Die Mußegesellschaft
„Eine Kultur, die sich ihrer unaufhaltsamen Dynamik rühmt, befindet sich in einem Stadium alptraumhaften Zerfalls, und ehe die Menschheit sich von diesem Alptraum befreit, könnte das Bett, in dem sie schläft – die Erde – verschwinden wie eine weggeworfene Schachtel.“
Lewis Mumford, Mythos der Maschine
„Andere Kulturen sind wie Spiegel, in denen wir uns und unsere Kultur sehen. Mit ihrer Hilfe können wir uns selbst besser kennenlernen, denn es ist unmöglich, die eigene Identität zu bestimmen, solange wir sie nicht mit anderen konfrontiert haben.“
Ryszard Kapuściński, Meine Reisen mit Herodot
Das Eis der Arktis schmilzt. Eis ist weiß. Für das menschliche Auge kann Eis jedoch viele Farben annehmen, ins Blaue, ins Grünliche oder ins Schwarze gleiten. Mehr, immer mehr, immer schneller und schneller. Sich immer höher auftürmende Abfallberge, sich ständig verkürzende Gebrauchszyklen, die ihr Optimum dort finden, wo das eben Gekaufte unmittelbar als Abfall entsorgt wird und in letzter Konsequenz Menschen selbst zu Abfall werden. Nur durch eine Abkehr von einem ständig sich beschleunigenden Wirtschaftswachstum werden sich die drohenden globalen Katastrophen vermeiden lassen. Gefordert wären Mußegesellschaften. In der Geschichte der Menschheit mangelt es nicht an Modellen. Aber welche Gesellschaft könnten wir uns zum Vorbild nehmen? Setzt man einen gewissen Lebensstandard voraus, kommen nur wenige in Frage. Die Pygmäen scheiden aus. Zwar verbrachten sie die meiste Zeit genügsam mit geselligem Beisammensein, Singen oder Schlafen, aber ihre Lebensbedingungen empfänden wir als zu hart. Gebar eine Frau Zwillinge, so war eines der Kinder dem Tod geweiht, war es ihr doch unmöglich, auf den steten Wanderungen durch den Urwald neben den wenigen Habseligkeiten mehr als einen Säugling zu tragen. Das gilt auch für die längst ausgerotteten Selk’nam oder andere indigene Völker, mögen wir deren Anpassungsleistungen noch so sehr bewundern. Wirkliche Muße kannten nur Gesellschaften, in denen die menschlichen Grundbedürfnisse mehr oder weniger gesichert waren, so wie auf manchen Inseln Polynesiens. Das klingt zu sehr nach Paradies und hilft uns nicht weiter, wie auch das Schlaraffenland nicht mit Muße gleichzusetzen ist. Muße bedeutet nicht Nichtstun, sondern die Verfügung über Zeit, die nicht dem unmittelbaren Lebensunterhalt dient. Muße meint nicht Freiheit von Arbeit, sondern Freiheit in der Arbeit, was im griechischen Wort σχολή zum Ausdruck kommt, dessen Bedeutungsspektrum von Muße, Ruhe über Studium und Schule bis hin zu Verzögerung und Langsamkeit reicht. Das Gegenteil findet sich in der Sklavenarbeit, in der ά-σχολΐα. So kann denn Aristoteles auch schreiben: ἀσχολούμεθα γὰρ ἵνα σχολάζωμεν – wir arbeiten, um Muße zu haben. Kinder, die spielerisch die Welt erkunden, geben sich der Muße hin, auch wenn sie in Bewegung sind.
