Wandlungen der Disziplinierung
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1908. Eine Klasse einer Mädchenschule im Bregenzerwald. 42 Mädchen, in der
Mitte eine Nonne. Die Aufnahme ist genau arrangiert. Es wurden eigens dicke
Bretter aufgelegt, damit die kleineren Mädchen sicher auf ihren Stühlen
sitzen können, Bretter auf Holzblöcken, damit die Mädchen der hinteren
Reihen tribünenartig zur Geltung kommen. Die Mädchen haben ihre Haare streng
nach hinten gekämmt, wo sie in Zöpfen enden. Ihre Kleider, in mühevoller
Handarbeit aufwendig mit Schmuckbändern versehen, reichen bis zu den
Knöcheln. Die Mädchen wirken starr, was wohl auch damit zu tun haben mag,
dass die Belichtungszeiten damals noch lang waren. Nur das Mädchen hinter
der Nonne, fast schon eine junge Frau, lächelt und denkt sich das seine. Die
wichtigste Figur ist die Nonne im Zentrum der Abbildung. Sie ist nur wenige
Jahre älter als die ältesten der Mädchen. Man sieht es, vergrößert man ihr
Gesicht. Mit starrem und finsterem Blick stellt sie sich dem Fotografen. Wie
kam sie ins Kloster? Was dachte sie über die heranwachsenden Mädchen, von
denen manche schon bald heiraten sollten, also ein ganz anderes Leben führen
als sie selbst?
Auf frühen Klassenfotos ist selten ein Lächeln zu sehen. Zumeist wirken die
Schüler sehr steif. Lehrer und Pfarrer sitzen in der Regel zentriert, als
drehte sich der ganze kleine Schulkosmos um sie. In Dorfschulen war dies der
Fall. Auf Aufnahmen, die Schüler während des Unterrichts zeigen, geht es
nicht weniger steif zu. Die Hände der Schüler hatten, waren sie nicht mit
Schreiben beschäftigt, still auf der Pultfläche zu liegen. Der Unterricht
war damals ohne Strafen undenkbar. Angst war eine wichtige Erfahrung vieler
Schüler. Ältere Menschen, die Klassenfotos für dieses Projekt zur Verfügung
stellten, erwähnten immer wieder Strafen, die in ihrer Kindheit den
Schulalltag begleitet hatten. Der Zeigestock diente nicht nur zum Zeigen,
sondern auch der Züchtigung. Es gab Tatzen, also Schläge mit dem Stock auf
die Handfläche. Kinder wurden bestraft, in dem sie mit ausgestreckten Armen
stehen oder knien mussten. Dabei konnten die Hände mit einem dicken Buch
beschwert werden. Es wurde an Ohren und Haaren gezogen, gezwickt und
geschlagen. Während des Unterrichts müsse es, so trichterte man Schülern
ein, so ruhig sein, dass man eine Nadel fallen höre. So wundert es denn auch
nicht, dass auf manchen in Klassenzimmern aufgenommenen Fotos Schüler nicht
wagen, in die Kamera zu blicken.
All das ist zum Glück Vergangenheit. Glaubt man heutigen Zeitungsberichten,
dann werden Lehrer heute öfter von Schülern geschlagen als Schüler von
Lehrern. Klassenfotos dokumentieren sehr gut den Wandel der Schule. Auf
heutigen Klassenfotos verdankt sich die Aufstellung der Kinder nicht mehr
der Anordnung von Erwachsenen. Jeder Schüler sucht sich seinen eigenen
Platz. Es wird gelächelt, gelacht. Selbst verrückte und verrenkte
Körperhaltungen dürfen eingenommen werden. Vor allem sind die Lehrer aus dem
Zentrum solcher Aufnahmen verschwunden.
