Musikalische Kühe und die Klangmaschine





"Die Gegenwart verkürzt sich, verliert jede Dauer. Ihr Zeitfenster wird immer kleiner. Gleichzeitig drängt alles in die Gegenwart. Das hat ein Gedränge von Bildern, Ereignissen und Informationen zur Folge, das jedes kontemplative Verweilen unmöglich macht. So zappt man sich durch die Welt." Byung-Chul Han, "Duft der Zeit"

"Ich bin der Ansicht, dass die Musik ihrem Wesen nach unfähig ist, irgend etwas ‚auszudrücken', was es auch sein möge: ein Gefühl, eine Haltung, einen psychologischen Zustand, ein Naturphänomen oder was sonst. Der ‚Ausdruck' ist nie eine immanente Eigenschaft der Musik gewesen, und auf keine Weise ist ihre Daseinsberechtigung vom ‚Ausdruck' abhängig. Wenn, wie es fast immer der Fall ist, die Musik etwas auszudrücken scheint, so ist dies Illusion und nicht Wirklichkeit. (…) Das Phänomen der Musik ist zu dem einzigen Zweck gegeben, eine Ordnung zwischen den Dingen herzustellen und hierbei vor allem eine Ordnung zu setzen zwischen dem Menschen und der Zeit."
Igor Strawinsky, "Chroniques de ma vie"

"Dem Antagonismus zwischen dem ‚Geordneten', Wiedererkennbaren und dem Ungeordneten, nicht Wiedererkennbaren kann man Wirkung auf unsere Wahrnehmung sicher nicht absprechen. Bei der Kuhherde sind es die ‚gesetzten' Obertonreihen der Glocken und die Bewegungen im Herdenverhalten."
Wolfgang Straßnig

An einer schwarzgestrichenen Holzwand vier Maischetonnen mit einem Fassungsvermögen von je 220 Litern. Diese Tonnen sind mit leeren, leicht zusammengedrückten und wieder fest verschlossenen PET-FLASCHEN gefüllt, die sich bei einem Temperaturanstieg ausdehnen, wieder zusammenziehen, kühlt sich die Umgebungstemperatur ab. Dabei sind Knacks- und Ploppgeräusche zu hören. In jeder der vier Tonnen ein hochwertiges, dauerpolarisiertes Kondensator-Mikrofon, welches mit einem Mischpult verbunden ist. Die eingespeisten Geräusche sind aus Lautsprechern zu hören, die im Außenraum in einem Halbrund angeordnet sind. Fertig ist die Klangmaschine, die in den Morgenstunden anhebt, dann weitgehend verstummt, um wieder in Tätigkeit zu geraten, kühlt sich die Luft am späten Nachmittag, nach Einbruch der Dunkelheit oder infolge eines Gewitters ab. Über einen längeren Zeitraum betrachtet haben wir es mit einem steten Wechsel von Zusammenziehen und Ausdehnen zu tun. Ein stetes An- und Abschwellen. All das ließe sich in vielen anderen Bereichen beobachten. Man denke an die Atembewegung, an Cafés, die sich füllen und leeren, an Kühe, die einmal gegenseitige Nähe suchen, dann wieder auseinander streben. Ironischerweise ließ mich die Klangmaschine an die kabbalistische Vorstellung vom Zimzum denken, wonach die Erschaffung der Welt ein Zusammenziehen Gottes zur Voraussetzung hatte.

Die von der Klangmaschine produzierten Geräusche leben von Druck- bzw. Temperaturunterschieden, vergleichbar mit der atmosphärischen Tischuhr der Uhrenmanufaktur Jaeger-LeCoultre. Deren Antriebsenergie verdankt sich einer mit Chlorethangas gefüllten Druckdose, die sich bei Änderung der Umgebungstemperatur oder des Luftdrucks zusammenzieht oder ausdehnt. Ein Temperaturunterschied von nur einem Grad pro Tag genügt, um die Präzisionsuhr in Bewegung zu halten. Unnötig sie aufzuziehen. Allerdings muss aufgrund der geringen zur Verfügung stehenden Energie auf Schmiermittel verzichtet werden. Schon das geringste Staubteilchen würde den Ablauf empfindlich stören oder die Uhr zum Stillstand bringen. In China soll bis ins neunzehnte Jahrhundert eine Weihrauchuhr gebräuchlich gewesen sein. Im Gegensatz zur Zeitmessung mittels Wasser oder Sand "verrinnt" hier die Zeit nicht einfach. Die verflossene Zeit hinterließ eine Aschentextur. Natürlich ließe sich auch unsere Klangmaschine als Uhr denken. Aber hier haben wir es nicht mit objektiver Zeit, sondern mit Ereigniszeit zu tun, die dem Lebendigen entspricht. Zeitmessung und Uhren sind untrennbar mit der Geschichte von Klöstern, mit Fabriksarbeit und Schulen verknüpft, dienen also der Disziplinierung, der Unterwerfung des Menschen unter äußere Kriterien. Ich finde es bezeichnend, dass etwa beim Fußball exakte Zeitdefinitionen mit der Durchnumerierung der Spieler einhergehen.