Wenn ein schönes Beispiel zu nennen ist, dann die höfische Gesellschaft der Heian-Zeit, wie sie im
genji monogatari der Hofdame Murasaki Shikibu oder anderen ebenfalls von Frauen verfassten Romanen oder Tagebüchern beschrieben ist. Liest man sich durch die Sekundärliteratur, so ist immer wieder ähnlich lautend von einer „galanten Zeit“ die Rede. In der höfischen Welt von
heian-kyō, dem späteren
kyōto, der „Stadt des Friedens und der Ruhe“, hätten japanische Kultur, Kunst und Sitten eine außerordentliche Verfeinerung erfahren. Jeder nur erdenkbare Genuss sei kultiviert worden, freilich ohne jemals die Grenze des guten Geschmacks zu überschreiten. Wie auf einer Insel der Seligen habe der Hofadel ein sorgloses Leben von Anmut und Schönheit geführt und seine Tage in süßem Nichtstun verbracht. Kriegshandwerk wie niedere Staatsgeschäfte habe man untergeordneten Klassen überlassen. Die zwei Meter hohe Mauer, die die Stadt umgab, habe mehr symbolische Bedeutung gehabt und sei schon bald zerfallen. Die farbenprächtig gekleideten kaiserlichen Wachen seien die einzigen Soldaten in der Hauptstadt gewesen und hätten nur dem Zeremoniell gedient. Der kaiserliche Palast, ein großes Ensemble hölzerner Bauwerke, habe völlig unbefestigt in einem geräumigen Park gelegen. Jede Gewalttat habe man als ein Zeichen schlechten Geschmacks betrachtet. Über dreihundert Jahre lang seien Machtkämpfe durch Geschmack, Argumente, in keinem Fall aber durch physische Gewalt entschieden worden. Ein faszinierendes Spiel des Benehmens und des Geschmacks habe den Erfolg bei Hofe bestimmt. Eine einzige Silbe eines Gedichts habe über Aufstieg oder Fall eines Höflings entscheiden können. Die Hauptbeschäftigung habe in poetischen Wettkämpfen, im Verfassen von Gedichten bestanden. Jeder habe versucht, den anderen durch Geist, durch Schlagfertigkeit oder ästhetisches Benehmen zu übertreffen. Ähnliches liest sich selbst bei japanischen Autoren, so etwa in Anesaki Masaharus 1928 erschienener „Japanese Mythology“: „Jedes Glied dieser malerischen Gesellschaft, ob Mann oder Frau, war ein Dichter, mit Feingefühl für den Reiz der Natur und stets darauf bedacht, jedes Gefühlsmoment in Verse zu fassen. Ihr inniges Empfinden für die Natur und für die wechselnden Regungen des menschlichen Herzens brachten sie mit dem Wort
aware zum Ausdruck, das sowohl ‚Mitfühlen’ als auch ‚Rührung’ bedeutet. Dieses Gefühl hatte seinen Ursprung in der zarten Romantik der Zeit; auch verdankte es viel der buddhistischen Lehre vom Einssein alles Seienden, der grundlegenden Einheit, die unterschiedliche Wesen zusammenschließt und die durch die wechselnden Inkarnationen eines Individuums bestehen bleibt.“
In
heian-kyō wurde in Schönheit investiert, zumeist in höchst flüchtige Schönheit, da jedes Gedicht, jeder gebrochene Blütenzweig, jeder Tanz, jedes Spiel auf einem Instrument, jedes noch so ausgefeilte Arrangement anlassbezogen und deshalb vergänglich war. Die Menschen konnten sich an vielem erfreuen, an Kirschblüten, an den Rufen des Kuckucks, am Mond, an Chrysanthemen oder Neuschnee, am Gezirpe von Grillen, die in kleinen Käfigen gehalten wurden, an Gärten, also an höchst flüchtigen Dingen. Blüten welken rasch, die Rufe des Kuckucks sind nicht lange zu hören. Schon verschwindet der Mond hinter einem Wolkenband. So rasch, wie der Tau auf Gräsern trocknet, so rasch schmilzt Eis in der Sommerhitze. Man stelle sich Dienerinnen vor, damit beschäftigt, an einem heißen Tag Eisstücke zu zerkleinern. So als ginge es darum, des Eises Eigenschaften zu erfassen, legen sie sich Stücke auf die Hand, auf den Kopf, drücken sie an ihre Brust oder suchen auf andere Weise, das Eis zum Schmelzen zu bringen. Einwand einer Zofe: „Wenn man mit dem Eis so verfährt wie Ihr, wird einem nur noch heißer! Ich finde, man kühlt sich besser durch seinen bloßen Anblick!“ Sie wickelt einige der Eisstücke in Papier und reicht sie einer Prinzessin, die langsam ihre Finger darüber gleiten lässt: „Nein, ich möchte das Eis doch lieber nicht in der Hand halten. Es ist ein unangenehmes Gefühl, wenn es herabtropft.“
