Liebesversuche



Bild: Bernhard Kathan       Bild: Bernhard Kathan



„Billy ist als ein seniler Witwer schlafen gegangen und an seinem Hochzeitstag erwacht. Er ist 1955 durch eine Tür geschritten und 1941 durch eine andere herausgekommen. Er ist durch diese Tür zurückgegangen, um sich im Jahre 1963 wiederzufinden. Er habe viele Male seine Geburt und seinen Tod gesehen, sagt er, und stattet allen dazwischenliegenden Ereignissen aufs Geratewohl Besuche ab.“
Kurt Vonnegut, Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug

Die 1950 erschienene Erzählung „Adam der Zweite“ des österreichischen Trivialautors Alexander Niklitschek handelt von einem seltsamen Experiment. Ausgehend von der Annahme, dass die Instinkte des Menschen durch kulturelle Muster überformt und verschüttet seien, beschäftigt sich ein verrückter Wissenschaftler mit dem Paarungsverhalten zweier Menschen: „Es soll experimentell nachgewiesen werden, ob die zwei, völlig über alles im Dunkeln gelassen, es zur Nachkommenschaft bringen werden oder nicht!“ Zwei Säuglinge, ein Mädchen und ein Junge, werden, von wenigen Personen betreut, in getrennten Gehegen aufgezogen und bei Erreichen der Geschlechtsreife zusammengelassen. Sollte sich beim Mädchen keine Schwangerschaft einstellen, dann haben sich die Vermutungen des Wissenschaftlers bestätigt. Die beiden Versuchspersonen tragen die Namen Adam und Eva, das Versuchsgelände nennt sich Paradies. Auch an Schlangen fehlt es nicht. Aus Gründen der Tarnung wird in dem von einer Mauer umgebenen Gelände Schlangenserum produziert.

“Und haben sich schon Anhaltspunkte dafür gefunden, wie sich Adam der Zweite und Eva die Zweite zu dem Problem stellen?”
“Ich beobachte sie natürlich ziemlich genau daraufhin. Nun, sie hören die Stimme wohl, aber sie verstehen die Sprache, die zu ihnen spricht, nicht.”

Eigentlich gäbe es keinen Grund, heute noch eine so triviale Geschichte zu lesen, ließe die zeitliche Distanz nicht eine völlig andere Lesart zu. 1950, also nur wenige Jahre nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches gab es ein großes Bedürfnis nach entlastenden Gegenbildern. Damals wurden die Versuche, die NS-Ärzte an Menschen durchgeführt hatten, auch einer breiteren Öffentlichkeit allmählich bekannt. Es bedurfte entlastender Überschreibungen. 1959 erschien Hugo Glasers populärwissenschaftliches Buch „Dramatische Medizin“. Das Buch handelt von Ärzten, die im Dienste der Menschheit Selbstversuche durchführten. Glaser, der in Wien Medizingeschichte lehrte, widmet darin auch ein Kapitel den Unterdruckversuchen: „Überall meldeten sich Ärzte und Studenten der Medizin, die in Selbstversuchen das Ihrige zur Lösung dieser Frage beitragen wollten.“ In Wirklichkeit war bei vielen dieser wie bei anderen Versuchen der Tod der Versuchspersonen, die unter Gewaltandrohung dazu gezwungen wurden, einkalkuliert.

