muss.

Feldnotiz 312 / Ich muss versuchen, meine freiwillige Gefangenschaft zu akzeptieren. Das Beste daraus machen. Seit Monaten sitze ich nun täglich in diesem Monitorraum, zumeist allein. Menschen, die vor Überwachungskameras sitzen, betrachten den öffentlichen Raum, Straßen, U-Bahnen oder städtische Parkanlagen als Gefängnisse, als Käfige ohne Gitterstäbe. Wenn mich etwas an ein Gefängnis denken lässt, dann dieser Raum, in dem ich selbst sitze. Zweifellos sind mehrere Kameras auf mich gerichtet. Muss mich also beherrschen. Selbstgespräche darf ich auf keinen Fall führen. Einzig mein Notizblock scheint mir sicher, meine krakelige Schrift, die zu entziffern ich oft selbst Mühe habe. Letzte Nacht träumte mir, man habe mich in Festungshaft genommen und allein in eine Zelle gesperrt, in einen großen düsteren Raum, über mir ein drückendes Tonnengewölbe. Nur durch eine kleine Oberlichte fiel etwas Licht. Ein einfaches Bett, das einzige Möbelstück. Ein Telefon. Es war mir erlaubt, jederzeit den Minister anzurufen, den Minister für Innere Sicherheit, zuständig für dieses Gefängnis. Aber wann immer ich anrief, meldete sich dieselbe Stimme, die mir höflich, im Tonfall gleichbleibend, mitteilte, der Herr Minister sei im Augenblick leider nicht erreichbar. War ich tatsächlich mit dem Büro des Ministers verbunden? Die Stimme, die sich als die seines Sekretärs ausgab, hätte genauso gut die eines Gefangenen sein können, vielleicht nur durch eine Zellenwand von mir getrennt. Und wäre es so, wie lange würde es dauern, bis ich dessen Rolle übernähme?

Feldnotiz 314 / Betrachte ich die Monitorwand mit fast geschlossenen Lidern, dann verschwimmt sie zu einer Gitterstruktur. Dachte an die Käfige von Yoshiwara, an eine deutsche Dichterin, die schrieb, die Gitter von Yoshiwara, durch die Blütenschnee wehe und "wie Wellenschaum die Füße der Courtisanen umspüle", bildeten keinen Käfig, sondern dienten einzig dem "Schutz zarter Frauen".[11] In einem anderen Buch der damaligen Zeit ist zu lesen, in Yoshiwara säßen, vom Publikum durch schmale Gitterstäbe getrennt, "die zierlichsten japanischen Frauen in prächtigen farbengesättigten Kimonos, das Haar sorgfältig frisiert. Zu fünfzehn bis dreißig hocken sie in ihren goldenen Käfigen regungslos auf dem teppichbedeckten Boden. Nichts Obszönes beleidigt den Blick, nichts belästigt den staunenden Fremden, den häufig ein lächelndes Kopfnicken, ein freundliches Zuwinken der schmalen Hand begrüßt. Doch auch keine Frauenehre wird hier in gemeiner Hässlichkeit beschmutzt."[12] Der ganze Pomp konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass all die Frauen systematischer Gewalt ausgeliefert waren. Wies eine Dirne aus Ekel einen Freier ab, dann war sie reif für eine Tracht Prügel. Jede Frau, die in den Käfigen von Yoshiwara zu sehen war, wurde als Leibeigene betrachtet und als solche behandelt. Schläge mit Bambusknüppeln, wenn nicht schrecklichere Misshandlungen, waren an der Tagesordnung, und sei es nur, um den Willen eines Mädchens zu brechen. Einmal in den Käfigen von Yoshiwara, gab es kein Entrinnen mehr. Mochte es auch Dienstverträge geben, so hatte doch jede der Frauen Schulden abzutragen, die sie nicht selbst auf sich geladen hatte, angefangen von der Abtretungssumme, die dem Vater entrichtet wurde, über Kosten für Reise und Kleidung, Kosten, die jene in Rechnung stellten, die Kupplerdienste erledigten, Kosten ihrer Erziehung, bis hin zu all jenen Kosten, die durch Verpflegung und Unterbringung anfielen. Wurde eine Frau krank oder blieb sie eine Nacht ohne Freier, wurde ihr eigener Preis als Minus auf ihrem Konto verbucht. Der Patron hatte, sieht man von der Ablösesumme ab, nur für Unterkunft und Verpflegung aufzukommen. Ausgaben, die dazu dienten, den eigenen Marktwert zu behaupten, hatten die Kurtisanen selbst zu tragen. Die Buchführung oblag dem Patron und der Yarite, der Wirtschafterin, die es zu richten wussten, dass das Darlehen, das Nenki, erst dann getilgt war, wenn aus einer Dirne nichts mehr herauszupressen, wenn sie verbraucht war, sich Falten oder Tränensäcke nicht länger unter einer dicken Schicht Schminke verbergen ließen, Krankheiten sie zugrunde gerichtet hatten, spätestens im sechsundzwanzigsten Lebensjahr. Versuchte eine von ihnen auszureißen, so wurde sie, da ihr die Außenwelt fremd war, rasch ausfindig gemacht und dem Bordellwirt ausgeliefert. Neben körperlichen Züchtigungen, die sie über sich ergehen lassen musste, wurden ihr Geldbußen auferlegt, die ihre Abhängigkeit wiederum vergrößerten. Musste an den Park denken, an die Nutzungsdauer, die bestenfalls zehn Jahre beträgt, ähnlich wie in Yoshiwara. Gibt es Fluchtversuche?

Feldnotiz 316 / Die meisten der jungen Frauen tragen an Armbeugen oder anderen Stellen Heftpflaster.

Feldnotiz 318 / Schneefall. Eisiger Wind. Machte einen langen Spaziergang über verschneite Rinderweiden, die an den Golfplatz anschließen. Stellte mir vor, bei heftigem Schneefall in einem der Käfige von Yoshiwara zu sitzen, auch, wie es wäre, mich im Schneetreiben zu verirren und zu erfrieren.

