Die FPÖ als Klagemeute
„Im neuen Lager wird die Klage fortgesetzt. Die Erregung, die der Gruppe das
heftige Gefühl ihrer Einheit verlieh, wird nicht gleich aufgegeben. Man
braucht dieses Gefühl mehr als je, denn man ist in Gefahr. Man stellt den
Schmerz zur Schau, indem man sich weiterverletzt. Es ist wie ein Krieg; aber
was der Feind einem tun könnte, das tut man selbst. Der Mann, der 23 Narben
von solchen Wunden an seinem Körper trägt, betrachtet sie als Ehrenzeichen,
als hätte er sie aus Kriegszügen zurückgebracht.“
Elias Canetti, Masse und Macht
Vertreter der FPÖ oder ihr nahestehender Gruppen machen immer wieder durch
Kommentare auf sich aufmerksam, in denen Opfer als Täter und Täter als Opfer
auftreten. Das gilt etwa, werden Mauthausenhäftlinge als „Massenmörder“ oder
als „Landplage“ diffamiert. Diese Verdrehung ist himmelschreiend, fand doch
in Mauthausen ein wirklicher Massenmord statt, und zwar an Häftlingen. Sagt
Strache: „Wir sind die neuen Juden“, dann ist dies widerlich, sieht er sich
doch in der Tradition jener Ideologie, die die systematische Vernichtung der
Juden betrieben hat. Es ist widerlich, weil er bzw. die Partei, deren
Vorsitzender ist, systematisch Vorurteile gegen bestimmte Gruppen schürt.
Asylanten, also Menschen, die aus Kriegsgebieten geflohen und auf
gefährlichem Weg nach Europa gelangt sind, werden kollektiv als
Bedrohungspotenzial behauptet, und sei es mit erfundenen Geschichten.
Verliert die FPÖ eine Wahl, dann fühlt sie sich um den Wahlsieg betrogen.
Ständig wir geklagt, Opfer von Medien- und Hetzkampagnen zu sein.
All dem ist mit rationalen Argumenten nicht beizukommen. Also muss man sich
mit Gefühlen beschäftigen, die solchen Verdrehungen zugrunde liegen.
Strache, Hofer und wie sie alle heißen, erleben sich tatsächlich als Opfer.
Das muss man anerkennen, zumindest zur Kenntnis nehmen. Die FPÖ ist die
Opfer-Partei schlechthin. Diese Partei führt eine ständige Klage. Die FPÖ
ist nach Canetti als Klagemeute zu beschreiben.
Nicht wenige FPÖ-Funktionäre haben einen nationalsozialistischen
Familienhintergrund. Der Verband der Unabhängigen, die Vorgängerpartei der
FPÖ, sah sich als politische Vertretung ehemaliger NSDAP-Mitglieder,
Heimatvertriebener und Heimkehrer. Und da gibt es viel zu klagen. Man denke
an Hitlers Tod, an den Tod des Erlösers, an das Scheitern des
Heilsversprechens, an das desaströse Ende der NS-Zeit. Ohne es auszusprechen
beklagen sie das Unrecht, das ihren Eltern und Großeltern im Zuge der
Entnazifizierung angetan wurde, sie beklagen die Enteignungen (verschweigen
aber, dass es sich zumeist um geraubtes Vermögen handelte), sie gedenken der
vielen Nazis, die sich 1945 das Leben nahmen oder hingerichtet wurden
(gemessen an der Zahl der Opfer des NS-Terrors nehmen sich die
diesbezüglichen Zahlen recht bescheiden aus), beklagen die Vertreibungen der
Sudetendeutschen wie anderer Volksdeutscher (ohne hinzuzufügen, dass diese
Folge systematischer NS-Gewalt waren). All das hat sich
familiengeschichtlich eingeschrieben. Wir haben es mit Leuten zu tun, die
von klein an mit dem Gefühl aufgewachsen sind, einer Familie zu entstammen,
der sehr viel Gewalt angetan wurde. Ihre Klagen werden nicht zuletzt dadurch
genährt, als sie ständig erleben, keine Klage führen, ihren Gefühlen nicht
Ausdruck verleihen zu dürfen. Aber so absurd es auch ist, an ihren
Empfindungen ist, um Freud zu zitieren, nicht zu zweifeln, mehr noch, man
muss sich ihre Gefühle als Energie mit beachtlicher Schubkraft vorstellen,
zumal sich in unserer Gesellschaft viele, wenn oft auch aus anderen Gründen,
als Verlierer und Opfer fühlen.
