KWAN
O Kirschblütenfest! O süßester Tag!
KOTARO
Verrate mich nicht, Liebster, verrate mich nicht! Heute ist
Maskenfreiheit - laß mir heute meine Maske - die ich um deinetwillen
angelegt - was morgen sein wird - wer weiß es - viele Blüten - sind
morgen schon verwelkt, zertreten - zerstampft - der rauhe
Norwestwind - hat sie vom Zweig geweht -
Klabund, Das Kirschblütenfest
Klabund beschäftigt sich in seinem Spiel
Das Kirschblütenfest - er
bearbeitete eine japanische Vorlage - mit dem Motiv des stellvertretenden
Todes. Der Lehrer GENZO hat KWAN, den Sohn des ermordeten Gottkönigs in
seine Obhut genommen, in der Hoffnung, dieser werde den Tyrannen, den Mörder
des Königs stürzen und zum Herrscher werden. Als der Tyrann in Erfahrung
bringt, KWAN sei ein Schüler GENZOS, schickt er seine Knechte aus, um ihn
töten zu lassen. Um KWAN zu retten, schlägt GENZO dem Schüler KOTARO, der
KWAN sehr ähnlich sieht, den Kopf ab und gibt diesen als den von KWAN aus.
KOTARO heißt eigentlich KOMACHI und ist ein Mädchen. Sie fügt sich wissend
in den Tod, um KWANs Leben zu retten. Nicht zufällig bildet ein
Kirschblütenfest den Hintergrund von Klabunds Spiel. Die aufbrechenden
Blüten bedeuten nicht allein das Ende des Winters, sie verweisen auch auf
die Vergänglichkeit und Verletzlichkeit des Lebens. Kirschblüten werden auch
mit Schnee, also mit dem Tod assoziiert. Weiß ist Farbe der Trauer. Die
Blütenpracht ist von kurzer Dauer. Im Gegensatz zu den mythischen Vorlagen
verliert der stellvertretende Tod bei Klabund jeden Sinn. KWAN stößt sich
ein Messer ins Herz und bricht über der Leiche der ermordeten KOMACHI
zusammen.
Das Fallen der Blüten. Wie innig.
Und Weh-en des Windes. Hautnah.
Se-Lien Chuang
Blütenfeste kennen vor allem ostasiatische Kulturen. Im Museum für
Ostasiatische Kunst in Köln befindet sich ein Wandschirm eines unbekannten
Meisters der mittleren Edo-Zeit mit der Darstellung eines chinesischen
Blütenfestes. Auf den Terrassen einer Palastanlage wird dem Frühling
gehuldigt: “Der Hausherr und seine Frauen sehen dabei dem spielerischen
Fechtkampf mit an Stangen befestigten Blumensträußen ihrer zahlreichen
Dienerinnen zu und lauschen dem Geläute der von den Mädchen an Seidenbändern
im blühenden Kirschbaum bewegten Schellen. Hunde und Papageien werden
ausgeführt und Erfrischungen in goldenen Gefäßen angeboten.” Eine
Steigerungsform findet sich dort, wo Herrscher Glöckchen an blühenden Bäumen
befestigten, um Vögel von den Blüten fernzuhalten. Unsere Tradition kennt
keine Kirschblütenfeste, selbst Dörfer wie Fraxern nicht, in denen seit
Jahrhunderten Kirschbäume kultiviert werden. In Fraxern bildeten Kirschen
eine wichtige Einnahmequelle in einer subsistenzwirtschaftlich
strukturierten Landwirtschaft. Eine gute Blüte versprach einzig eine reiche
Ernte. Niemand wäre auf die Idee gekommen, unter blühenden Kirschbäumen ein
Fest zu feiern. Dies hat auch damit zu tun, dass es christlichen
Vorstellungen fremd ist, das Göttliche in der Natur zu suchen. Dennoch ist
die christliche Tradition nicht frei von Vegetationsbildern. So wird etwa
Christus mit einem Weinstock gleichgesetzt. Ostern fällt in die Zeit des
Frühlingsbeginns. Noch vor wenigen Jahrzehnten wurde am Fronleichnamsfest
der Leib des Herrn oder das auf diesen verweisende Zeichen auf
blütenbestreuten Wegen durch das Dorf getragen. Man könnte das
Fronleichnamsfest auch Tag des Blütenopfers nennen.