Feldnotiz 319 / Wie nahmen die Dirnen in Yoshiwara durch die Bambusgitter die Kunden wahr, wie die Männer die Frauen, aufgelöst in Quadrate und Rechtecke. Gerasterte Wirklichkeit, die sich bis in kleinste Pixel fortsetzen ließe. Ein Richtscheit, um die Wirklichkeit exakt abzubilden, kannten weder die einen noch die anderen. Musste an Dürer denken.[13] Auch ich sitze vor einem Fadengitter, auch mir fehlt ein Richtscheit. Alles gerinnt zu einer Fläche, zu einer Summe von Einzelteilen, von denen viele fehlen.

Feldnotiz 321 / Endlich das erste abweichende Bild. Die Masturbationsmaschine hatte eben eine der jungen Frauen freigegeben. Wie gewohnt ging sie zur Dusche. In diesem Augenblick betrat eine andere den Raum, aber statt sich in den Apparat zu setzen, stellte auch sie sich, kaum hatte sie sich ausgezogen, ebenfalls unter die Dusche, umarmte die andere, wurde von dieser umarmt, liebkost. Zärtliche, lustvolle Gesten. Es war mir peinlich, den beiden zuzusehen. Ich ließ das Bild in sich zusammenfallen.

Feldnotiz 322 / Über den Autor der Yoshiwara-Studie konnte ich nichts in Erfahrung bringen. Zweifellos muss er die Bordelle von Yoshiwara von innen gekannt haben, genau genommen die Teehäuser, gab er sich doch mit billigen Dirnen nicht ab. Zu genau beschreibt er manche Details. Ich hätte nur zu gerne etwas über die geschlechtliche Begegnung erfahren. Statt dessen eine große Leerstelle: "Graziös kommt sie näher, wirft sich zu Boden und verfertigt dann ein sehr gutes Gemisch von Mandeln und Früchten, von dem sie mir anbietet, reicht mir eine zwischen ihren Lippen angezündete Zigarette und richtet mit umständlicher Sorgfalt meine Kopfunterlage her. ... Eine Stunde später eilt sie, nachdem sie viele kleine Blättchen des besonderen Papiers benutzt hat, das sie in ihrem Gürtel oder zwischen den Zähnen trug, in ein großes Bad." Und dann findet sich doch ein Hinweis. Diese Frauen, die immer lächelten, wie Samurais im Theater, bevor sie Harakiri begingen, würden nur dann ärgerlich, drohe der Gast "in brutaler Rohheit" ihre Frisur, aufgesteckt mit Hilfe von zahllosen Kämmen und Nadeln, in Unordnung zu bringen. Eine solche Haartracht erlaubte nur gewisse Stellungen, wobei bestimmte Berührungen und Küsse ohnehin einem Sakrileg gleichkamen. Ach, mein Haar könnte in Unordnung geraten, die mühsam aufgetragene Schminke verschmieren! Auch blieben die Kurtisanen während des Geschlechtsaktes bekleidet. Die jungen Frauen des Parks können sich nicht auf ihre Haare berufen, um sich irgendwelcher Zudringlichkeiten zu erwehren. Ihr Haar fällt über die Schultern.

Feldnotiz 331 / Schlief unruhig. Träumte von den beiden jungen Frauen. Nun stand auch ich unter der Dusche, liebkoste und wurde selbst liebkost. Ein sehr angenehmer Traum. Kaum aufgewacht, fand ich mich wieder in der nüchternen Wirklichkeit. Als ich später vor der Monitorwand saß, war ich plötzlich davon überzeugt, dass mich das zärtliche Spiel der beiden in die Irre führen soll. Endlich habe ich all die Bilder von Babys, die bislang in "meinem" Zimmer hingen, von den Wänden genommen und in eine Ecke gestellt.

Feldnotiz 332 / Würde nur zu gerne wissen, wie die Mädchen in den Park gelangen. Champell wich aus, als ich ihn danach fragte. Das sei für meine Arbeit nicht von Bedeutung. Gut dokumentiert ist, wie die Mädchen nach Yoshiwara kamen. Ältere wurden durch Kuppler rekrutiert, die ihnen eine vorteilhafte Stellung in einer Fabrik oder als Landarbeiterin in einem anderen Landesteil versprachen. In Yoshiwara angekommen, setzte man sie Bedingungen aus, die sie in die Arme der Bordellwirte trieben. Der Großteil der Mädchen wurde in frühester Kindheit verarmten Bauern abgekauft. Menschenhandel war zwar bei strengsten Strafen verboten, ließ sich aber durch eine Adoption umgehen. Im Alter von fünf bis neun Jahren traten sie als Kamuros in Yoshiwara ihren Dienst an. Die Mädchen des Parks werden nicht auf solche Weise beschafft. Schon allein ihr ebenmäßiges Äußeres schließt es aus. Mit Schminke und pompösen Kleidern wäre nichts gewonnen.