Nur einige Beispiele, was sich anhand von Klassenfotos ablesen lässt:
Irgendwann werden Schüler nicht mehr in eine Art miniaturisierter
Erwachsenenkleidung gesteckt, irgendwann müssen die Hände nicht mehr auf der
Pultfläche liegen, irgendwann ist die letzte Lederhose verschwunden, der
letzte Mädchenzopf abgeschnitten, irgendwann tritt an die Stelle
selbstgenähter Kinderkleidung das Sortiment des Warenhauses. Spätestens in
den 60er und 70er Jahren verschwanden Schulbänke mit schrägen Pultflächen
aus den Klassenzimmern. An die Stelle von Riemen- oder Parkettböden traten
leicht zu reinigende PVC-Böden. Irgendwann tauchen die ersten
Migrantenkinder auf, die unschwer an ihrer Hautfarbe oder an ihrer Kleidung
(kopftuchtragende Mädchen) zu erkennen sind. Längst hat sich die Koedukation
durchgesetzt. Irgendwann wurde das "Cheese", oder die Aufforderung "Bitte
lächeln" eingeführt. Heute wiederum finden digitale Bearbeitungstechniken
ihren Niederschlag in Klassenfotos. Der Hintergrund lässt sich verwischen
oder beliebig austauschen, Gesichter lassen sich ausschneiden und auf der
Fassade des Schulgebäudes anordnen. An die Stelle des Fotografierens tritt
die Bildbearbeitung. Ein besonders wichtiger Schnitt in dieser Geschichte:
das Auftauchen der ersten Logos auf T-Shirts. In diesem Augenblick werden
die Schüler zu Zeichenträgern. Betrachtet man Klassenfotos der letzten
Jahre, dann fallen die Posen auf, die heutige Schüler einnehmen. Sie zeigen
sich wie sie gesehen werden wollen, und zwar in Posen, die allesamt dem
Kino, dem Fernsehn, Videoclips oder der Werbung entnommen sind, sie
verhalten sich, als sei ihr Leben eine ununterbrochene Casting-Show.
Sind heutige Kinder in der Schule deshalb freier? Auf den ersten Blick ja.
Hat man das Glück, unter den frühen Klassenfotos auch Aufnahmen zu finden,
die dieselben Kinder beim Spielen in Schulhöfen zeigen, dann fällt auf, dass
diese Kinder nicht einfach still saßen, sondern eine wesentlich
körperbetontere Seite kannten. Da raufen etwa Mädchen mit Buben um einen
Ball, mögen diese auch viel größer sein, ohne große Scheu, dabei selbst auf
den Boden gedrückt zu werden. Offensichtlich hat sich die Disziplinierung
von außen nach innen verlagert. Heutige Schüler müssen keine Schläge mehr
fürchten. Sie disziplinieren sich selbst. Sie werden weniger durch Lehrer
als durch Moden und neue Technologien diszipliniert und geformt. Heutige
Eltern sind um die bestmöglichen Startpositionen ihrer Kinder bemüht. In
welche Schule sollen wir unser Kind schicken? Die Kinder wiederum sind zu
enormen Adaptionsleistungen in einer zunehmend unsicheren Welt verdammt. Und
wie die Schule nicht mehr zu bilden, sondern nur noch auf lebenslanges
Umlernen vorzubereiten vermag, so sind die Schüler von heute gezwungen, ihre
Identitätsausstattung mode- und marktgerecht stetig nachzurüsten. Heutige
Schüler sind zu ständiger Identitätsarbeit gezwungen. Ihre
Selbstdisziplinierung verdankt sich einem Markt, den sie miterfinden und
bestätigen, einem Markt übrigens, der nicht wenige von ihnen aussortieren
wird.
Bernhard Kathan
21/12/2008
PS.: Das Hidden Museum wird sich weiterhin mit Klassenfotos beschäftigen.
Zusendungen von Klassenfotos aller Art freuen uns: Postweg (die Originale
werden umgehend zurückgeschickt), digital (in hoher Auflösung).