Das Kirschblütenfest

Eine Klanginstallation von Se-Lien Chuang


KWAN
O Kirschblütenfest! O süßester Tag!
KOTARO
Verrate mich nicht, Liebster, verrate mich nicht! Heute ist
Maskenfreiheit - laß mir heute meine Maske - die ich um deinetwillen
angelegt - was morgen sein wird - wer weiß es - viele Blüten - sind
morgen schon verwelkt, zertreten - zerstampft - der rauhe
Norwestwind - hat sie vom Zweig geweht -

Klabund, Das Kirschblütenfest


Photo: Bernhard Kathan


Klabund beschäftigt sich in seinem Spiel Das Kirschblütenfest - er bearbeitete eine japanische Vorlage - mit dem Motiv des stellvertretenden Todes. Der Lehrer GENZO hat KWAN, den Sohn des ermordeten Gottkönigs in seine Obhut genommen, in der Hoffnung, dieser werde den Tyrannen, den Mörder des Königs stürzen und zum Herrscher werden. Als der Tyrann in Erfahrung bringt, KWAN sei ein Schüler GENZOS, schickt er seine Knechte aus, um ihn töten zu lassen. Um KWAN zu retten, schlägt GENZO dem Schüler KOTARO, der KWAN sehr ähnlich sieht, den Kopf ab und gibt diesen als den von KWAN aus. KOTARO heißt eigentlich KOMACHI und ist ein Mädchen. Sie fügt sich wissend in den Tod, um KWANs Leben zu retten. Nicht zufällig bildet ein Kirschblütenfest den Hintergrund von Klabunds Spiel. Die aufbrechenden Blüten bedeuten nicht allein das Ende des Winters, sie verweisen auch auf die Vergänglichkeit und Verletzlichkeit des Lebens. Kirschblüten werden auch mit Schnee, also mit dem Tod assoziiert. Weiß ist Farbe der Trauer. Die Blütenpracht ist von kurzer Dauer. Im Gegensatz zu den mythischen Vorlagen verliert der stellvertretende Tod bei Klabund jeden Sinn. KWAN stößt sich ein Messer ins Herz und bricht über der Leiche der ermordeten KOMACHI zusammen.

Das Fallen der Blüten. Wie innig.
Und Weh-en des Windes. Hautnah.

Se-Lien Chuang


Blütenfeste kennen vor allem ostasiatische Kulturen. Im Museum für Ostasiatische Kunst in Köln befindet sich ein Wandschirm eines unbekannten Meisters der mittleren Edo-Zeit mit der Darstellung eines chinesischen Blütenfestes. Auf den Terrassen einer Palastanlage wird dem Frühling gehuldigt: “Der Hausherr und seine Frauen sehen dabei dem spielerischen Fechtkampf mit an Stangen befestigten Blumensträußen ihrer zahlreichen Dienerinnen zu und lauschen dem Geläute der von den Mädchen an Seidenbändern im blühenden Kirschbaum bewegten Schellen. Hunde und Papageien werden ausgeführt und Erfrischungen in goldenen Gefäßen angeboten.” Eine Steigerungsform findet sich dort, wo Herrscher Glöckchen an blühenden Bäumen befestigten, um Vögel von den Blüten fernzuhalten. Unsere Tradition kennt keine Kirschblütenfeste, selbst Dörfer wie Fraxern nicht, in denen seit Jahrhunderten Kirschbäume kultiviert werden. In Fraxern bildeten Kirschen eine wichtige Einnahmequelle in einer subsistenzwirtschaftlich strukturierten Landwirtschaft. Eine gute Blüte versprach einzig eine reiche Ernte. Niemand wäre auf die Idee gekommen, unter blühenden Kirschbäumen ein Fest zu feiern. Dies hat auch damit zu tun, dass es christlichen Vorstellungen fremd ist, das Göttliche in der Natur zu suchen. Dennoch ist die christliche Tradition nicht frei von Vegetationsbildern. So wird etwa Christus mit einem Weinstock gleichgesetzt. Ostern fällt in die Zeit des Frühlingsbeginns. Noch vor wenigen Jahrzehnten wurde am Fronleichnamsfest der Leib des Herrn oder das auf diesen verweisende Zeichen auf blütenbestreuten Wegen durch das Dorf getragen. Man könnte das Fronleichnamsfest auch Tag des Blütenopfers nennen.