Feldnotiz 333 / Champell kam wieder einmal auf seine absurden Ornate zu sprechen. Verstehe den ganzen Mummenschanz nicht. War eine höchst seltsame Unterhaltung. Fragte ihn, wer die Überwürfe mache. Er meinte, das Unternehmen sei diesbezüglich nicht kleinlich. Die Ornate würden von Künstlerinnen entworfen, allerdings seien die wenigsten von ihnen fähig, in einer großen Idee aufzugehen. Fragte ihn, was ihn denn an ihren Entwürfen störe.
Er meinte: "Künstler neigen dazu, das Individuelle über das Allgemeine zu stellen. Sie denken an sich, nicht an das Anliegen, dem sie dienen sollten. Schauen Sie sich einmal in einer frühgeschichtlichen Sammlung, nur um ein Beispiel zu nennen, Urnen an. Da besticht das perfekte Verhältnis von Funktionalem und Ornamentalem, also Allgemeinem und Individuellem. Die Ornamentierungen sind von einer auffallenden Leichtigkeit. Da ist der Rand etwas mehr ausgekragt, dort hat eine geschickte Hand einige Tonkügelchen eingearbeitet. Können, Hingabe, selbst ein gewisses Vergnügen lässt sich an solchen Gefäßen ablesen, die oft vor mehr als dreitausend Jahren entstanden sind. In der heutigen Kunst verweisen Kunstwerke nur noch auf die, die sie geschaffen haben. Auffallend oft zitieren die von uns beauftragten Künstlerinnen Motive aus der Geschichte der Fortpflanzungsmedizin, frühe Darstellungen der Embryonalentwicklung etwa. Zu Haeckels Zeit gab es hervorragende Graphiker in den Naturwissenschaften.[14] Haeckel selbst war einer von ihnen. Über ein so großes handwerkliches Geschick verfügen heute nur noch wenige, wohl auch ein Grund für die Neigung vieler Künstler, Dinge zu beantworten, mit denen sie sich nie wirklich beschäftigt haben. Leider halten sich die wenigsten Künstlerinnen an die von unserem Unternehmen gewünschten Pflanzenornamente. Manche missverstehen unsere Einladung gar als Möglichkeit, Kritik an unserer Arbeit zu üben. Ich könnte Ihnen Stöße von Entwürfen zeigen, die mit den bei der Follikel- oder Embryonenentnahme nötigen Instrumenten bestickt sind. Obwohl erstaunlich stereotyp abgearbeitet wird, sind die Künstlerinnen von der Einzigartigkeit ihrer Werke überzeugt. Das ist doch lächerlich. Ein Ornat war gar mit den Produktnamen von Hormonpräparaten und mit Worten, die man früher im Zusammenhang mit Schwangerschaft verwendete, bestickt. Stellen Sie sich eine junge Frau vor, die sich lange auf ihren Tag vorbereitet hat, nun aber einen Ornat tragen soll, auf den Spritzen genäht wurden, womöglich blutverschmierte Wattebäusche oder gebrauchte Latexhandschuhe. Das sind doch Geschmacklosigkeiten. Für die angehende Zuchtmutter, die einen Festtag begeht, käme so ein Ornat einer tiefen Verletzung gleich. Wir wissen das zu vermeiden."
Diese seiner Ausführungen wollte ich festgehalten wissen. Zweifellos betrachtet sich Champell auch als Diener - der Mädchen, der Frauen, einer Idee etc. Dabei kann ich ihn mir gut als Bordellwirt in Yoshiwara vorstellen. Nein, mit einem Bambusknüppel würde er keine der Frauen, die sich seinen Erwartungen widersetzen, zu Tode prügeln. Zu kostbar, zu viel wurde investiert. Sein Yoshiwara funktioniert anders. Schließlich empfahl er mir noch, das Museum zu besuchen, in dem die besten Arbeiten zu sehen seien. Widerwillig ging ich hin. Das Gebäude grenzt unmittelbar an den Park. Ich hoffte, aus einem der höher gelegenen Stockwerke einen Blick in den Park werfen zu können, wurde aber enttäuscht. Bewegte mich durch schummrige Räume, in denen in einer schier endlosen Abfolge in Vitrinen Ornate zur Schau gestellt werden. 653 an der Zahl. Es sind nur Ornate zu sehen. Nicht einmal die Namen der Künstlerinnen sind erwähnt. Kein Hinweis auf das Entstehungsjahr. Was ist eigentlich ein Ornat? Bleiben wir bei der Beschreibung dessen, was ich zu sehen bekam. Wir haben es mit einer Art Mantel zu tun, wobei all die gezeigten Mäntel denselben Schnitt kennen und sich nur durch ihr Material und die Art und Weise ihrer Ornamentierung unterscheiden. Ich dachte mir, nur raus aus diesem beklemmenden Schummerlicht. Im Museumsshop, ich war übrigens der einzige Besucher, blätterte ich den Katalog durch. 653 Ornate sind darin abgebildet. Exakt 653, eine seltsame Zahl. Warum nicht 666? Aber womöglich ist die Zahl so darzustellen:

6 5 3
1 2
0

Über die Frauen, die die Ornate trugen, über den Park mit all seinen Merkwürdigkeiten ist im Katalog nichts zu lesen. Wozu hätte ich mir den Katalog kaufen sollen? Er eignet sich nicht einmal als Kopfunterlage. Spazierte zum Golfplatz, den ich vom Hügel aus vor mir liegen sah, auf dem Rasen hie und da noch Schneereste. Die Bewegungen der einzelnen Figuren erschienen mir nun noch lächerlicher, auch der Park, auf den ich hinunterblickte, das Hühnergehege, der Park mit dem Flakturm und dem plattgedrückten Ei. Letzterem konnte ich etwas abgewinnen, gilt das Ei doch als perfekte Lösung, zumindest was das Verhältnis von Funktion und Materialaufwand betrifft. Aber das Ei, das ich vom Hügel aus betrachtete, es war marmoriert, so wie Magritte die Oberflächen von Steinen, Felsen oder Mauern zu malen pflegte, ließ dieses ideale Verhältnis vermissen. Stellte mir das Unternehmen als riesiges pickendes Hühnerwesen vor. Tröstlich dabei der Gedanke, dass das plattgedrückte Ei seine Kloake sprengen müsste. Setzte mich in eine Bar, unterhielt mich über die Perfektion des Eies, Kloaken und ähnliches, wovon natürlich niemand etwas wissen wollte, auch eine Laborantin nicht, die es auf mich abgesehen hatte. Es wurde mir so richtig klar, wie nahe das Reine und der ganze Schmutz beieinander liegen. War ziemlich betrunken, ging aber nach einigen Lachanfällen vergnügt zu Bett. Jetzt noch habe ich den gestrigen Tag, die Unterhaltung mit Champell, das lächerliche Museum, meinen Spaziergang zum Golfplatz, meine Unterhaltung mit Menschen, denen es an Ironie fehlt, ganz genau vor mir.