Das Schöne hatte keinen Wert an sich, sondern machte nur Sinn im sozialen Austausch, ganz gleich, ob es sich um Briefe, Gedichte oder großartige Feierlichkeiten handelte, durchaus vergleichbar mit der Verschwendung, die in meiner Kindheit noch anlässlich des Fronleichnamfestes betrieben wurde. Der Weg, den die Prozession nahm, wurde in der Früh mit Blüten bestreut, mit goldgelben Knöpfen der Trollblume, die Kinder tags zuvor gesammelt hatten, mit roten oder rosaroten Blüten von Pfingstrosen, die eigens zu diesem Zweck in den Gärten standen. Jedes der Häuser hatte so und so viel des Weges zu bestreuen. Wollten auch alle ihren Abschnitt zum schönsten machen, so war man sich doch einig, dass der Kreis geschlossen werden, ein Ganzes bilden müsse. Gott selbst wurde ja über den Blütenteppich getragen. Schon nach wenigen Stunden, kaum begangen, war alle Schönheit dahin. Ohne Anlass hätte die ganze Schönheit keinen Sinn gemacht. Ich erinnere mich an eine etwas einfach gestrickte, kinderlos gebliebene Frau, die über lange Jahre in einem bäuerlich geprägten Dorf für den Kirchenschmuck zuständig war. Sie wusste jedes Tuch, jeden Kerzenständer, jede Vase genauestens zu arrangieren, sie wusste um den geforderten Blumenschmuck, der exakt auf den Festtag, auf den Tagesheiligen und all die liturgischen Farben abgestimmt sein musste. Dabei konnten kleinste Nuancen von Bedeutung sein. Mit Kunst hatte all das nichts zu tun, zumal wirkliche Kunst eine Distanzierungsleistung, ein Heraustreten zur Voraussetzung hat. Und doch war es höchst kunstvoll.
Die höfische Welt von
heian-kyō drehte sich um kleine oder kleinste Differenzen, um Nuancen zwischen Hell und Dunkel, um den Klang verschiedener Regenarten, um die Tönung des Papiers, auf dem ein Brief geschrieben war. Was für ein Unterschied besteht doch zwischen einer Pflaumenblüte und einer Kirschblüte! Wie viele Grüntöne gibt es doch! Blätter, die ein tiefes, jedoch glänzendes Grün haben, dagegen dicke grüne Blätter am Morgen nach einem Regen. Regen ist nicht gleich Regen, Schnee nicht gleich Schnee und Wind nicht gleich Wind: „Von allen Winden ist der Sturm am interessantesten. Auch der Winterwind ist schön. Und wie eindrucksvoll ist der leise wehende Regenwind zur Stunde der Abenddämmerung im dritten Monat! Der Wind im achten oder neunten Monat, der sich mit Regen vermischt, ist wohl noch schöner. Er ist ein Vorbote des Herbstes. Man muss über das dünnseidene Kleid noch eine Jacke anlegen. Es kommt einem vor, als ob man erst gestern das dünne Kleid vor lauter Hitze ausziehen wollte. Besonders gern habe ich den Frühherbstwind, der mir bei Tagesanbruch, wenn das Gitter und die kleine Tür geöffnet werden, ins Angesicht bläst. Gegen Ende des neunten und Anfang des zehnten Monats weht unter düsterem Himmel der starke Wind, der fallende gelbe Blätter umhertreibt. Überhaupt ist ein baumbestandener Garten im zehnten Monat stimmungsvoll, wenn ein Wind bläst.“
Hofdamen konnte es höchstes Vergnügen bereiten, den Ruf des Kuckucks gerade noch oder gerade nicht mehr zu hören. Manche ihrer Ausfahrten galten solchen Unschärfen. Sei Shonagon erwähnt in ihrem „Kopfkissenbuch“ einen vorbeiziehenden Flötenspieler. Zuerst vernimmt sie die Flöte von ganz fern, kaum hörbar, hört sie dann näher und näher kommen: „Wenn derjenige, der gehend die Flöte spielt, sich wieder entfernt, muss ich auf die Töne hinhorchen, bis sie gänzlich vergehen.“ Heute, in dieser lärmenden Zeit, wären wir gar nicht in der Lage, solche Töne wahrzunehmen, und gelänge es uns doch, würden wir schon bald des Zuhörens müde werden. Wer gibt sich schon fünfzehn oder zwanzig Minuten einem Klang hin, der anschwillt, um dann wieder abzuschwellen, bis er nicht mehr zu hören ist? Würden Menschen aus der höfischen Welt der Heian-Zeit in unserer Welt aufwachen, sie würden wohl in Angst und Panik verfallen. Wir haben gelernt, mit Reizüberflutungen zu leben, viele Sinneseindrücke auszublenden.