Heute mangelt es auch in der westlichen Welt nicht an Kirschblütenfesten. In der Regel werden diese von Tourismusverbänden organisiert. Solche Feste haben alle Erinnerung an archaische Vegetationsmythen abgestreift. Blühende Kirschbäume werden einzig als ästhetisches Phänomen betrachtet. Wie vermöchten Vegetationsmythen noch eine Rolle zu spielen, haben wir uns doch mit Hilfe der Agroindustrie, des Transportwesens oder der Kühltechnik von der Natur emanzipiert. Nachdem die Bahn der Erde um die Sonne berechnet, Meteorologen Temperaturschwankungen oder den ausbleibenden Regen erklären, mehr noch, wir täglich in den Wetterberichten des Fernsehens dank der dort gezeigten Satellitenaufnahmen die Bewegungen der Wolken über die Erde verfolgen können, ist uns die Angst fremd geworden, das Frühjahr könnte ausbleiben. In einer Zeit landwirtschaftlicher Überproduktion benötigen wir keine magischen Handlungen mehr, die einmal notwendig waren, um die Vegetation in Gang zu setzen oder in Gang zu halten. In bestimmten Tourismusregionen kann der Winter gar nicht lange genug dauern und wird er auch längst mit Hilfe der Technik künstlich verlängert. Hinzuzufügen ist noch, dass das Lebendige für den Menschen jedes Geheimnis verloren hat. Die Blüten - so wissen wir es - öffnen sich infolge osmotischen Drucks, die Bestäubung geschieht durch Bienen, Wildbienen oder Hummeln.

Um so spannender war es, die Komponistin Se-Lien Chuang einzuladen, eine Klanginstallation zu einem Kirschblütenfest zu erarbeiten. Entstanden ist eine sehr genaue und subtile Arbeit, ohne vordergründige Effekte, die man bereits nach dem zweiten Hören zuzuordnen vermag, eine Arbeit, die sich auch nach oftmaligem Hören neu erschließt, mehr noch, auf eigentümliche Weise nahezu bruchlos mit nahen Naturgeräuschen oder auch mit solchen des fernen Flug- und Straßenverkehrs verschwimmt. Besucher neigten dazu, solche Geräusche als Teil der Komposition zu hören, und dies auch dann noch, als aus den Boxen kein Klang mehr zu hören war. So betrachtet hat die Komposition die Wahrnehmung geschärft. Vielleicht verdankt sich dies auch der Tatsache, dass Se-Lien Chuang ganz vom Klang und seinen vielfältigen Nuancen ausging und ihr pflanzenphysiologische Betrachtungen eher fremd sind.

Photo: Bernhard Kathan


Technische Daten:
Titel der Arbeit: Zum Kirschblütenfest
8-Kanal Computerkomposition, realisiert im elektronischen Studio der TU Berlin 2005.
Dauer: 10.26 Min.
Die elektroakustischen Klänge wurden einerseits aus einer einzigen Aufnahme eines Tones eines arco-pianos (ein mit Bogenhaar gespieltes Klavier) durch GRM-, Waves- sowie TDM plugins prozessiert, und andererseits mittels eigener Programmierung in SuperCollider unter der Verwendung von ProTools und zahlreicher Plugins synthetisch generiert: GRM Tools (Equalize, FreqWarp, Freezing, Doppler, Contrast), X-Noise, Mod Delay II Long, MondoMod, Digirack TimeAdjuster, AudioTrack, SuperTab, Waves Doubler4 u.a.

Komm, mein lieber Hut,
Pilgern wir nach Yoshino,
Kirschblüten schaun!

Matsuo Basho


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