Heute mangelt es auch in der westlichen Welt nicht an Kirschblütenfesten. In
der Regel werden diese von Tourismusverbänden organisiert. Solche Feste
haben alle Erinnerung an archaische Vegetationsmythen abgestreift. Blühende
Kirschbäume werden einzig als ästhetisches Phänomen betrachtet. Wie
vermöchten Vegetationsmythen noch eine Rolle zu spielen, haben wir uns doch
mit Hilfe der Agroindustrie, des Transportwesens oder der Kühltechnik von
der Natur emanzipiert. Nachdem die Bahn der Erde um die Sonne berechnet,
Meteorologen Temperaturschwankungen oder den ausbleibenden Regen erklären,
mehr noch, wir täglich in den Wetterberichten des Fernsehens dank der dort
gezeigten Satellitenaufnahmen die Bewegungen der Wolken über die Erde
verfolgen können, ist uns die Angst fremd geworden, das Frühjahr könnte
ausbleiben. In einer Zeit landwirtschaftlicher Überproduktion benötigen wir
keine magischen Handlungen mehr, die einmal notwendig waren, um die
Vegetation in Gang zu setzen oder in Gang zu halten. In bestimmten
Tourismusregionen kann der Winter gar nicht lange genug dauern und wird er
auch längst mit Hilfe der Technik künstlich verlängert. Hinzuzufügen ist
noch, dass das Lebendige für den Menschen jedes Geheimnis verloren hat. Die
Blüten - so wissen wir es - öffnen sich infolge osmotischen Drucks, die
Bestäubung geschieht durch Bienen, Wildbienen oder Hummeln.
Um so spannender war es, die Komponistin Se-Lien Chuang einzuladen, eine
Klanginstallation zu einem Kirschblütenfest zu erarbeiten. Entstanden ist
eine sehr genaue und subtile Arbeit, ohne vordergründige Effekte, die man
bereits nach dem zweiten Hören zuzuordnen vermag, eine Arbeit, die sich auch
nach oftmaligem Hören neu erschließt, mehr noch, auf eigentümliche Weise
nahezu bruchlos mit nahen Naturgeräuschen oder auch mit solchen des fernen
Flug- und Straßenverkehrs verschwimmt. Besucher neigten dazu, solche
Geräusche als Teil der Komposition zu hören, und dies auch dann noch, als
aus den Boxen kein Klang mehr zu hören war. So betrachtet hat die
Komposition die Wahrnehmung geschärft. Vielleicht verdankt sich dies auch
der Tatsache, dass Se-Lien Chuang ganz vom Klang und seinen vielfältigen
Nuancen ausging und ihr pflanzenphysiologische Betrachtungen eher fremd sind.
Technische Daten:
Titel der Arbeit: Zum Kirschblütenfest
8-Kanal Computerkomposition, realisiert im elektronischen Studio der TU Berlin 2005.
Dauer: 10.26 Min.
Die elektroakustischen Klänge wurden einerseits aus einer einzigen Aufnahme
eines Tones eines arco-pianos (ein mit Bogenhaar gespieltes Klavier) durch
GRM-, Waves- sowie TDM plugins prozessiert, und andererseits mittels eigener
Programmierung in SuperCollider unter der Verwendung von ProTools und
zahlreicher Plugins synthetisch generiert: GRM Tools (Equalize, FreqWarp,
Freezing, Doppler, Contrast), X-Noise, Mod Delay II Long, MondoMod, Digirack
TimeAdjuster, AudioTrack, SuperTab, Waves Doubler4 u.a.
Komm, mein lieber Hut,
Pilgern wir nach Yoshino,
Kirschblüten schaun!
Matsuo Basho