Bei Niklitschek findet sich eine andere Überschreibung, nämlich die Vorstellung, bei den Tätern habe es sich um verbrecherische Einzelpersonen gehandelt. Sein größenwahnsinniger Wissenschaftler ist so etwas wie ein Einzeltäter, dessen Verhalten letztlich entschuldigt wird, obwohl das Leben von Kindern vollkommen zerstört würde, setzte man sie tatsächlich solchen Bedingungen aus. Die beiden Säuglinge werden nicht geraubt oder deportiert, sondern Frauen abgekauft, die – so die Rechtfertigung – nicht in der Lage seien, sie zu erziehen und zu ernähren. Die Geschichte endet glücklich. Eva wird schwanger, die beiden lieben sich. Niklitschek erwähnt, solche Experimente seien bereits früher gemacht worden. Die erst kurz zurückliegende Vergangenheit mit ihren unmenschlichen Versuchen, zu denen auch Fruchtbarkeitsversuche zählten, bleibt dagegen unbenannt. Bei Niklitschek dient die Mauer mit der unter Hochspannung stehenden Stromleitung nicht dazu, eine Flucht der beiden Versuchspersonen, sondern das Eindringen Fremder zu verhindern. Auch wenn Niklitscheks Geschichte in den USA spielt, so sagt sie doch mehr über österreichische und wohl auch deutsche Befindlichkeiten in der unmittelbaren Nachkriegszeit, über die Versuche, Distanz zu der erst kurz zurückliegenden nationalsozialistischen Vergangenheit zu finden.

Niklitschek kannte offensichtlich Christoph Martin Wielands Text „Über die von J. J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche den wahren Stand der Natur des Menschen zu entdecken“. In dieser gegen Rousseau gerichteten Polemik weist Wieland die Vorstellungen vom „natürlichen Menschen“ anhand einer Reihe von praktischen Fragen ein solches Experiments zurück. Da es einer großen Anzahl an Kindern beiderlei Geschlechts bedürfte, die man in den Findelhäusern nicht zu beschaffen vermöge, komme wohl nur eine eigene zu diesem Zweck eingerichtete Fabrik in Frage. Und das könne wohl nur eine „Fabrik von Karaiben, Kaliforniern oder Patagonen“ sein, kämen diese doch dem Rousseauschen „Mann-Thier“ am nächsten. Der Versuch müsste in einem großen menschenleeren Areal durchgeführt werden, welches es erlaube, die Kinder so zu verteilen, dass sie „wenigstens dreyßig Meilen ringsum von einander abgesondert“ seien. Die nächste Schwierigkeit fände sich bereits bei den Ammen: „Wenn diese Damen unsern Kindern Liedchen vorleiern, mit ihnen schwatzen, sie ihre eigene schöne Sprache lehren, und ihnen Mährchen meiner Mutter Gans erzählen dürfen; - so haben wir alle diese unsägliche Mühe und Ausgaben, welche schon auf unsre Anstalten verwendet worden sind, umsonst gehabt!“ Die Ammen müssten also stumm sein wie es auch notwendig wäre, die Kinder, um jede Beeinflussung durch den Sehsinn auszuschließen, bis zu ihrer Aussetzung mit Binden zu versehen. Und sei dies alles gelungen und die Kinder endlich ausgesetzt, dann bedürfe es eigener Vorrichtungen, die es erlaubten, dass die „Filosofen alles sehr genau beobachten könnten, [und zwar!] ohne selbst wahrgenommen zu werden.“ Da dies nicht möglich sei, könne man die zum Versuch bestimmten Kinder nur zwanzig bis dreißig Jahre lang sich selbst überlassen, um nach Ablauf dieser Zeit zu sehen wie sich alles entwickelt habe. Bleibe nur noch, die Kinder, um verschiedene Versuche zu gleicher Zeit anzustellen, in vier voneinander getrennten Bezirken weit genug voneinander entfernt aufzuteilen: vier oder sechs Kinder desselben Geschlechts; etliche Paare beiderlei Geschlechts, nicht ohne jedes dieser Paare so weit als möglich von den anderen zu entfernen; eine größere, aber gleiche Anzahl Mädchen und Knaben, zerstreut, doch nahe genug, dass es ihnen möglich sei, sich „ohne große Reisen“ zu finden; schließlich zwei voneinander getrennte „Kolonien“, wobei in der einen die Knaben, in der anderen dagegen die Mädchen in einer deutlichen Überzahl wären. Nach solchen Überlegungen stellt er nüchtern fest: „So viele Schwierigkeiten fangen an verdrießlich zu werden“. Schließlich kommt er zum Ergebnis, durch ein solches Experiment könne man nicht mehr erfahren als das, was uns die Natur tausendfach vor die Nase gelegt habe. Bei Niklitschek verwandelte sich Wielands Gedankenspiel in eine Paradiesgeschichte, die ihn genau das nicht sehen ließ, was tausendfach vor seiner Nase lag. Es ist müßig, an dieser Stelle all die früheren Romanen entlehnten Motive aufzulisten. H.G. Wells, Maurice Renard, Alexander Beljajew und andere wären zu nennen.

