In Mark Tanseys Gemälde
The innocent eye (1982) wird eine Kuh vor ein
lebensgroßes Rindergemälde geführt, welches von Museumspersonal und
Kunstexperten gerade enthüllt wird. Das Bild im Bild zeigt Paulus Potters
Der junge Stier aus dem Jahr 1647. Gespannt beobachten die Fachleute die
Reaktion der Kuh. Doch diese steht stumpfsinnig vor dem Gemälde. Nun ließe
sich einwenden, hätte der Künstler die beiden Rinder so täuschend echt
gemalt wie der antike Maler Xeuxis die Trauben, dann würde sich die Kuh
unter ihresgleichen sehen. Geben wir einmal jenen recht, die meinen, Tiere
würden kein Zeichenverständnis kennen, eine Kuh könne also das Abbild einer
Kuh nicht begreifen. Dies ließe sich auch umkehren. Vielleicht sind Kühe zu
klug, um auf ein Abbild hereinzufallen. Eine gemalte Kuh ist eben keine Kuh
und von einem gemalten Heuhaufen lässt sich nicht fressen. Etwas ähnliches
lässt sich bei vielen Tieren beobachten. Spielt man etwa einer Katze, die
gerade Junge geworfen hat, die Rufe eines Raubvogels vor, dann wird sie mit
großer Aufregung reagieren. Aber es dauert nicht lange und sie schenkt den
Lauten aus einem Tonträger keine Beachtung mehr.
Die moderne Kuhfotografie interessiert sich nicht für das Zeichenverständnis
von Kühen. In Fortsetzung jener Gemälde, die sich frühe Züchter von Rindern
oder Pferden anfertigen ließen, geht es ihr einzig um die Darstellung von
Charakteristika und Leistungsmerkmalen. Solche Aufnahmen beginnen einmal
damit, dass die Kühe herausgeputzt werden. Da darf auch nicht eine Spur von
Mist am Körper haften. Das Fell muss glänzen: "Martin Killewald [ein
bekannter Kuhfotograf] bürstet Britneys Schwanz. Damit sich der Schwanz
nicht zu fest im Wind bewegt, wird eine Schnur daran befestigt."
Anschließend werden die Kühe buchstäblich in Position gebracht, um etwa
Euter zur Geltung, Schwächen dagegen zum Verschwinden zu bringen. Die Beine
müssen richtig stehen. Das im Profil gezeigte Tier soll den Kopf heben. Als
Zeichen von Vitalität gelten hochgestellte Ohren. Dies kann mit Hilfe von
Spiegeln oder von Kassettenrekordern abgespieltem Kälbchenmuhen erreicht
werden. Man sieht es auf solchen Aufnahmen nicht, aber rechts außerhalb des
Bildrandes muss man sich Leute dazu denken, die mit Hilfe von Glöcken, Rufen
oder Gesten bemüht sind, die Kuh in die richtige Position zu bringen.
Auffallenderweise wird die Kuh in zweifacher Weise herausgelöst und so zur
Geltung gebracht, zum einen durch den gewählten Ausschnitt, zum anderen
durch ihre Isolierung aus jenem Feld, in dem sie sich üblicherweise bewegt.
Mag die Kuh Melkstände passieren, in einer solchen Umgebung ließe sie sich
nicht recht ins Bild setzen.
Über das Wesen von Kühen sagen solche Aufnahmen wenig oder gar nichts. Da
lohnt es sich, Aufnahmen von Kühen in alpinem Gelände zu machen, und zwar
immer bemüht, mit einem Tier auf diese oder jene Weise in Kontakt zu treten.
