MIT THUKYDIDES KOBANE LESEN
"Was aber tatsächlich geschah in dem Kriege, erlaubte ich mir nicht nach
Auskünften der ersten besten aufzuschreiben, auch nicht ‚nach meinem
Dafürhalten', sondern bin Selbsterlebtem und Nachrichten von andern mit
aller erreichbaren Genauigkeit bis ins einzelne nachgegangen. Mühsam war
diese Forschung, weil die Zeugen der einzelnen Ereignisse nicht dasselbe
über dasselbe aussagten, sondern je nach Gunst oder Gedächtnis. Zum Zuhören
wird vielleicht diese undichterische Darstellung minder ergötzlich
erscheinen; wer aber das Gewesene klar erkennen will und damit auch das
Künftige, das wieder einmal, nach der menschlichen Natur, gleich oder
ähnlich sein wird, der mag sie so für nützlich halten, und das soll mir
genug sein: zum dauernden Besitz, nicht als Prunkstück fürs einmalige Hören
ist sie verfaßt."
Thukydides, Der Peloponnesische Krieg
13.11.2014, 15:16 Uhr ... Schwarze Wolken ballen sich über Kobane: Die
Gefechte zwischen Kurden und der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) um die
syrische Grenzstadt Kobane gehen mit unverminderter Heftigkeit weiter.
Augenzeugen meldeten mehrere Luftangriffe des von den USA angeführten
Bündnisses auf den IS. Die Kurden berichteten von militärischen Erfolgen im
Osten und Süden. Idris Nassan, ein Sprecher für auswärtige Angelegenheiten
in Kobane, sagte der Nachrichtenagentur dpa, dass die Kämpfer die
Dschihadisten aber nur langsam zurücktrieben, um Verluste in den eigenen
Reihen gering zu halten. Aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen des IS werde
nach jedem Angriff auf die Extremisten die Umgebung systematisch durchkämmt
...
Eine von vielen Kriegsnachrichten dieser Tage. Kaum einer der Texte
beschäftigt sich mit grundsätzlicheren Fragen. Man sollte Carl von
Clausewitz, Cordwainer Smith und andere lesen. Das HIDDEN MUSEUM hat sich
für Thukydides entschieden. Für den Peloponnesischen Krieg. Obwohl nun vor
2400 Jahren geschrieben, lohnt es sich, diesen Text wieder und wieder zu
lesen, seiner Klarheit wegen. Dass heute manches von Historikern anders
bewertet wird als von Thukydides, tut dem keinen Abbruch, ebensowenig wie
der Umstand, dass die heutige mit der damaligen Kriegsführung wenig gemein
hat: Es rücken keine Hopliten in enger Reihe auf ihre Gegner vor. Nur noch
in seltenen Fällen stehen sich die Gegner wirklich gegenüber. Drohnen,
Raketen wie andere fernwirkende Waffen, dazu sind auch neue Medien zu
zählen, haben zu einer Entgrenzung des Raumes geführt. Heute macht es keinen
Sinn mehr, den Paian zu singen, Gott zu Ehren, aber auch, um sich selbst Mut
zu machen und die Gegner einzuschüchtern, nach verlorener Schlacht, um die
Sieger zu besänftigen. Trotzdem. Thukydides ist nach wie vor aktuell.
Wir lesen uns täglich einige Seiten aus dem Peloponnesischen Krieg vor, wenn
möglich, dann an entsprechenden Orten, also Orten, die auf den Krieg
verweisen. Kürzlich lasen wir vor gelangweilt vorbeilaufenden
Museumsbesuchern in der Rüstkammer von Schloss Ambras. Blankpolierte
Rüstungen, ästhetisiert, anästhetisiert. Hier erinnert nichts an die
Gemetzel, weder an jene des Dreißigjährigen Krieges, noch an jene
Türkenkriege. Gezeigt werden Prunkstücke, Beutestücke. In einer Rüstkammer
versteht man wenig vom Wesen des Krieges. Ortswechsel. Während eines
Föhnsturmes lasen wir vor dem jüngst errichteten Mahnmal in der ehemaligen
Landesnervenheilanstalt in Hall. Es soll an die Opfer der NS-Psychiatrie
erinnern. Das Mahnmal befindet sich als raumgebendes Element zwischen einer
wohl nicht mehr häufig benutzten Minigolfanlage und der Einfahrt zu einer
Tiefgarage. Ein Mahnmal in der heute üblichen Gestik. Licht, Sichtbeton. Für
jedes der Opfer eine Leerstelle. Eine Leerstelle, ein Kreuz bildend, darf
nicht fehlen. Statt Auseinandersetzung Befriedung. Man spricht von
Erinnerung, möchte aber mit der Vergangenheit nichts mehr zu tun haben.