Alexander Kluge verdanken wir mit seiner Erzählung „Ein Liebesversuch“ aus dem Jahr 1962 die wohl eindringlichste Beschreibung eines verwandten Experiments. Ein Mann und eine Frau werden nach einem an ihnen durchgeführten Sterilisationsversuch in einer Zelle zusammengebracht. Durch ein kleines Guckloch wird das Verhalten der beiden Versuchspersonen beobachtet. Das Experiment verläuft für die Versuchsleiter enttäuschend. Trotz unterschiedlichster Bemühungen stellen sich bei den beiden keine sexuellen Regungen ein. Kluges Erzählung bezieht sich auf die von NS-Ärzten durchgeführten experimentellen Vorarbeiten zur Massensterilisation mittels Röntgenbestrahlung. In kühlem, technischen Ton beantwortet ein Täter Fragen zu diesem Experiment. Abgesehen von einem zweizeiligen Einschub wie dem Schlußsatz – findet sich keine einzige Antwort, die in ihrem Tonfall wie ihrer Sprache nicht an die Protokolle des Nürnberger Ärzteprozesses erinnern würde. Der Schlusssatz lautet: „Soll das besagen, daß an einem bestimmten Punkt des Unglücks Liebe nicht mehr zu bewerkstelligen ist?“ Es geht nicht um die Frage, ob das von Kluge beschriebene Experiment je in dieser Form stattgefunden hat. Die Technokraten, die versuchten, die Massensterilisation möglichst reibungslos zu organisieren, hätten dafür wohl wenig Verständnis gehabt. Das Ejakulat ließ sich untersuchen. In gynäkologischen Abteilungen beschäftigten sich Ärzte mit künstlicher Befruchtung. Das Guckloch wie viele andere Partikel der Erzählung lassen sich dagegen ohne Mühe belegen.

Auch Niklitscheks Erzählung könnte den Titel „Ein Liebesversuch“ tragen. Aber da haben wir es mit einer trivialen, geradezu sentimentalen und verleugnenden Geschichte zu tun, dort mit einer zwar kurzen, aber höchst dichten und komplex gebauten Erzählung, die sich mit den Versuchen von NS-Ärzten beschäftigt und um deren innere Struktur bemüht. Im Gegensatz zu Niklitschek weist Kluge die Figur des fanatischen Arztes oder Wissenschaftlers zurück. Der befragte Versuchsleiter ist bestenfalls dienstbeflissen; er bleibt es selbst in der Befragung. So könnte auch einer sprechen, der damit beauftragt gewesen wäre, eine neue Legierung in der Motorentechnik zu erproben. Wurden die von NS-Medizinern durchgeführten Experimente auch von der Öffentlichkeit abgeschirmt durchgeführt, so war doch eine Vielzahl von Personen direkt oder indirekt eingebunden. Eine Reihe von Dienststellen waren damit befasst.