Selten wird man eine gute Aufnahme machen, steigt man nur aus dem Auto aus
und knipst eine Kuh. Man muss sich mit dem Gelände vertraut machen, in dem
sich Kühe bewegen. Man muss mit Kühen interagieren, sich zwischen sie
drängen, auch auf die Gefahr hin, beschmutzt oder vielleicht umgestoßen zu
werden. Macht man dies, dann wird man sehr unterschiedlichen Rindern und
Kühen begegnen. Manchmal scheinen Kühe zu posieren, so als wüssten sie um
die Fotografie. Und dann erlebt man wieder Situationen, in denen sich
dieselben Kühe völlig anders verhalten. Kühe können sich neugierig nähern,
so tun, als würden sie im Gras schnobern, den Kopf gesenkt. Dabei haben sie
nur uns im Auge. Was eine Kuh sieht, wenn sie seitlich von unten nach oben
blickt, ist schwer zu sagen. Auf jeden Fall ist dieses Schauen eng an die
Bewegung geknüpft, was deutlich wird, macht man eine Serie von Aufnahmen,
während sich eine Kuh nähert oder ausweicht. Darüber hat sich wohl noch kein
professioneller Kuhfotograf den Kopf zerbrochen, auch keiner der
Agraringenieure, die angesichts des ganzen Gestänges in engen und
geometrisch organisierten Laufställen von artgerechter Tierhaltung sprechen.
Üblicherweise kann man sich auch auf Almen Kühen ohne jede Gefahr nähern. Ob
eine Kuh nun scheu ist, ängstlich oder neugierig, all das lässt sich einfach
an ihrem Verhalten erkennen. Kürzlich wurde ich erstmals von einer Kuh
angegriffen. Auf einer abgelegenen Alm, die ich sehr gut kenne, wollte ich
Fotos von einer kleinen Herde mit Kälbern machen. Die Herde graste an einem
Hang, der am Fuße in ein flaches Wiesenstück überging, um dann an einer
Kante steil abzufallen. Da ich wusste, dass gegenüber Kühen mit Kälbern, die
nur noch wenig Kontakt mit Menschen haben, Vorsicht geboten ist, näherte ich
mich der Herde entlang eines steinigen Bachlaufes. Ich war mir sicher,
diesen Bach, von Stein zu Stein steigend, schneller überqueren zu können als
jede Kuh, die mit ihrem schweren Körper im Bachbett erst Halt finden muss.
Plötzlich löste sich eine Kuh aus dem Verband und trabte rasch auf mich zu,
ihren Schwanz gehoben, die Hörner gesenkt. Ich konnte mich gerade noch über
den Bach retten. Als ich mich umdrehte, grub sie ihre Hörner in die Erde und
warf Dreck und Steine auf. Die Kuh war in höchster Aufregung. Dann querte
auch sie den Bach. Ich hatte gerade genug Vorsprung, um die Kante zu
erreichen und mich in den von Wacholderbüschen, Heidelbeeren und Alpenrosen
bewachsenen Steilhang fallen zu lassen. Dorthin konnte sie mir nicht mehr
folgen, mochte ich auch nur wenige Meter unter ihr im Gestrüpp liegen.
Aufgeregt lief sie dann noch einige Zeit an der Kante hin und her. Ich bin
sicher, sie hätte mich auf ihre Hörner genommen. Auf dem Foto, welches ich
von dieser Kuh machte, ist sie mit straffem Rücken und erhobenem Kopf zu
sehen. Da bedurfte es keiner Rufe und Gesten, um den Mangel an Vitalität
auszugleichen.
Als ich anfing, Kühe zu fotografieren, beschäftigte mich - nennen wir es
einmal so - das Interaktionsverhalten von Kühen mit Menschen, in diesem Fall
mit mir als Fotografen. Ich dachte nicht an die Haltung von Kühen,
bestenfalls an Kühe in extremen Lagen, an behornte Kühe. Je länger ich
fotografierte, umso mehr wurde mir bewusst, dass jene Kühe endgültig
verschwinden, die in enger Bindung mit kleinen Bauern leben. In Zukunft
werden wir es mit anderen Kühen zu tun haben, mit Kühen, die sich anders
verhalten. Sie werden sich auch nicht in Heimatmuseen mit angeschlossenem
Gehege für alte Nutztierrassen finden. All diesen Tieren wird man den Wärter
ansehen, mag er auch den subsistenzwirtschaftlich lebenden Kleinbauern
mimen. Zweifellos lässt sich das genetische Material erhalten, nicht aber
die kulurellen Leistungen, die sich einstmals dem Rind verdankten.
Bernhard Kathan 07/08