Feldnotiz 334 / Champell wollte wissen, wie mir das Museum gefallen habe. Endlich eine Gelegenheit, den Spieß umzudrehen. Ich meinte, vieles sei mir eingefallen, aber nichts von Bedeutung. Ach ja, ich hätte doch eine Frage, meinte ich. Mir sei aufgefallen, dass es je zwei Fluchtweganzeigen in unterschiedliche Richtungen gebe, wobei während meiner Begehung nur die Pfeile in eine Richtung aufgeleuchtet hätten. Sei das Museum geschlossen, so erfuhr ich, dann sei es mehrere Stunden vom Park aus zugänglich: "Wie Sie leicht begreifen werden, gilt dies für die Abendstunden. Es kann immer nur Besucher von der einen oder anderen Seite geben. Besucher von außen werden nie einer der Frauen begegnen, diese wiederum werden nie auf Menschen treffen, die in der Außenwelt leben."
"Wird das Museum von den Frauen angenommen?"
"Was für eine befremdliche Frage! Das Museum bildet ein wichtiges Element in ihrem alltäglichen Leben. Räume der Andacht, der Betrachtung, der Besinnung. Räume, die abends dazu dienen, den Tag noch einmal zu überdenken."
Bedauerlicherweise habe ich ihn nicht gefragt, welchen Gedanken eine abendliche Andacht von Menschen gelten könne, deren Leben - was anzunehmen ist - bis ins kleinste Detail vorgegeben sei. Wir kamen dann noch auf das schummrige Licht zu sprechen. In den Räumen des Museums ist es so dunkel, als würden darin nicht lachhafte Textilien, die sich allesamt Absolventinnen einer Textilfachschule verdanken könnten, sondern kostbarste Handschriften gezeigt. Das verdanke sich einer Kindheitserinnerung, wie mir Champell erklärte. Er war Zögling in einem katholischen Internat. Jetzt wird mir manches verständlicher. Abends, kurz vor dem Schlafengehen, hätten die Größeren noch einmal die Kirche besucht: "Der Kirchenraum war nahezu dunkel. Einzig auf dem Marienaltar brannten einige Kerzen. An die Marienfigur kann ich mich gut erinnern, an ihre strengen, fast drohenden Gesichtszüge, die mehr an Pallas Athene als an die Gottesmutter denken ließen." Musste an den Park denken, stellte ihn mir von zahllosen Multiplikationen der Pallas Athene bevölkert vor. Noch ehe ich mir bildhaft ausmalen konnte, wie Zeus die von ihm schwangere Metis verschlang, mit Haut und Haaren fraß, und Pallas Athene aus seinem Kopf geboren wurde, holte mich Champell in die banale Wirklichkeit zurück, als er fortfuhr: "Im Schein flackernder Kerzenflammen, die unruhige Schatten warfen, schien die Figur lebendig. Ich erinnere mich an Mitschüler, die im Bannkreis dieses Lichtes knieten. Maria mochte eine Mutterfigur sein, der sie ihre kleinen Nöte anvertrauten. In das aufkeimende Begehren mischten sich wohl auch andere Bilder. Aber es war das Licht, das sie in ihren Bann zog. Wäre die Kirche hell erleuchtet gewesen, der Statue auf dem Altar hätte alles Auratische gefehlt. Nicht zuletzt dieser Erinnerung verdankt sich das Museum, haben wir es auch nicht mit einem Altar, sondern mit vielen Altären, genaugenommen mit Schreinen zu tun. Wie in meiner Kindheit jeder einzelne, ganz für sich, aus dem Dunkel der Kirche in den Lichtschein vor dem Marienaltar trat, so bilden auch die Frauen keine Gruppe. Jede von ihnen sucht sich einen der Ornate aus. Sie verhalten sich geradezu andächtig. Es wird nicht gesprochen, bestenfalls tuscheln zwei miteinander."

Feldnotiz 336 / Da es heftig regnete, habe ich gestern den ganzen Tag im Monitorraum verbracht. Lag lange Zeit auf dem Fußboden und betrachtete die Unterseite der Tischfläche, so wie Kranke, die ans Bett gefesselt sind, auf die Zimmerdecke starren, auf kleinste Spinnweben oder Haarrisse in der Mauer. Ein dickes, schweres Buch mit dem Titel "Sitten und Bräuche im japanischen Geschlechtsleben" aus dem Jahr 1916 diente mir als Kopfkissen. Was man in solchen Lagen alles zu sehen bekommt! Von fettigen Fingern blank polierte Stellen, Kratzspuren und zum Verschwinden gebrachte Kaugummis. Es lohnte sich, Schreibtischunterseiten in einer Ausstellung zu zeigen. Als ich so dalag, stellte ich mir vor, ich muss hinzufügen, dass ich wiederholt aus einer neben meinem Kopfkissen befindlichen Flasche Whisky in mein Glas (beachte: das Glas, jedoch der Begleiter) goss, ich stellte mir also vor, eine der vielen Kamuros zu sein, in den Diensten einer hochrangigen Kurtisane.[15] So sehr ich mich auch anstrengte, es gelang mir nicht, konnte mir nicht gelingen. Aber es drängten sich zahllose Fragen auf, so etwa diese: Was ging in ihren Köpfen vor, waren sie während des Geschlechtsaktes anwesend? Es bedurfte ihrer allein schon bestimmter Handreichungen wegen, und sei es nur, ein abgebranntes Räucherstäbchen durch ein neues zu ersetzen. Vermutlich erlebten sie all das als keinesfalls aus dem Rahmen fallend, kannten sie doch keine andere Welt, und es fiel wohl nur dann etwas aus dem Rahmen, benahm sich einer der Männer besonders derb. Ich wüsste gerne mehr über ihre Erziehung, ihre Zurichtung. Manche Kurtisanen, so las ich, sollen sich mit rührender Zärtlichkeit um ihre Kamuros gekümmert zu haben, zumal es ihnen versagt bleiben musste, selbst Mutter zu werden. Welche Strafen wurden angewandt, hielt eines der Mädchen nicht still, wo es still halten hätte müssen, zeigte es eine Regung, statt sich jede Regung zu verbieten, schnaufte oder gähnte es in Anwesenheit eines Gastes (konnte sich bis tief in die Nacht hinein ziehen), bewahrte es nicht strengste Zurückhaltung, wenn Gäste sich seiner Herrin gegenüber ärgste Dreistigkeiten erlaubten, bewegte es sich nicht mit vollendeter Grazie (gehen, niederknien, sich verneigen und sich setzen), beherrschte es dies oder das nicht, etwa den Gürtel kunstgerecht zu knüpfen? Nahrungsentzug? Körperliche Züchtigungen? Das wohl wirksamste Mittel lag in der Drohung, es wieder hinabzustoßen in die Masse jener kleineren und größeren Mädchen, die schmutzigste Arbeiten zu verrichten hatten und denen das Schicksal einer niederen Dirne bevorstand.