In der Literaturgeschichte nehmen die Hofdamen der Heian-Zeit, sie prägten nachhaltig unterschiedliche Gattungen, eine einzigartige Stellung ein. Da das chinesische Schriftsystem mit den vielen Zeichen als zu schwierig galt, bemühte man sich erst gar nicht, es den Frauen beizubringen, weshalb sie die von Männern verpönte und ursprünglich als „Frauenhand“ (
onna-de) bezeichnete japanische Silbenschrift (
hira-gana) verwendeten, während die Männer ihre Gedichte in chinesischer Sprache, die als Bildungssprache galt, verfassten. Die Silbenschrift stand dem Japanischen viel näher und ermöglichte so erst eine gewisse Beweglichkeit und Ausdrucksstärke, vor allem Alltagsnähe. Die literarische Produktivität der Hofdamen ist umso erstaunlicher, als es ihnen die geltenden Konventionen nicht erlaubten, ihren Empfindungen wirklich Ausdruck zu verleihen, waren Frauen doch dem Chaos von Dämonen zugeordnet, weshalb sie sich zu beherrschen hatten.
Ihr schriftstellerisches Tun, ganz gleich, ob es sich um Gedichte, Tagebücher oder Romane handelt, hatte eine gute Ausbildung zur Voraussetzung, in der nicht nur dem Schreiben selbst ein hoher Wert beigemessen wurde. Schon von klein auf wurden Mädchen des höheren Adels mit der verfügbaren Literatur und ihren Regeln vertraut gemacht, wurden doch von hochrangigen Hofdamen profunde literarische Kenntnisse erwartet. Sie sollten in der Lage sein, sich sowohl in Poesie wie auch in Prosa auszudrücken, die Kalligraphie ebenso beherrschen wie dieses oder jenes Instrument. Zu einer entsprechenden Ausbildung muss man sich das alltägliche Leben der Hofdamen hinzudenken. Abgeschirmt von allen praktischen Belangen mangelte es ihnen an Aufgaben, in denen sie sich verwirklichen hätten können. Der Beliebtheit von Naturbildern zum Trotz war es für sie undenkbar, Blumen anzupflanzen oder Hecken zu schneiden. Die alltäglichsten Tätigkeiten waren ihnen fremd, ja für sie geradezu unvorstellbar, ganz unter ihrer Würde. Wollten sie einmal eine Ausfahrt unternehmen, so hatte sich ein Oberkämmerer um einen ochsenbespannten Wagen zu kümmern.
Unterhaltungsdame zu spielen, das konnte auf Dauer nicht erfüllend sein, weshalb manche denn auch klagten: „Einsam und sinnlos rinnt mein Leben dahin.“ Mochten manche wie Sei Shonagon auch des Vergnügens wegen geschrieben haben, so widmeten die meisten Frauen sich dem Schreiben wohl, um der Langeweile zu entgehen, um Konflikte und Kränkungen zu verarbeiten oder all das, was den Frauen aufgrund der ihnen zugewiesenen Rolle und Funktion unmöglich war, zumindest in der Phantasie auszuleben. Das Nichtbesprechbare durfte dabei bestenfalls in Andeutungen oder in Form eines Dialogs zum Ausdruck gebracht werden, wie es denn auch allgemein zur Etikette zählte, in der Dichtung mehr anzudeuten als auszusagen, mehr zu verschweigen als auszudrücken, wobei das Japanische ohnehin reich an doppel- oder mehrdeutigen Ausdrücken und unbestimmten Konstruktionen ist, so dass manche meinen, es sei in dieser Sprache schwieriger, ein Wortspiel zu vermeiden als eines zu erfinden.