Kluges Text hat – etwa als Unterrichtsstoff – mehrfach zu Konflikten und Aufregung geführt. Nicht das Verbrechen, nicht der voyeuristisch-gewalttätige Blick, sondern das Bemühen, sich mit diesem zu beschäftigen, wurde als obszön betrachtet. In Niklitscheks Buch geschieht Sexualität in einem Zustand der Unschuld, wenngleich sich Adam und Eva gegen alle psychologischen Tatsachen verhalten. Auf der latenten Ebene behauptet die sentimentale Geschichte: der Mensch sei gut, die Kultur verderbe ihn. Nach dem Ende des Naziregimes war dies eine entlastende Behauptung. Es galt also nicht nach Tätern zu fragen, nicht nach den Strukturen totalitärer Herrschaft, die es nur geben konnte, weil viele zu den Profiteuren zählten, unter ihnen auch Schriftsteller. Niklitschek veröffentlichte während der NS-Zeit mehrere, vor allem populärwissenschaftliche Bücher, darunter auch einen Text, in dem er sich mit Unterdruckversuchen beschäftigt hat.

Die Science Fiction kennt mehrfach Beschreibungen von Paarungsexperimenten. Eine frühe Beschreibung findet sich in Cyrano de Bergeracs utopischem Roman „Die Reise zu den Mondstaaten und Sonnenreichen“ (1657/62). Der Ich-Erzähler gerät in die Gewalt kentaurenartiger Mondbewohner, die ihn für einen Affen halten, weshalb er in einem Käfig mit anderen Affen zur Schau gestellt wird. In diesem Käfig, von Besuchern mit Steinen, Nüssen oder Gras beworfen, trifft er auf den Spanier Domingo Gonzales, also den Mondreisenden aus Francis Godwins Roman „The Man in the Moon“ (1638). Dieses Zusammentreffen ist keineswegs zufällig. Da er als Weibchen betrachtet wird, wird er mit diesem zusammengebracht, um Nachwuchs zu produzieren: „Der König und die Königin machten sich ziemlich oft die Mühe, höchst eigenhändig meinen Leib zu betasten, um zu sehen, ob ich nicht trächtig würde.“ In der Folge entbrennt ein Streit, ob es sich bei diesem Geschöpf um einen Menschen oder um einen Papagei ohne Federn handle. Die Käfigszene ist möglicherweise biographisch motiviert. Ein Puppenspieler stellte am Pont neuf einen als Cyrano verkleideten Affen zur Schau, was das Publikum in Begeisterung versetzt haben soll. Sicher beschäftigte sich Cyrano wie viele seiner Zeitgenossen mit der Frage der Grenzziehung zwischen dem Menschen und den Primaten, nicht nur mit der Frage, ob Affen fähig seien, die menschliche Sprache zu erlernen, was etwa Samuel Pepys glaubte. Dazu fügte sich auch die Vorstellung möglicher Paarungen, die vor allem durch die Gleichsetzung Eingeborener mit Tieren genährt wurde. Der Abstand zu den Menschen in der neuen Welt war damals nicht viel geringer als jener, den Cyrano zwischen der Welt und dem Mond dachte. Die vielen frühen Beschreibungen von Mondreisen dauern denn in der Regel auch deutlich kürzer als eine damalige Überfahrt über den Antlantik. Etwas anderes ist es, werden aufgeklärte Menschen selbst als Eingeborene phantasiert, als Opfer außerirdischer Wesen, die nicht viel anders über die Welt hereinbrechen, als dies Europäer in der neuen Welt taten.