Feldnotiz 338 / Champell scheint ein Stofffetischist zu sein. Immer wieder erwähnt er "seine" Ornate. Stundenlang kann er von Stoffen faseln. Was unterscheidet einen Stoffbegeisterten von einem Fetischisten? Ersterer weiß um Herstellung, Webarten, Qualitäten, Wirkungen. Für den Fetischisten ist der teuerste Stoff, frisch aus der Maschine, ohne jeden Reiz. Der Fetischist, also Champell, interessiert sich nur für gebrauchte Textilien, für Kleidungsstücke, die getragen wurden, die Gebrauchsspuren kennen, Gerüche der Haut aufgenommen haben. Fragte ihn, wozu Ornate denn nützlich seien, hielt mich aber mit all den Beobachtungen zurück, die ich inzwischen machen konnte. Nein, ich äußerte mich nicht über die lachhafte Bekleidung der Golfspieler, nicht über die geradezu uniforme Kleidung der Angestellten, die sich immer leger geben, als befänden sie sich in der Freizeit, ob weiblichen oder männlichen Geschlechts, tatsächlich aber stets bei der Arbeit sind, immer am Sprung, als drohten die Gesetzestafeln in den fünf Minuten ihrer Abwesenheit aus einem Regal zu fallen oder könnte auch nur ein einziger Eisprung versäumt werden (wäre nicht das erste Mal, dass Eizellen im Nichts verloren gehen), erwähnte auch nicht die in diesem Umfeld doch etwas aus dem Rahmen fallende Bekleidung der "Laborantinnen", in der das hier herrschende Prinzip der Verwischung von Arbeit und Freizeit auf die Spitze getrieben wird. Die Ornate, so meinte Champell, seien von größter Bedeutung bei der Initiation geschlechtsreif gewordener Mädchen. Ich meinte: "Vielleicht erinnern Sie sich an Margaret Atwoods Roman `Der Report der Magd' aus dem letzten Jahrhundert. Da tragen jene Frauen, die der Reproduktion dienen, eine Tracht."
"Ein düsterer Roman, die beschriebene Gesellschaft ist geradezu steinzeitlich organisiert, nicht nur was die Reproduktion betrifft. Margaret Atwood hätte einen Blick in die Rinderställe ihrer Zeit werfen sollen. Bereits damals wurden in solchen Ställen Embryonen mit Erfolg transferiert."
"Die Initiantinnen tragen doch auch eine besondere Kleidung?"
"Aber keine Sklaventracht. Die Ornate dienen dazu, sie aus der Masse herauszuheben. Nur einmal in ihrem Leben werden sie mit diesem Ornat gekleidet. Und jeder dieser Ornate ist ein Unikat." Champell, ein aalglatter Schmierentyp. Ich stellte ihn mir vor, ich habe ganz vergessen festzuhalten, dass der Monitorraum wie ein kleiner Kinosaal mit aufsteigenden Sitzreihen, auf denen etwa dreißig Personen Platz haben mögen, gestaltet ist, ich stellte ihn mir also vor, wie er so dasaß in einem der dick gepolsterten Sessel vor mir, den Kopf mir zugewandt, wie er einen von einer jungen Frau getragenen und abgelegten Ornat beschnuppert (das Hündchen!), ihn durch seine Finger gleiten lässt, mit seinen Wangen (noch nie wurde ein Buch über die Wangen als Sinnesorgan verfasst) befühlt, sich ihn über seinen nackten Körper streift oder seine Frau (Literaturwissenschaftlerin) sich damit kleiden lässt, um sie ganz im Stile des alten Tokio zu nehmen, was angesichts eines perlenbestickten Stoffhaufens ja gar nicht anders möglich wäre. Hielt mich zurück und war froh, als er mich verließ, und sei es nur deshalb, um sich zu vergewissern, ob sich nicht in den Gesetzen der Ökonomie zwischenzeitlich die eine oder andere Zahl, der eine oder andere Buchstabe verändert habe.

Feldnotiz 340 / Da ich wenig Lust habe, ständig auf Monitore zu glotzen, auf denen ich ohnehin nur selten etwas sehe, was Aufmerksamkeit verdienen würde, schaue ich mir historische Aufnahmen an, die Frauen in den Käfigen von Yoshiwara zeigen. Unbeweglich, die Augen nach vorne gerichtet, knieten sie wie Wachspuppen da, in viel Stoff, in bunte Kleider gehüllt. Die weiß geschminkten Gesichter verstärkten die puppenhafte Erscheinung, wobei die dick aufgetragene Schminke das Gesicht zur Maske werden ließ, und zwar so sehr, dass jede Regung, jede Empfindung, jede Individualität daraus getilgt schien. Statt Ausdruck nur noch Zeichen. Möglicherweise waren all diese Frauen gegen die taxierenden Blicke der Kunden abgestumpft, allerdings dürften sie eher gelernt haben, sich als Ausstellungsstücke zu verhalten. In der Darstellung der zur Schau Gestellten muss sich keineswegs das Seelenleben spiegeln. Die erwähnten Aufnahmen sind allerdings nicht für bare Münze zu nehmen. Die meisten von ihnen sind gestellt. Tatsächlich saßen die Dirnen nicht so steif in ihren Käfigen, waren sie doch gezwungen, und dies unter großem Konkurrenzdruck, den geforderten Tagesumsatz zu erbringen. Sie mussten, um nicht unverkauft zu bleiben, auf sich aufmerksam machen, und sei es, dass sie sich mit geschürztem Kimono und gespreizten Beinen darboten. Zu einem solchen Benehmen werden die Frauen, die im Programm sind, gewiss nicht angehalten. Eizellen und Embryonen werden, um es mit Champell zu sagen, geerntet, wie Äpfel oder Birnen. Es gilt den Zeitpunkt der Reife abzuwarten. Er lässt sich nicht vortäuschen.

Feldnotiz 345 / Wieder eine Laborantin verbraucht. Das ist übertrieben, wurde doch ich in Gebrauch genommen. Nicht ich habe ausgesucht, ich wurde ausgesucht, ohne dass ich auf mich aufmerksam gemacht hätte. Von all jenen, die in Yoshiwara davon befreit waren, sich in einen Käfig zu setzen, kursierten um 1900 in den Teehäusern täglich aktualisierte Kataloge, in denen die schönsten der Mädchen in der ganzen Pracht ihrer Festtagskleider abgebildet waren: "Man findet da das besondere Zeichen ihrer Klasse, den Preis der Stunde und der ganzen Nacht ... Ein kleines Zeichen gibt sogar an, ob das Mädchen infolge von Krankheit oder vorheriger Bestellung etwa nicht zu haben ist." Nur zu gerne würde ich einmal in einem Katalog blättern und mir eine Laborantin aussuchen. Wie wäre es, die Zeiteinheiten mit Räucherstäbchen zu bemessen?[16] Auch gefiele es mir, trügen die Laborantinnen eine entsprechende Kleidung, meinetwegen einen Kimono mit auf der Vorderseite geknotetem Obi.[17]