Murasaki Shikibu verdankt sich der erste bedeutende Roman der Literaturgeschichte. Der Untertitel der deutschen Ausgabe des
genji monogatari lautet irreführend: „Ein Liebesroman aus dem 11. Jahrhundert.“ Tatsächlich beschrieb sie, und da war sie nicht allein, vor allem Hoffnungen und Nöte von Frauen der höfischen Welt der Heian-Zeit. Liebe erweist sich stets als flüchtig. Immer wieder geht es um Schwangerschaften, Geburten, Krankheiten und Tod. Was geschieht mit einem Kind, das sich einem Übergriff eines Höflings verdankt, wenn sein Vater es nicht anerkennt? Welche Rivalitäten ergeben sich, wenn ein Mann mehrere Nebenfrauen hat? Wie lange ist eine Frau für einen Mann begehrenswert? Dass Murasaki Shikibu die höfische Welt als gottgegeben betrachtet, steht dabei nicht im Widerspruch zur Genauigkeit, mit der sie das Leben, oft genug auch gewalttätige Erfahrungen von Frauen, beschreibt. Großartig die vielen Perspektivenwechsel, die sich durch das
genji monogatari ziehen. Da lässt sie uns etwa durch die Augen eines Höflings einen Blick durch den Schlitz eines Vorhangs werfen, während sich hinter dem Vorhang Dienerinnen über ihn unterhalten, freilich ohne zu wissen, dass er sie gerade betrachtet und belauscht. All die Perspektivenwechsel verdanken sich nicht zuletzt einer höchst durchlässigen Architektur, den vielen Vorhängen, Schiebewänden und Klappfenstern, durch die die Welt stets nur ausschnitthaft erfahren werden konnte. Murasaki Shikibu konnte den Dienerinnen nicht zuletzt deshalb so viel Raum zugestehen, da sie als Hofdame mit deren Welt vertraut war. Dienerinnen bewegten sich zwangsläufig zwischen ganz unterschiedlichen Bereichen hin und her, etwa wenn sie Botschaften von innen nach außen oder von außen nach innen zu tragen hatten. Da sie selbst bei intimsten Gelegenheiten anwesend sein konnten, etwa wenn ihre Herrin mit einem Mann das Lager teilte, versteht es sich von selbst, dass ihre Beobachtungen oft Gegenstand des Klatsches wurden.
Murasaki Shikibu merkt wie andere der schreibenden Hofdamen ironisch an, man solle nicht alles glauben, was in Romanen zu lesen sei. Ganz sicher haben damalige Menschen nicht so viele Tränen vergossen wie von ihr geschildert. Aber es finden sich bei ihr auch sehr genaue Beobachtungen, etwa die Pflege und Betreuung Kranker, das Alter oder das Sterben, den Umgang mit Kindern oder ähnliches betreffend. Ich denke etwa an eine Stelle, an der sie einen Jungen beschreibt, der sich zuerst geradezu altklug mit seinem Großvater über ein Gartenproblem unterhält, wenige Augenblicke später die Erwachsenen vergisst und sich mit seinem jüngeren Bruder einem ganz kindlichen Tun hingibt. Das ist so genau beobachtet, dass es heute noch besticht. An einer anderen Stelle schreibt sie über das Trauern, wenn ein naher Angehöriger unerwartet stirbt. Solches sei viel schwerer zu ertragen als der Tod eines Menschen, den man länger gepflegt und dessen Tod man erwartet habe. Auch nach tausend Jahren hat sich diesbezüglich wenig geändert.