In Maurice Renards Roman „Die blaue Gefahr“ (1910) werden die von Außerirdischen Entführten, die meist einzeln in gläsernen Zellen untergebracht sind, nicht nur bei lebendigem Leib seziert. An ihnen werden auch Paarungsversuche durchgeführt: „Die Unsichtbaren behandeln uns wie die Tiere! Es gibt jetzt Zellen, die von menschlichen Paaren besetzt sind. ... Die derart vereinigten Gefangenen unterhalten sich trübselig miteinander, aber die Möglichkeit, von ihrem Elend zu reden, vermindert sichtlich dessen Bitterkeit.“ In einem anderen Paarungsexperiment wird eine Füchsin mit einem Wolf zusammengebracht, was zur Folge hat, dass dieser die Füchsin frisst. Zweifellos spielt André Maurois in seiner Erzählung „Zwei Fragmente einer Universalgeschichte 1992“ (1928) auf Renards Roman an. Auch hier werden Menschen zu Opfern Außerirdischer, die an ihnen neben anderen seltsamen Experimenten auch Paarungsversuche durchführen. Um das Verhalten künstlich geschaffener Paare zu untersuchen werden zwei weit entfernt liegende, in ihrer Raumstruktur aber sehr ähnliche Häuser, die von jungen Paaren mit Kindern bewohnt werden, mit Hilfe eines unsichtbaren Skalpells in der Mitte getrennt und jeweils eine der Hälften vertauscht. Ein Mann erwacht also neben einer fremden Frau, eine Frau wiederum neben einem ihr fremden Mann. Das Ergebnis dieser Versuche ändert sich trotz öfterer Wiederholung nicht. Es kommt zu keinen sexuellen Aktivitäten. Die Frauen benehmen sich nach einer kurzen Schrecksekunde auffallend normal. Sie bitten um einen Morgenmantel und nehmen sich dann der Kinder des unterschobenen Mannes an.

Auch J.P. Andrevon griff in seiner witzig-boshaften Erzählung „Beobachtung der Vierfüßer“ (1971) Maurice Renards schaurige Geschichte auf. Auch bei ihm finden sich die von intelligenten Außerirdischen Entführten in Beobachtungszellen: „Ich habe die beiden Vierfüßer in zwei nur von außen nach innen durchsichtigen und durch eine vorläufig undurchsichtige Scheidewand getrennten Käfigen untergebracht. Diese Käfige sind leer und haben nur eine zur Aufnahme ihrer Exkremente bestimmte Öffnung. Die Nahrung wird den Tieren, während sie schlafen, durch einen Nahrungsmittelentschlüsseler zugeführt: es ist für die Richtigkeit der Beobachtung wichtig, daß die Vierfüßer nichts von mir ahnen, denn bekanntlich verändert die Anwesenheit eines Beobachters das Verhalten des Beobachteten.“ Im Verlaufe des Experiments werden der Vierfüßer A (ein Mann) und der Vierfüßer B (eine Frau) zum Zweck der Erforschung ihres Paarungsverhaltens zusammengelassen. Zumindest für menschliche Augen verhalten sich die beiden in gewohnt stereotyper Weise. Sexuelle Aktivitäten des Mannes – Abwehrgesten der Frau – eine kurze Phase heftiger Leidenschaft – Rückzug und Ekelempfindungen des Mannes gegenüber der Frau, die sich bemüht, von diesem begehrt zu werden: „Der Vierfüßer B, der mir eine anomale Erregung zu bekunden schien, verlegte sich bei dem Vierfüßer A auf eine Reihe von Gebärden, die gewöhnlich der Paarung vorangehen (Streicheln mit den oberen Gliedmaßen, Kinnladenspiel). Der Vierfüßer A löste sich von ihm, wurde jedoch von seinem Gefährten verfolgt. Nach einem neuen Versuch Bs schlug A ihn heftig und hockte sich in den am weitesten entfernten Winkel des Käfigs. Darauf stieß B eine Reihe schriller Töne aus, wobei eine helle Flüssigkeit aus seinen Augen strömte. Dann legte er sich auf den Fußboden und begann seine Brustauswüchse und das Innere seiner Spalte mit seinen oberen Pfoten zu reiben, bis es zu den gewissen klagenden Lauten kam, die ich gewöhnlich als das Signal betrachte, welche das Ende der Paarung anzeigt. A war jedoch völlig aus dem Spiel geblieben.“ Schließlich beginnt sich der Versuchsleiter zu langweilen, sieht das Experiment als nutzlose Zeit- und Energieverschwendung und tötet die beiden während des Schlafs mit einer „C+-Strahlung“. Sowohl bei Renard wie auch bei Andrevon deckt sich die Versuchsanordnung in wichtigen Punkten mit jener in Kluges Erzählung, haben wir es mit sachlich-nüchterner Beobachtung zu tun, endet das Experiment mit dem Tod der Versuchspersonen.