Feldnotiz 350 / Die Monitorwand ist zum Kotzen! Vertiefte mich in die Schicksale von Kamuros und Shinzōs, den Novizinnen von Yoshiwara. Auch sie kannten eine Einführung. Immerhin wurde ihnen das Recht zugestanden, ihren ersten Liebhaber selbst zu wählen, was freilich nicht ganz zutrifft, hatten sie doch einen Freier zu wählen, der bereit war, für das Recht der ersten Nacht, also die Entjungferung, und auch dafür, selbst im Mittelpunkt zu stehen, die enormen Kosten zu tragen. Das Fest, an dem das ganze Hauspersonal sowie Vertreter der Nachbarhäuser teilnahmen, wurde wie eine Vermählung gefeiert. Die angehende Priesterin (so las ich) wurde mit einer Aussteuer bedacht, die auf einem großen Tisch vor der Tür gezeigt wurde und zu der jeder vor dem Betreten des Hauses das Seine hinzulegte: Fächer, Schildpattkämme oder mit Blumen oder Vögeln bemalte Getas aus kostbarem Holz. Kimonos. Es wurde auch eine Art Hochzeitsmahl gehalten, zu dem die Shinzō in einem gelbseidenen Kleid, mit einer Frisur wie ein "junger Schmetterling", erschien. Der Liebhaber und die Shinzō erwiderten jeden Trinkspruch und tranken, wenn die Reihe an ihnen war, drei Becher Sake. Auch reichte man den Liebenden zwei Pfeifen, deren Asche sie mischten. Schließlich folgte die Stunde der "ehrenvollen Heimführung", die in ihrem Zimmer stattfand. So als könnten die Leute im Regieraum meine Gedanken lesen (ich muss wohl manche Textstelle laut vor mir hergesagt haben), bekam ich wieder entsprechende Häppchen vorgesetzt, die Feier, um genauer zu sein, die "große Feier", um in Champells Diktion zu bleiben. Was ich zu sehen bekam, setzte genau an jener Stelle ein, an der die Aufnahme letzthin abgebrochen und durch die Gesichter von Mädchen in den Zuschauerreihen ersetzt worden war. Offensichtlich sollte ich diesmal mit Bildern geradezu gefüttert werden. Auf jedem der Monitore war eine andere Einstellung zu sehen. Der Ton wurde mir nicht verweigert. Ich fühlte mich wie in einem Regieraum, so als sei ich verantwortlich für die Übertragung eines Sportereignisses, obgleich nicht ich es war, der Regie führte, wie auch nichts übertragen wurde, auf jeden Fall nicht aus dem Raum, in dem ich mich befand. Es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren. Ständig klickte ich aus Angst, Wesentliches könnte mir entgehen, einen Monitor nach dem anderen an. Deshalb kann ich das Gesehene nur ziemlich wirr wiedergeben. Es war auch zu verrückt. Aus dem Boden der Bühne schob sich (wie gehabt) die thronartige Liege ... das thronartige Gebilde, ich konnte es genauer betrachten, ließ nur entfernt an einen gynäkologischen Stuhl denken. Der Lagerungsapparat war ganz der Körperform angepasst, höchst beweglich, wie eine Hand, die Finger einer Hand. Seine Linienführung wie die vielen Feten, die ihn rahmten, ließen an die Werkstatt eines Bruno Gironcoli[18] denken ... die Theatermaschine ... darauf ein Mädchen, es mochte etwa dreizehn Jahre alt gewesen sein, in halbliegender Stellung, in kostbare Kleider gehüllt ... auf einem der Monitore war der mit Pflanzenornamenten bestickte Überwurf in Großaufnahme zu sehen: Capsella, Thlaspi arvense, Euphorbia lathyris, Plantago lanceolata, Taraxacum[19] ... seltsamste Figuren traten auf, alle verrückt gekleidet ... eigenartigste Kopfbedeckungen ... einer trug eine Federkrone ... ich dachte mir, da fehle nur noch eine Obsidianaxt, ein Obsidianmesser ... musste an Opferriten denken ... aztekisch war es nicht. Dafür war es zu wenig geschäftig ... langsamste Bewegungen, jede Geste betonend, so ganz im Widerspruch zur Umtriebigkeit, die ich hier erlebe ... musste an die Theateraufführung denken, an das weinende Mädchen, an die Übergabe, wie es ausgekleidet und dann neu eingekleidet wurde ... alles erschien mir als Fortsetzung dieser Szene. Unter den seltsam Kostümierten wieder ein Behornter ... es war mir, als habe jemand all das uns bekannte sakrale Zeremoniell, angefangen bei den Kopfjägern, in einen Topf geworfen und kräftig umgerührt. Ich musste an Pontifikalamte, an die orthodoxe Liturgie, an Lungentransplantationen und an die Raumfahrt denken ... an den Tabernakel (das Geschlecht des Mädchens), an das Allerheiligste ... nein, niemand schwang ein Weihrauchfass, obwohl es sich gut ins Bild gefügt hätte, den Oberpriester zu sehen, wie er mit seinem Gefolge weihrauchfassschwingend das thronartige Gebilde umschreitet, diesem huldigt, seinen Segen herabruft oder auch die Reinheit des Mädchens beschwört ... und doch war es nicht viel anders ... eine Weihefeier in lächerlichster Form ... mit einer geradezu manierierten Gestik trat der federkronentragende Oberpriester, kaum hatte der Altar seine und damit die Beine des Mädchens gespreizt, die Knie etwas angehoben, und wenn ich mich nicht irre, die Fußenden, kaum wahrnehmbar, etwas nach außen gedreht, zwischen das Beinpaar, dies mit einer Vorsicht, als drohten die Beine des Altars (nicht die des Mädchens) ihn in die Zange zu nehmen und in der Mitte entzwei zu schneiden. Die Absicht war leicht zu erkennen. Es galt den Überwurf, mit dem das Mädchens umhüllt war, aufzuklappen, nein, nicht wie einen Vorhang aufzuziehen, sondern aufzuklappen, wie man eben eine Lade aufklappt. All dem haftete etwas Insektenhaftes an. Was für ein Gegensatz, denke ich an die unbeschwerten Bewegungen der Mädchen im Park, die in ihrem Tun unbefangen und fröhlich scheinen. Der Oberpriester (wüsste nur zu gerne, welche Bezeichnung er trägt) schlug das Tuch, das er mit Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand in Höhe des Bauchnabels festhielt, zuerst auf der rechten Seite, dann auf der linken Seite zurück. Geschäftige Diener bückten sich, um es in Falten zu legen ... wohl eine lange eingeübte, exakt festgelegte Zeremonie, die mindestens fünf Minuten in Anspruch nahm. Musste an das Zurückschlagen von Bettdecken denken. Wie sich doch Falten legen lassen, links und rechts, um das Arbeitsfeld, das Geschlecht zur Geltung zu bringen ... kaum waren die Falten gelegt, wich der Oberpriester mit seinen Gehilfen getragenen Schrittes zurück, und zwar ohne sich umzudrehen. Ich mag mich irren, aber in einem der Männer, er trug eine phrygische Mütze, glaubte ich Champell zu erkennen. Mit Medizin hatte all das nichts zu tun, oder doch, nur grotesk übersteigert ... Darbietung des Geschlechts ... Ein Raunen ging durch die Zuschauermenge. Und ich hätte es noch deutlicher vernehmen können, wäre der Gesang in diesem Augenblick nicht angeschwollen, feierlich und drohend zugleich. Grotesk und lächerlich ... Auf den Monitoren war nun nur noch aus unterschiedlichster Perspektive das Gesicht des Mädchens zu sehen, das Gesicht des Mädchens, ein schönes Gesicht, aber doch ganz abwesend schien es mir, als sei es in seinen Gedanken ganz fern, ganz fern, als habe alles nichts mit ihm zu tun, als ... Der Mund (Wolken!!!) in Großaufnahme. Hätte sich eine Fliege darauf niedergelassen, ich hätte das Facettenauge sehen können. Aber in solchen Räumlichkeiten gibt es keine Fliegen. Immerhin durfte ich nun ein Gesicht ganz genau betrachten. Vom Gesang konnte ich nur einzelne Satzfetzen verstehen: ".... dich, Amata, ergreife ich ... als Geweihte ... heilige Handlungen vollzogen ... dich, Amata, Geliebte des Gesetzes ... ein Geisthauch gehe in dich ein und rufe eine Befruchtung hervor ...."[20] Ich musste an die balletttanzenden Mädchen denken, die zu Beginn solcher Feiern zu sehen sind. Aus welchen Quellen speist sich ihr Eifer? Wissen sie um die Bedeutung der Feier? Wie könnten sie das? Zweifellos wusste nicht einmal das Mädchen darum, das eben initiiert wurde. Initiiert! In was werden sie eingeführt? In ein "Nichts als", in ihre bestmögliche Verwertung. Ich konnte nicht sehen, wie der Eingriff durchgeführt wurde. Ich sah nur das Gesicht des Mädchens. Es schien mir in Gedanken ganz ferne. Als ich das Gesicht des Mädchens auf dem Riesenbildschirm betrachtete, schien es mir, als sei es von Gras bewachsen und wehe ein lauer Wind Halme einmal sanft in diese, dann in jene Richtung. Lange betrachtete ich dieses Gesicht, die geschlossenen Augen ... als hätte all das, was auf der Bühne geschah, nichts mit ihm zu tun. Nur manchmal meinte ich eine kleine Regung, ein fast unmerkliches Zusammenpressen der Lippen, ein Zucken oder einen Lidschlag zu erkennen. Der Mund, das linke und das rechte Auge, das Kinn. Landschaften. Von Gras bewachsen. Der Gesang mit seiner hypnotischen Wirkung. Allmählich wurde es mir zu langweilig, auf dieses Mädchengesicht zu starren. Zum ersten Mal habe ich die Monitore gezählt. Neben dem Riesenbildschirm gibt es exakt 24 Monitore. Das lässt sich zweifelsfrei festhalten.