Beschäftigt man sich mit FPÖ-Politikern, dann fällt auf, dass das
Familiengeschichtliche weitgehend in ein Dunkel gehüllt bleibt. Hinweise
finden sich etwa, nennt ein Politiker wie Manfred Haimbuchner als
Lieblingslektüre Ernst von Salomons Roman „Der Fragebogen“ aus dem Jahr
1951. Der Autor machte sich zum Sprachrohr derjenigen, die die Niederlage
Hitler-Deutschlands nicht als Befreiung, sondern als totale Niederlage
erlebten, was in den Entnazifizierungsverfahren, um die sich der Roman
dreht, konflikthaft erfahren wurde, ging es doch um eigene Verstrickungen
und Schuld.
Bei Salomon finden sich bereits die sattsam bekannten Verdrehungen: „Mein
Reisepaß lief im Jahre 1938 ab und wurde nicht erneuert. Ich machte auch
keinerlei Anstrengung, mir einen neuen Reisepaß zu beschaffen. Damals
starben viele Leute, deren Tod als Selbstmord bezeichnet wurde. Einige
Freunde von mir beschlossen daraufhin, sich gegenseitig in die Hand zu
versprechen, daß sie zweierlei Dinge niemals unternehmen werden: Sie werden
keinen Selbstmord begehen und sie werden nicht emigrieren. Ich schloß mich
dieser Abmachung an.“ Nicht Salomon, vor allem Juden waren 1938 gezwungen,
wollten sie der Verfolgung entgehen, zu emigrieren. Viele, so etwa auch Egon
Friedell, nahmen sich das Leben. Salomon, er war eine schillernde Figur und
ging bereits früh auf Distanz zu den Nazis, war nie ernsthaft bedroht. Auch
er war vom Gedanken beseelt, Deutschland zu neuer Größe zu führen.
Bezugnehmend auf seine Internierung wegen „aktiver Feindschaft gegen die
Weimarer Republik und seiner Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie“
schreibt er: „Ich habe immer wieder den Wunsch verspürt, einmal all die
Geschichten aus dem Kittchen aufzuschreiben. Mir haben die Gefangenen
bedeutend mehr erzählt, als je ein Untersuchungsrichter zu erfahren bekommen
hat. Und so ein Zuchthaus ist eben doch ein Mikrokosmos. Aber ich scheue
mich, diese Dinge heute zu veröffentlichen; gerade heute, wo so viele ins
Gefängnis müssen, wo die harten Urteile allerorten nur so prasseln, wahllos
und hemmungslos, möchte ich der so weit verbreiteten Ansicht nicht neue
Nahrung geben, daß das Gefängnisleben eigentlich ganz fidel sei.“ Selbst
dann, wenn man heute in den damaligen Verfahren manche Mängel erkennen kann,
so muss doch festgehalten werden, dass diese weitgehend korrekt durchgeführt
wurden. So hatten etwa die Beschuldigten im Mauthausen-Hauptprozess
Verteidiger, Entlastungszeugen konnten geladen werden, die Gefangenen
konnten Briefe schreiben, Gnadengesuche waren möglich und so fort. Die
„harten Urteile“, die „allerorten nur so prasseln, wahllos und hemmungslos“,
nehmen sich doch recht bescheiden aus angesichts der vollkommenen
Rechtlosigkeit all jener, die Opfer des NS-Unrechtsstaates wurden. Heute
wissen wir, dass viele Täter nie belangt, und wenn, zumeist nach kürzester
Zeit wieder freikamen.