Es findet sich in der langen Geschichte der Menschheit wohl keine Gesellschaft, die dem Brief als Kunstform so viel Aufmerksamkeit geschenkt hat wie die höfische Welt der Heian-Zeit. Beim Verfassen eines Briefes war auf vieles zu achten, auf die Wahl des richtigen Papiers, auf eine schöne Schrift, auf ein sinnreiches und den Regeln entsprechendes Gedicht, auf einen Gegenstand, der am Brief befestigt und mit dem er übergeben wurde. All das sollte sich wechselseitig kommentieren. Als erstes galt es, aus zahllosen möglichen Varianten das richtige Papier zu wählen. Manche Papiere waren ornamental gefärbt. Geometrische oder florale Ornamente wurden mit Glimmerpulver, Gold- und Silberstaub oder verschiedensten Farben mit Hilfe von Schablonen oder Stempeln aufgedruckt. Geschrieben wurde auf weißem, seriös wirkendem Papier oder auf weißem Papier, das sich ganz hart anfühlt, auf weichem, feinem und Vertrautheit atmenden Papier von gar nicht allzu prächtiger Farbe, auf elegantem, dunkelgrauem Papier, auf bläulich-schwarzem Papier, auf mattblauem Papier, auf rotem oder auf dunkelrotem, also sehr auffallendem Papier, auf tiefdunklem Papier, auf violettem, schon verblassendem Papier, auf chinesischem Papier von hellblauer Farbe, auf hellgrünem chinesischen Papier, auf walnussfarbenem Papier aus Korea, auf grünem oder hellgrünem
usuyō-Papier, auf
usuyō-Papier von violetter oder dunkelroter Farbe, auf
aozuri-Papier, auf weißem shikishi-Papier. Allein die Auflistung all der im
genji monogatari genannten Arten von Papier würde mehrere Seiten füllen. Nicht unwesentlich war auch, welchen Duft das Papier verströmte. Oft wurde es eigens eingeräuchert.
Auf eine schöne Schrift wurde größter Wert gelegt. Wer immer einen Brief erhielt, schenkte dem Beachtung. Ein Brief konnte mit penibler Sorgfalt gepinselt sein, die Schrift unvergleichlich schön, anmutig, fein, bezaubernd, gefühlvoll, flüssig, von persönlicher Eigenart und vornehmem Geschmack, schlicht, aber doch ernsthaft, altmodisch, doch höchst elegant, die Handschrift zwar nicht besonders zart, aber doch schwungvoll, mit feinen Strichen, gewandt, doch ohne aufgesetzte Gelehrsamkeit, bedingt meisterhaft, aber geschickt und ansprechend, die Schriftzüge nicht eben kräftig, eher ein wenig unsicher, aber doch von edlem Geschmack zeugend, die Pinselführung hohe Kunst verratend, mit weich aneinandergereihten Silben oder aber mit dicken und feinen Strichen durcheinandergepinselt, eine Handschrift, die flüssig wirkt wie fließendes Wasser, in dem da und dort Schilf wuchert. Die Schriftzeichen konnten schön gesetzt sein, mit dünnen oder dicken Tuschestrichen, ordentlich, da oben und unten mit der gleichen Stärke gepinselt, fein und gewichtig, aber nicht sehr prachtvoll, sich als Abfolge vieler zierlich gepinselter oder aber winziger, schwächlich aussehender Zeichen zeigen, die seltsamen Fußspuren glichen und so wunderlich aussahen, als wären Vögel über das Papier spaziert, so steif und hart, als hätte jemand sie in das Papier geritzt. In manchen Briefen schienen die Zeichen fast zu erlöschen, so als habe die Kraft der schreibenden Hand versagt. Als ungeschickt galt eine Schrift, wenn jedes Zeichen ohne Verbindung zum nächsten hingepinselt war.
Da Umschläge unbekannt waren, wurden Briefe in dickeres Papier eingerollt und dieses an beiden Enden zusammengedreht. Um einen Brief zu einem wirklichen Brief zu machen, diesem Gewicht zu verleihen, wurde er zumeist gemeinsam mit einem Gegenstand überreicht, an einen Fächer mit Blüten gebunden, an ein großes Schilfrohr, eine sich eben entfaltende Chrysantheme, an einen Fuji-Zweig, einen Kirschzweig, einen Zweig der Rotpflaume, an ein Kleidungsstück oder ähnliches. All diese Beigaben waren beredt und wurden entsprechend gedeutet. Es durfte nicht einfach irgendein hübscher Zweig sein, kam doch allein den unterschiedlichen Farben von Blüten eine jeweils andere Bedeutung zu, ganz zu schweigen von der Anzahl der Blüten oder der Art und Weise, wie ein Zweig gebrochen worden war. Mit einem frosterstarrten Bambuszweig ließ sich dies, mit einem Büschel Seegras anders zum Ausdruck bringen. Oft wurde auf allgemein bekannte Gedichte angespielt. Trotz der ganzen Bandbreite an Möglichkeiten setzten der gute Geschmack oder die Etikette Grenzen. Rangunterschiede waren zu beachten. Einer Nonne war nur ein blütenloser Zweig erlaubt. Allerdings ließen sich allzu enge Festlegungen auch unterlaufen. So etwa konnte eine Dame, die sich bedrängt fühlte, einen Brief mit der Bemerkung zurückschicken: „Ich glaube, dieser Brief ist für jemand anderen gedacht.“ Dabei hatte sie den Sinn seiner Zeilen durchaus verstanden.