Andrevons Erzählung spottet über das Geschlechterverhältnis und reflektiert in keinster Weise nationalsozialistische Menschenversuche, auch wenn wir dazu neigen, das beschriebene Experiment damit zu assoziieren. Maurice Renard hat diese weder vorweggenommen, noch geahnt. Im Gegenteil, die vivisezierenden Außerirdischen, die Blut und Leichenteile, Abfall ihrer Forschungsarbeit, auf die Erde regnen lassen, erweisen sich als lernfähig. Sie entdecken Schmerzempfindungen und Leidensfähigkeit und brechen ihre Versuche ab. Niklitscheks Erzählung dagegen, in der es nur so menschelt, in der die Versuchsanordnung jedem wissenschaftlichen Experiment widerspricht, mehr noch, die nichts mit den Versuchen der NS-Zeit zu tun haben scheint, verweist gerade auf diese. Manche Texte lassen sich eben nur dann entschlüsseln, wenn man nicht den Abzug, sondern das Negativ betrachtet.

Wenn auch auf andere Weise, so findet sich die Antwort darauf in Kurt Vonneguts „Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug“ (1969). Billy Pilgrim, der traurige Held des Romans, wird in der Hochzeitsnacht seiner Tochter von Außerirdischen entführt und nackt in einer Art Zoo mit typischen Einrichtungsgegenständen der sechziger Jahre den Bewohnern des Planeten Tralfamadore präsentiert. Um dem Publikum auch das Paarungsverhaltenten zu zeigen, wird ihm die ebenfalls entführte Pornodarstellerin Montana Wildhack beigesellt. Experimente werden nicht durchgeführt. Auf den ersten Blick ist es irritierend, gerade in diesem Roman, der die Zerstörung Dresdens zum Gegenstand hat, auf das Motiv zu stoßen, nicht zuletzt auch deshalb, weil der Autor als Zwangsarbeiter das alliierte Bombardement im Keller eines Dresdner Schlachthofes selbst erlebte. Aber lässt sich ein so dramatisches Ereignis überhaupt beschreiben? Käme dies nicht einer Trivialisierung gleich? Vonnegut löst das Problem, indem er sich dem Drama assoziativ und von seinen Rändern nähert. So gesehen fügt sich die Zooszene wie alle anderen motivischen Fremdkörper in die Erzählung. Der voyeuristische Blick der Tralfamadorianer lässt sich als groteske Umkehrung schauriger Katastrophenbetrachtung lesen. Wie die Zoobesucher exotische Lebewesen betrachten, so werden in der medialen Wirklichkeit Katastrophen in die Nähe gerückt, aber doch auf sicherem Abstand gehalten, gleichsam gerahmt und auf einem Tableau präsentiert. Allerdings erfahren die Tralfamadorianer die Welt nicht als chronologische Abfolge, sondern in einer Art „telegraphisch-schizophrener“ Gleichzeitigkeit, in der das Vergangene mit Gegenwart und Zukunft verschwimmt. So schiebt sich denn in Vonneguts „Schlachthof 5“ die Vergangenheit in die Gegenwart wie umgekehrt. Letztlich sind auch wir „Spastiker des Raumes“. Trotz aller anderen Behauptungen erweist sich die Welt nicht als chronologische Abfolge, sondern als eine Struktur „telegraphisch-schizophrener“ Gleichzeitigkeit. Voraussetzung dafür ist allerdings ein Lektüreverhalten, welches sich vor einfachen, oft entlastenden Antworten scheut, dem vorgegebene Fokussierungen zuwider sind, welches sich der Wirklichkeit von der Peripherie nähert. Hier wäre wieder auf Kluge zu verweisen, der dies wie kaum ein anderen beherrscht.

Bernhard Kathan 2012/2013
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