Haimbuchner findet Trost bei Ernst von Salomon. „Die Wolfshaut“, ein Roman
des österreichischen Autors Hans Lebert, hat er sicher nicht gelesen. Dort
ließe sich einiges über das düstere Fortwirken nationalsozialistischer
Wirklichkeit erfahren. Das Dorf, in dem die Geschichte spielt, nennt sich
übrigens „Schweigen“. Das Verdrängte, das Schweigen, ist besonders beredt,
wofür die FPÖ ein gutes Beispiel ist.
Man müsste die Klagen all dieser Leute ernst nehmen. Aber wie? Um diese
Gefühle anzuerkennen, müsste man Fragen stellen dürfen. Es lohnte sich,
einen Fragebogen zu erstellen: War Ihr Vater oder Großvater Mitglied der
NSDAP? Wenn ja, wann ist er in die Partei eingetreten? Trat er der SS bei?
Wenn ja, welcher Einheit? Wie gestaltete sich die ökonomische Situation
ihrer Eltern oder Großeltern während der NS-Zeit? Wie wurde das Ende der
NS-Zeit erlebt? Gab es damals in der Familie Suicide? Wie wurde über Hitlers
Selbstmord gesprochen? Wurden Ihre Eltern oder Großeltern im Zuge eines
Entnazifizierungsverfahrens enteignet? Und so weiter.
Wer immer sich in der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit auf seine eigene
Familiengeschichte einlässt, der wird vieles anders sehen, Distanz gewinnen,
nicht länger Programm sein. Eine solche Auseinandersetzung kann schmerzlich,
aber auch befreiend sein. Und dabei denke ich nicht nur an Menschen, die aus
dezidierten Täterfamilien stammen. Oft genug hört man, jetzt müsse doch
endlich Schluss sein mit der Vergangenheit. Aber die Vergangenheit kann man
nur hinter sich lassen, hat man sich mit ihr beschäftigt, und das bedeutet,
nicht nur nach Bestätigungen der eigenen Weltsicht zu suchen. Da lohnt sich
Sigmund Freuds Aufsatz „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten.“ Richtet
man sich in der emotionalen Puppenküche ein, dann steht zu befürchten, noch
einmal alles wiederholen zu müssen.
Ich habe mir in letzter Zeit wiederholt gedacht, wie es etwa wäre, würde ich
mit Haimbuchner einen Spaziergang durch das Gelände in Mauthausen machen und
mich mit ihm über seine Familiengeschichte unterhalten. Von Linz wäre es ja
nicht sehr weit. Aber das scheint mir völlig undenkbar. Dafür dürfte der
familiengeschichtliche Rucksack zu sehr mit dem eigenen Körper verwachsen
sein. So schwer die Bürde, sie abzulegen käme einem Ich-Verlust gleich. Und
dann sind solche Leute zutiefst vom Gedanken beseelt, die Katastrophe hätte
sich verhindern lassen, hätte man nur da oder dort an einer kleinen Schraube
gedreht. Schon Salomon dachte, wäre Röhm nicht ermordet worden, dann wäre
alles gut gegangen. An der Maschine selbst haben sie nach wie vor nicht den
geringsten Zweifel.
Die von mir gedachten Gespräche werden die Ausnahme bleiben. Aber es müsste
doch möglich sein, etwa nach einem unsäglichen Sager die Familiengeschichte
zu befragen. Freilich könnte das nur gelingen, sofern sich die Fragenden mit
den eigenen familiengeschichtlichen NS-Vertrickungen beschäftigt haben.
Macht man das nicht, wird man zum Zuträger der Klagemeute.
© Bernhard Kathan, 2016