Anmerkungen

Handschriftliche Randnotizen, eingelegte Notizblätter sowie Anmerkungen des Herausgebers. Letztere sind in eckige Klammern gesetzt.

[1] [Ist so nicht zutreffend. Aldous Huxleys "Schöne Neue Welt" (1931) ist vielmehr als Antwort auf J.B.S. Haldanes Essay "Daedalus oder Wissenschaft und Zukunft" (1923) zu lesen. Haldane war als Biologe der Überzeugung, die ektogenetische Fortpflanzung werde eine endgültige Trennung der Geschlechtsliebe von der Fortpflanzung zur Folge haben. Huxley spielte wichtige, von Haldane völlig unbeachtete Fragen durch und kam zur Schlussfolgerung, eine ektogenetische Fortpflanzung müsse auf die industrielle Produktion von Menschen hinauslaufen und eine Zurichtung der so geschaffenen Menschen zur Folge haben. Bereits Jahre vor Huxley hat Konrad Loele in "Züllinger und seine Zucht" (1920) nahezu all dessen Überlegungen vorweggenommen. Das Buch spielt zwar in den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, nimmt aber in sarkastischer Weise Deutschlands Entwicklung zu einem totalitären Staat vorweg.]

[2] [Alfred Hitchcock, "Vertigo" (USA 1958), "Psycho" (USA 1960).]

[3] [Golfschläger für den zielgerichteten Lauf auf dem Untergrund.]

[4] "Als sie zur Tenne Nachons kamen, brachen die Rinder aus und Usa streckte seine Hand nach der Lade Gottes aus und fasste sie an. Da entbrannte der Zorn des Herrn gegen Usa und Gott erschlug ihn auf der Stelle wegen dieser Vermessenheit, sodass er neben der Lade Gottes starb." [2 Sam. 6,7]

[5] Jemand wird in der Kindheit von einem gewalttätigen Riesen sexuell überfallen. Eine Weile sind alle Geisteskräfte wach, es werden alle möglichen, allerdings erfolglosen Anstrengungen gemacht, um die Gewalt loszuwerden (Stoßen, Schreien, für ein kurze Weile noch bewußte Emotionen des Hasses, Rachedurst etc.), doch wenn das Gewicht des auf dem Kind lastenden Mannes mehr und mehr `unerträglich' wird, und insbesondere wenn die Atmung durch das rücksichtslose Verlegen der Atmungszugänge, durch die Kleidung des attackierenden Mannes höchstgradige Atemnot hervorruft, schwindet alles Empfinden des Druckes der genitalen Verletzung, das Wissen um die Ursache und die Antezedenzien, der peinlichen Lage; alle verfügbare psychische Kraft konzentriert sich auf die Bewältigung der einzigen Aufgabe, der Lunge irgendwie Luft zu beschaffen. Doch auch diese Aufgabe wird allmählich schwerer und schwerer zu bewältigen. Es melden sich, offenbar infolge der Kohlensäurevergiftung, heftige Kopfschmerzen und Schwindelgefühle." [Eine aus einem Buch herausgerissene Seite, die zitierte Stelle mit einem Rotstift markiert, in das Manuskript eingelegt. Die Quelle ließ sich eruieren: Sándor Ferenczi, "Das klinische Tagebuch von 1932".]