Zu meiner großen Überraschung ließ sich die Aktivität der Klangmaschine nie wirklich vorhersagen. Wollte man dies, man müsste unterschiedlichste Parameter über einen längeren Zeitraum gewissenhaft dokumentieren und auswerten. Machte man dies mit der geforderten Genauigkeit, so ließen sich vergleichbar mit einem Wetterbericht Vorhersagen treffen. Im subjektiven Eindruck wirkte alles sehr willkürlich, eben zufällig, obwohl es nicht den geringsten Zufall gibt, sieht man davon ab, dass es von Zufällen abhängt, wie eine PET-FLASCHE, wirft man sie in einer der Tonnen, zum Liegen kommt. Es war erstaunlich. Ich habe mich ganze fünf Wochen der Klangmaschine ausgesetzt, aber nicht einmal empfand ich die von ihr produzierten Klänge als störend. Im Gegenteil, geradezu mit einem Lustgefühl registrierte ich den "Einfallsreichtum" der Maschine. Wer immer längere Zeit Video- oder Klanginstallationen ausgesetzt war, weiß, wie nervtötend das sein kann. Man stelle sich einmal vor, man wäre gezwungen, fünf Wochen lang Mozarts Jupiter-Symphonie zu hören. Schon nach wenigen Durchgängen würden all die Wiederholungen zur Qual, nach spätestens fünf Tagen verfiele man dem Wahnsinn. Ganz anders die Klangmaschine. Und das ist umso erstaunlicher, als die von ihr produzierten Töne nur selten wohlklingend sind. In ihrer Höchstform lässt sie an eine Karfreitagsratsche denken, allerdings ohne eine einzige Klangabfolge zu wiederholen.

Kann eine Klangmaschine Musik produzieren? Setzt Musik nicht Rhythmen, Wiederholungen, Harmonien voraus, eine Intention, die Beherrschung eines Instruments, Empfindsamkeit? All das ist der Klangmaschine fremd, sie kennt keine Empfindsamkeit, auch keinen Sinn, genauso wenig wie ausgeschnittene Buchstaben, die man in einer Trommel mischt und auf ein Blatt Papier schüttet. Die PET-FLASCHEN dehnen sich aus, ziehen sich zusammen. Dabei produzieren sie Töne. Völlig banal. Und dennoch kann man zuhören, so als säße man in einem Konzert. Heute mangelt es nicht an musikproduzierenden Maschinen. Die meisten leben allerdings von Algorithmen, die Geräusche oder Töne menschlichen Hörgewohnheiten entsprechend verarbeiten. Die Klangmaschine kennt nicht das geringste diesbezügliche Bemühen.

Im Gegensatz zu den PET-FLASCHEN sind Kühe empfindsam. Musik machen auch sie nicht. Glocken und Schellen hat man ihnen nur umgehängt. Das Geläute ist Folge unterschiedlichster Bewegungen. Und dennoch kann ich Kühen eine gewisse Musikalität nicht absprechen, mag ich auch nicht an das oft zitierte Ammenmärchen glauben, demnach Kühe, die mit Mozart beschallt werden, mehr Milch geben würden. Aber zweifellos sind sie fähig, Unterschiede in Tonhöhen, Tondauern und Lautstärkegraden wahrzunehmen. Im Gegensatz zur Klangmaschine hören Kühe hin. Sie können im Glocken- und Schellenklang aufgehen. Besonders beeindruckend das Geschelle nach Einbruch der Dunkelheit, vor dem Eintritt der eigentlichen Ruhephase. Die Kühe sind mit Wiederkäuen beschäftigt. Da bildet sich ein ganz bestimmter Rhythmus heraus, der freilich diese oder jene Brechung kennen kann.

Eines Abends, als ich der Klangmaschine und den Kühen auf der benachbarten Weide zuhörte, da hörte ich zum ersten Mal diese feine Melodie, den Klang einer Glasharfe, die aus dem Kuh-Gamelanorchester herauszuhören war. Es war keine Täuschung. Auch andere nahmen sie wahr. Ich ließ sie mir sogar vorsingen. Ein schwebendes darü - darü - da tü - da - tü - darü … Musste an eine Aufnahme von singenden Kopfjägern aus dem Hochland von Papua Neuguinea denken. Sehr ähnlich. Das Phänomen ist nicht einfach zu erklären. Sicher ist, dass es sich den Glocken, nicht aber den Schellen verdankt.

