Krankenschwestern an vorderster Front
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Den zerschmetterten Kopf verbinde ich, (arme irre Hand, reiß
den Verband nicht weg!
Den Hals des Kavalleristen mit dem Durchschuß untersuche ich,
Schwer rasselt der Atem, ruhig glänzt schon das Auge,
doch das Leben kämpft schwer,
(Komm, süßer Tod! lass dich überreden, O schöner Tod!
Voller Gnade komm rasch).
Walt Whitman, The Wound-Dresser |
Als die Deutschen nach der Besetzung der Tschechoslowakei in Prag eine
Studentenrevolte niederschlugen, arbeitete Simone Weil an einem Plan, mit
Fallschirmen Truppen und Waffen in der Tschechoslowakei abzusetzen. Ihre
pazifistischen Ideale hatte sie zu dieser Zeit längst hinter sich gelassen.
Statt dessen beschäftigte sie sich nun neben vielem anderen mit Fragen der
Kriegsführung. Sie überlegte, wie einem militärisch überlegenen Gegner eine
Invasion schwierig gemacht werden könne. Ihre Vorstellungen einer
dezentralen Organisation des politischen, wirtschaftlichen und sozialen
Lebens übertrug sie nun auf Fragen der Kriegsführung: "Keine Fronten bilden,
keine Städte belagern, dem Feind nachsetzen, seine Verbindungslinien
blockieren, ihn immer dort angreifen, wo er nicht darauf gefasst ist, ihn
demoralisieren und durch eine Reihe winziger, aber siegreicher Aktionen den
Widerstand anspornen." Ihre diesbezüglichen Überlegungen sollten sich später
mehrfach bestätigen, vorausgesetzt, der dezentral organisierte Widerstand
wurde von einer breiten Bevölkerung getragen. Ihr Plan, mit Fallschirmen den
inhaftierten Studenten zu Hilfe zu kommen, war jedoch sehr persönlich
motiviert. Sollte er verwirklicht werden, so wollte sie unbedingt selbst
daran teilnehmen, mehr noch, sie drohte, sich unter einen Autobus zu werfen,
sollte das Unternehmen ohne sie durchgeführt werden. Ab diesem Zeitpunkt
arbeitete sie an ihrem "Plan zu einer Gruppe von Krankenschwestern an
vorderster Front". Auf den Schlachtfeldern (von der Idee eines
Guerillakrieges war sie mittlerweile abgekommen) sollten junge Frauen
Verwundeten zu Hilfe kommen und Sterbenden in ihrem einsamen Todeskampf
beistehen. Simone Weil nahm in Kauf, dass die meisten dieser Sanitäterinnen
dabei zu Tode kommen, also eine Bluthochzeit feiern würden. Auch an diesem
Unternehmen wollte sie beteiligt, mehr noch, die erste dieser Frauen sein.
Das Abspringen mit dem Fallschirm muss Simone Weil fasziniert haben.
Verständlich, denkt man an ihren ungelenken Körper, dem sie alles mit
äußerster Disziplin abverlangen, abzwingen musste. Sie war ungeschickt,
meist kränkelnd, wurde oft genug von heftigen Schmerzen geplagt: "Ich bin
keiner Aufgabe, welche es auch sein möge, gewachsen, und dies gilt für alle
Bereiche. Ohne übermäßigen Einsatz aller Kräfte kann ich keine Arbeit
durchführen, und dabei habe ich im Herzen die Angst des Schwimmers, der sich
fragt, ob er die Kraft aufbringt, das Ufer zu erreichen." Dabei fühlte sie
sich im Meer wohl, "wie neugeboren", "reingewaschen von der ganzen
angehäuften Ermüdung", im Meer, "welch schönes Taufbecken, falls wir
torpediert werden!" Während das Wasser die Schwere des Körpers vergessen
macht, kommt beim Absprung mit einem Fallschirm eine gerichtete,
selbsttätige Fortbewegung auf ein Ziel hinzu, die Schwerkraft. Trotz ihrer
oft schneidenden Nüchternheit dachte sie sich den Fallschirmspringer
engelhaft, eben von oben, von Gott kommend. Ihre Biographin Simone Pétrement
erwähnt diesbezüglich folgende Erinnerung. Während eines Abendessens
(deutsche Truppen hatten Frankreich besetzt) spielte Simone Weil den Fall
durch, ein junger deutscher Fallschirmspringer würde auf der Terrasse des
Hauses landen, und fragte ihre Eltern, was sie unter diesen Umständen tun
würden. "Ihr Vater antwortete mit seinem gesundem Menschenverstand, dass er
falls möglich, den Fallschirmspringer der Polizei übergeben würde. Simone
erklärte, dass sie nicht weiter mit einem Menschen zu Abend essen könne, der
solche Absichten hatte. Ich glaubte zuerst, sie scherze, doch sie schien das
in vollem Ernst gesagt zu haben und hörte tatsächlich auf zu essen. Um sie
zum Weiteressen zu bewegen, versprach ihr Vater schließlich, dass er, falls
es dazu käme, den jungen Fallschirmspringer nicht der Polizei übergeben
würde."