[6] [Adolfo Bioy Casares, "Morels Erfindung".]

[7] [Tristrant legt aus Angst vor Marke nachts sein Schwert zwischen sich und Isalde. Als Marke das Schwert des Nebenbuhlers zwischen den beiden Schlafenden sieht, zügelt er seinen Zorn. Er vertauscht Tristrants Schwert mit dem seinen und legt einen seiner Handschuhe auf Isalde. Eilhart von Oberg, "Tristrant".]

[8] "Ich muß mitten drin sein in ihrem Drama, das was sie sind und wie sie sind aus der Nähe berühren, es im lebendigen Fleische fühlen. Zum Teufel mit der Ethnographie!" [Michel Leiris, "Phantom Afrika".]

[9] [Tresmin-Trémolières, "Yoshiwara, Die Liebesstadt der Japaner" (1910).]

[10] [Die Akteure: Heinrich II., König von Frankreich (1519 - 1559), Katharina von Medici (1519 - 1589), als dessen Gattin, Diana von Poitiers (1499 - 1566) als dessen Geliebte. Chronist: Pierre de Bourdeille, seigneur de Brantôme, "Das Leben der galanten Damen" (1665).]

[11] [Hermione von Preuschen, "Yoshiwara: Vom Freudenhaus des Lebens", (1920).]

[12] ["Bilder-Lexikon Kulturgeschichte" 1928.]

[13] [Albrecht Dürer, "Der Zeichner des liegenden Weibes", Holzschnitt aus "Underweysung der Messung mit dem Zirkel und Richtscheyt in Linien Ebenen und gantzen Corporen" (1525).]

[14] [Ernst Haeckel (1834 - 1919), deutscher Biologe, Philosoph und Freidenker in der Tradition von Charles Darwin. Sein großer Einfluss verdankte sich vor allem seinen populärwissenschaftlichen Schriften ("Die Welträthsel" etc.), in denen er naturwissenschaftliche Erkenntnisse auf die Gesellschaft übertrug. Haeckel vertrat eine pazifistische Grundhaltung, gilt aber gleichzeitig als Wegbereiter der Eugenik und Rassenhygiene. Als einer der ersten deutschsprachigen Autoren forderte er die Tötung Schwerkranker auf ihr Verlangen wie die Tötung "neugeborener Kinder mit Defekten": "Eine kleine Dosis Morphium oder Cyankali würde nicht nur diese bedauernswerten Geschöpfe selbst, sondern auch ihre Angehörigen von der Last eines langjährigen, wertlosen und qualvollen Daseins befreien." Wie andere war er davon überzeugt, dass die Fortschritte der Medizin eine Ausschaltung der Selektion und damit degenerative Erscheinungen zur Folge hätten. Philosophisch war Haeckel Vertreter einer monistischen Naturphilosophie, behauptete also die "Einheit von Materie und Geist". Er wies die Vorstellung einer Schöpfung strikt zurück, betrachtete aber die Natur bis hin zu anorganischen Kristallen als beseelt. Er sprach von "Zellgedächtnis" und "Kristallseelen". Größten Erfolg hatte Haeckel, er sah die Biologie in vielem mit der Kunst verwandt, mit seinen Illustrationen von Einzellern, Radiolarien, Planktonorganismen und Quallen.]

[15] [Bei all den Frauen, die in den Käfigen von Yoshiwara zu sehen waren, handelte es sich um niederrangige Dirnen für den raschen Geschlechtsverkehr. Kaum hatten sie einen Kunden hinter sich gebracht, mussten sie sich wieder in den Käfig setzen. Hochrangige Kurtisanen, die den größten Umsatz versprachen, genossen eine Reihe von Privilegien. Sie wurden durch einen Vermittler für die Dauer von mindestens einem halben Tag in eines der Teehäuser bestellt und mussten sich deshalb nicht oder nur zu bestimmten Anlässen in den Käfigen zeigen. Sie durften sich mit zwei oder drei Kamuros umgeben. Als prächtig gekleidete Puppen zählten diese zu ihrem Gefolge, wenn sie sich in der Öffentlichkeit zeigten. Die kleinen Mädchen hatten vielerlei Dinge zu erledigen, die Wohnung den Vorschriften entsprechend mit Blumen zu schmücken oder während der Teezeremonie zu helfen. Von Kind an hatten sie all das zu lernen, was später von ihnen gefordert wurde.]

[16] ["Rauchgeld": In Yoshiwara galt folgende Formel für die Errechnung des Preises: Marktwert x verbrauchte Räucherstäbchen.]

[17] [Im Gegensatz zum Gürtel der Geishas, deren Obi im Rücken geknotet war, trugen die Kurtisanen den Knoten vorne, um ihn leichter öffnen und schließen zu können, aber auch, um sich als Kurtisanen kenntlich zu machen.]

[18] [Bruno Gironcoli (1936 - 2010), österreichischer Bildhauer, bekannt durch seine Plastiken, die an futuristische Maschinen erinnern.]

[19] Hirtentäschel, Acker-Hellerkraut, kreuzblättrige Wolfsmilch, Spitzwegerich, Löwenzahn.

[20] Bezieht sich auf die Berufung von Vestalinnen: "Dich, Amata, ergreife ich als vestalische Priesterin, die die heiligen Handlungen ausführen soll, wie sie die Vestalin nach Recht und Gesetz zum Wohle des römischen Volkes und der Quiriten auszuführen hat." Gellius, "Noctes Atticae" 1.12.14.]