Thukydides ließ uns dieses Mahnmal anders sehen. Auf den Fertigteilplatten
Zertifikationsaufkleber: FERTIGTEILBAU KURZ CE 14992, WP2, Betongüte: C40/50
PBB4 (A), Herstellungstag: 22.04.2013, Auftrag: 131... Niemand hat sich die
Mühe gemacht, diese Aufkleber zu entfernen. Dabei sind jene, an die hier
erinnert werden soll, auch als Opfer eines Normierungswahnes zu betrachten.
Übrigens pflegten die Athener mit den Gebeinen der Toten, auch das lässt
sich Thukydides entnehmen, anders umzugehen.
Selbst in einer Stadt wie Innsbruck, die sich, was den Krieg betrifft, nicht
mit Städten wie Rotterdam, Hamburg, Dresden, St. Petersburg oder Hiroshima
vergleichen lässt, finden sich genügend Orte, die auf den Krieg verweisen.
Heute waren wir im Tirolpanorama. Im "Riesenrundgemälde", eine Bezeichnung,
die sich dem Spektakel, der Werbung verdankt, war es fast unmöglich,
Thukydides zu lesen. Das liegt nicht nur an der Akustik. Die Inszenierung
des Raumes, es ist die Schlacht am Bergisel zu sehen, steht in einem
absoluten Widerspruch zur stets um Sachlichkeit bemühten Schreibweise des
Thukydides. Wir lasen weiter im Kaiserjägermuseum, heute Teil des
Tirolpanoramas. Neben Garibaldis Sänfte, einem Beutestück. Mit Thukydides
sieht man alles anders. Ein Modell zeigt Tiroler Kaiserjäger im Jahr 1878
bei der Niederschlagung "bosnischer Insurgenten". Dass es sich um einen
Okkupationskrieg handelte, wird nicht erwähnt. Wir erfahren nichts über die
Motive der Aufständischen. Wohl wird uns mitgeteilt, das Bataillon sei nach
der Sprengung des Belagerungsringes zur "Säuberung" weiterer Ortschaften
eingesetzt worden: "11. September. Beginn einer Säuberungsaktion von Mostar
über Stolac gegen Bilac ... Die Besetzung der Herzogowina ging nicht ohne
Blutvergießen. Mehrere Aufstandsbewegungen aus verschiedenen Ursachen und
Ideologien tobten im Land." Am anderen Ende des Tirolpanoramas wird der
Freiheitskampf der Tiroler gefeiert. Hier werden "bayerische Kolonnen" von
Tiroler Freiheitskämpfern mit "gezieltem Gewehrfeuer empfangen". Thukydides
war vor 2400 Jahren genauer. Er war bemüht, beiden Seiten gerecht zu werden,
d.h. die Ursachen des Krieges wie seinen Verlauf umfassend zu analysieren
und darzustellen.
Es gibt allein in Innsbruck zahllose Orte, an denen sich Thukydides lesen
lässt. Helden- und Soldatenfriedhöfe. Reste militärischer Anlagen. Kasernen.
Das Zeughaus. Lesen in einem Zeitungskiosk. Warum nicht in der
Heimwerkerabteilung von BauMax. IKEA. Im Hofgarten. Da ging Andreas Hofer
kurzzeitig auf Hirschjagd. In der Hofkirche, einer beeindruckenden
dynastischen Behauptung, die sich nicht zuletzt zahlloser Schlachten
verdankt, was die Marmorreliefs, sie zeigen Episoden aus dem Leben Kaiser
Maximilians, am Sarkophag belegen. Sakralbauten lohnen sich immer, werden
doch Kriege, mögen sie sich auch diesseitigen Interessen verdanken, oft
genug unter dem Deckmantel der Religion ausgetragen. Der "Krieg gegen das
Böse", alles andere als eine Erfindung des Islamischen Staates. Man denke an
die für Kriegszwecke eingeschmolzenen Kirchenglocken. Das kannten bereits
die Athener. In der äußersten Not blieb ihnen das Gold, d.h. das abnehmbare
Kleid der Athene, immerhin vierzig Talente pures Gold. Und dann lohnen sich
Museumsbesuche. Um Kulissen geht es nicht. Man muss sich schon die Mühe
machen, ein Gemälde, ein Objekt, eine auffallende Struktur genauer zu
betrachten. Man kann sich auch mit einer einzigen Objektlegende
beschäftigen. Überhaupt, und das machen die bisherigen Erfahrungen deutlich,
lassen sich Orte wie Museen ganz anders nutzen. Man muss sie sich zu eigen
machen.
Wir werden uns weiter vorlesen, und zwar aus unterschiedlichen
Übersetzungen, Übertragungen, mit oder ohne Zuhörer, bis zu jener Stelle, an
der Thukydides mitten im Satz abbricht, im einundzwanzigsten Jahr des
Krieges.
Bernhard Kathan, Nov. 2014