Mit der Klangmaschine taten sich die meisten Besucher schwer. Die von ihr produzierten Geräusche standen zu sehr im Widerspruch zu unseren Hörgewohnheiten. Das ganze Projekt war konzeptionell streng angelegt. Konsequent haben wir auf vordergründige Wirkung verzichtet und so auch Erwartungshaltungen unterlaufen. Mit Effektgeräten hätte sich die Wirkung deutlich steigern lassen. Es gab Phasen, in denen die Klangmaschine kaum aktiv, Stunden, in denen überhaupt nichts zu hören war. Wirkliche Klangmaschinen brauchen Schlaf. Besucher, die Ausstellungen gewöhnt sind, in denen Klanginstallationen, Videos etc. jederzeit funktionieren, haben Mühe mit der Vorstellung, dass auch jene Zeit, in der nichts zu hören ist, Teil einer Klanginstallation sein kann. Trotz der vielen Bücher und Sendungen, in denen Stille und Entschleunigung beschworen werden (Autoren, die über Stille schreiben, treten auffallend geschwätzig auf und dürften einen ziemlich dichten Terminkalender haben), sind wir heute alle so überreizt, dass wir nur noch bedingt verweilen oder zuhören können.

Verständlicherweise wollten die meisten alles gleich erklärt haben. Wie wir der Arbeit keine wie immer geartete Botschaft unterlegen, Raum öffnen wollten für das, was die Besucher hineinhören oder hineinsehen, eben mitbringen, so wollte ich auch keine Erklärungen anbieten. Manchmal blieb mir freilich nichts anderes übrig, als alles zu erklären. Halt fanden Besucher nicht zuletzt in unserem intensiven, ursprünglich nicht geplanten Briefwechsel, der auflag. Da fand sich eine klare Struktur der An- und Wechselrede, eine Abfolge. Was diesen Briefwechsel betrifft, bildeten sich ohne jede Absprache folgende Regeln heraus: a) jeder Brief sollte das Thema Wasser zum Gegenstand haben, dabei aber nach allen Seiten offen und nicht an einem Endprodukt, einem Buch etwa, orientiert sein, b) keine Zitate aus dem Internet, c) Austausch mittels Briefen, also keine SMS, keine Emails, abgesehen von Terminabklärungen etc. In diesem Briefwechsel loteten wir das Themenfeld in seiner ganzen Breite aus, etwas, was in solchen Projekten allgemein viel notwendiger wäre, üblicherweise nur selten der Fall ist.

Um die Klangmaschine zu erleben, musste man sich ihr hingeben. Wie der Delinquent in Kafkas Erzählung. Schöbe sich der Breinapf (die Erklärung) gleich entgegen, jede Poesie wäre dahin. Hingabe setzt Dauer voraus. Man muss ankommen. Es bedarf einer gewissen Zeit, um sich umzustellen, die Wahrnehmungsgewohnheiten, die Ballungszentren fordern, abzulegen. Das ist gar nicht so einfach.

Dann eine erstaunliche Erfahrung. Eines Abends sammelten sich die Kühe auf dem Nachbargrundstück unmittelbar hinter jener Stelle des Zauns, die der Klangmaschine am nächsten lag. Das war höchst ungewöhnlich. Üblicherweise verbringen die Kühe die Nacht am oberen Rand der Weide. Dort gibt es eine kleine ebene Fläche, die von den Kühen zum Liegen bevorzugt wird. Nun lagen sie aufgefädelt am Zaun, eine sehr ungewöhnliche Anordnung, in abschüssigem Gelände. Noch erstaunlicher, dass ihre Augen und Ohren gegen die Klangmaschine gerichtet waren. Und das auch in den folgenden Nächten, so lange, bis sie auf eine andere Weide getrieben wurden. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass die Kühe der Klangmaschine zuhörten. Natürlich weiß ich nicht, wie Kühe solche Klänge wahrnehmen oder verarbeiten. Aber während ihrer nächtlichen Ruhephasen (die eigentlichen Schlafphasen sind jeweils kurz) sind sie aufmerksame Zuhörerinnen. Sie haben nichts vor, werden nicht abgelenkt, weder durch Smartphones, noch durch Termine. Sie hören nur zu. Kühe zappen sich nicht durch die Welt, durch das Leben. Solche Rezipienten wünsche ich mir. In manchem sind uns Kühe überlegen.

Projekt: H ZWEI O, Martin Breindl / Bernhard Kathan
Text: Bernhard Kathan 2015

PS: München - Der Deutsche Tierschutzbund in Bayern fordert die Abschaffung von Kuhglocken: "Aus Tradition einem Tier so etwas zuzumuten, ist abzulehnen." Weideflächen seien ohnehin eingezäunt und statt schwerer, lauter Glocken könnten GPS-Bänder bei der Ortung helfen. (APA)


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