Zur Verwirklichung ihres Planes nahm sie Kontakt mit unterschiedlichen
Personen auf, so mit dem Schriftsteller Joë Bousquet, der im Ersten
Weltkrieges von einer Kugel in die Wirbelsäule getroffen worden war, was ihn
zum Krüppel machte. Eine Stellungnahme des ehemaligen Offiziers, so hoffte
sie, könnte ihrem Plan Gewicht verleihen. Bousquet hielt ihren Plan für
durchführbar. Er riet ihr, diesen genauer zu erläutern und in manchen
Punkten zu ergänzen. Sie schrieb ihm: "Wenn es, wie ich hoffe, zu einem
Resultat führt, so wird dies nicht für mich getan sein, sondern durch mich
hindurch für andere, jüngere Brüder von Ihnen, die Ihnen unendlich teuer
sein müssen, da sie dem gleichen Schicksal unterworfen sind. Vielleicht
werden einige, wenn ihre letzte Stunde gekommen ist, Ihnen die Wohltat eines
Blickes verdanken, der ihren Blick erwidert."
Nach London ging Simone Weil in der Hoffnung, von dort aus ihren Plan
verwirklichen zu können. Sie wollte mit dem Fallschirm über dem besetzten
Frankreich abspringen, um als Partisanin gegen die deutschen Besatzer zu
kämpfen. Dafür nahm sie in Kauf, zumindest vorübergehend Dinge tun zu
müssen, die ihr nicht überzeugend erschienen, etwa Propagandaberichte für
die Presse zu verfassen. Sie absolvierte einen Erste-Hilfe-Kurs,
beschäftigte sich mit einem Lehrbuch zur Fliegerei und besorgte sich einen
Fallschirmspringerhelm. Sie versuchte, Auto fahren zu lernen. In ihrem
Umfeld stieß sie auf Unverständnis. De Gaulle soll ausgerufen haben: "Sie
ist ja verrückt." Fortan setzte sie alles daran, in einer gefährlichen
Mission nach Frankreich entsandt zu werden. Sie verstand die Gründe nicht,
die dagegen sprachen. Bereits während ihres kurzen Engagements im spanischen
Bürgerkrieg dachte sie an eine gefährliche Mission hinter den feindlichen
Linien. Dabei war sie so ungeschickt, dass andere unruhig wurden, wenn sie
auch nur mit einem Gewehr hantierte. Verletzt wurde Simone Weil nicht
während einer Kampfhandlung, sondern als sie aus Unachtsamkeit in eine
Pfanne mit siedendem Öl trat. Wie damals verstand sie auch jetzt nicht, dass
sie, würde sie gefangen genommen, auch andere gefährden würde. Sie war
ungeeignet für eine Aktion, die ein abgestimmtes Vorgehen verlangt hätte,
nicht nur durch ihre Unberechenbarkeit in vielen Dingen; sie war
kurzsichtig, litt oft an furchtbaren Kopfschmerzen und befand sich in einer
körperlich schlechten Verfassung.
Simone Weil fand genügend Gründe in der Außenwelt, die ihr Anlass boten sich
zu kasteien, den eigenen Körper zu einem "Instrument der Folter und des
Todes" für all das zu machen, was sie in ihrer Seele als mittelmäßig
betrachtete. In England weigerte sie sich mehr zu essen, als den Franzosen
auf den Lebensmittelkarten zugeteilt war. Wirklich zu hungern begann sie in
dem Augenblick, als ihr "Opferwunsch" abgelehnt wurde. Es muss für Simone
Weil wohl eine großartige Vorstellung gewesen sein, als wirkliches Opfer vom
Himmel zu fallen, sich einer absoluten Ohnmacht (für Außenstehende einer
tragischen Lächerlichkeit) auszuliefern. Mit einer Thérèse von Lisieux,
deren Erfolg sie darin sah, einen "Aufzug" erfunden zu haben, "mit dem man
in den Himmel gelangt", wusste sie wenig anzufangen. Nein, sie wollte vom
Himmel auf die Erde fallen. Simone Weil bezog sich auf archaische
Opfermythen, etwa auf den von Tacitus erwähnten Brauch der Germanen, ein
junges Mädchen vor die vorderste Schlachtreihe zu stellen. Der Absprung mit
dem Fallschirm als technische jungfräuliche Niederkunft, in der Geburt und
Tod in eins fällt, auch eine Art Vermählung, Hochzeit.
Ihren Plan verstand Simone Weil längst als Berufung, dessen Durchführung
ihren Tod zur Folge haben würde: "Ich will dienen, ich will dahin gehen, wo
die Gefährdung so groß wie nur möglich ist und wo mein Leben am wenigsten
geschützt sein wird. [...] Ich habe die feste Gewissheit, dass dies nicht
nur eine Frage des Charakters, sondern der Berufung ist ..." Sie reagierte
gekränkt, als eine ihrer Kameradinnen für einen Fallschirmeinsatz in
Frankreich ausgewählt wurde, und suchte diese zu überreden, ihr den Platz zu
überlassen. Statt im Feindesland fand sie sich in Krankenzimmern wieder,
umgeben von Krankenschwestern, von "einigen blutjungen, sehr netten
Engländerinnen", die so ganz anders waren als die von ihr erdachten
"Krankenschwestern an vorderster Front". Simone Weil starb am 24. August
1943 in Ashford. Auf dem Totenschein stand: "Versagen des Herzens ...
infolge Unterernährung und Lungentuberkulose. Die Verstorbene ... tötete
sich selbst durch ihre Weigerung zu essen, während ihr seelisches
Gleichgewicht gestört war."
Bernhard Kathan, 2010