Die hohe Kunstform des Briefschreibens mit all den Verweisen, Zitaten, Anspielungen und Wortspielen fand dort ihre Kehrseite, wo manche beim Lesen eines Briefes nicht mehr wussten, ob denn nicht doch ein geheimer Sinn in den Zeilen enthalten sei. Man muss mitdenken, was in Briefen nicht mitgeteilt werden konnte, was in all den Naturbildern fehlte, was als Beigegenstand nicht in Frage kam. Im Artifiziellen, und als höchst artifiziell ist die damalige Kunstform des Briefes zu betrachten, gingen drückende Empfindungen verloren. Antwortete eine Frau einem Mann nach einer kränkenden nächtlichen Erfahrung formlos mit: „Euern Brief erhielt ich. Ich fühle mich erbärmlich und kann daher nichts weiter sagen“, war diese Nachricht für ihn bedeutungslos, da sie nicht den Regeln des Briefschreibens entsprach.
Wir betrachten einen Brief als weitgehend isoliertes Objekt, wird er doch von anonymen Dienstleistern zugestellt, von diesen nicht einmal überreicht, sondern nur in einen Briefkasten gesteckt. Wer in der Heian-Zeit einen Brief verfasste, übergab diesen einem Boten und ließ ihn überbringen sollte. Wiederum galt es vieles mitzudenken. Das beginnt bereits beim Geschenk, das dem Boten oder der Botin zustand. Ein Brief konnte leicht in falsche Hände geraten, etwa dann, wurde er innerhalb der Palastanlagen von einem in Liebesdingen unerfahrenen Pagenmädchen überbracht. Frauen hatten nicht viele Möglichkeiten, Briefe zu verstecken. Nur zu leicht offenbarten sich dem Eifersüchtigen ihre Geheimnisse im Tuschekästchen, unter dem Kissen oder einer Matte. Vor allem dann, wenn es sich um eine unerlaubte Affäre handelte, musste damit gerechnet werden, dass der Brief in falsche Hände gelangen konnte. Es empfahl sich also, sich in Andeutungen auszudrücken.
Die Welt der Männer war von jener der Frauen streng getrennt. Ranghohe Frauen durften sich Männern, sieht man von Familienangehörigen ab, nicht zeigen. Sie hatten sich hinter Fächern, Bambusvorhängen oder Wandschirmen zu verbergen. Die Kontaktaufnahme geschah auf höchst ritualisierte Weise. Wollte ein Höfling einer Hofdame, die er oft genug nur vom Hörensagen kannte, nähertreten, so ließ er ihr durch jemanden, der zum Haus der Frau gehörte und niederen Standes war, ein selbstverfasstes Liebesgedicht zukommen. Fand das Gedicht Gefallen, so schrieb sie ihrerseits ein Gedicht und ließ es überbringen. In ihrer Antwort konnte die Frau sich auch abweisend oder unbestimmt zeigen. Sie musste nicht unbedingt antworten, aber es empfahl sich, zumindest ein unverfängliches Antwortgedicht zu verfassen. Erlaubte sie ihm, sie aufzusuchen, so durfte er zunächst nicht einmal ihre Veranda betreten, während sie hinter einem Vorhangständer, vor dem er sich niederzulassen hatte, verborgen blieb.
Vorhangständer zählten zu den unerlässlichen Einrichtungsgegenständen der Heian-Zeit. An einem an einer beweglichen Holzstütze befestigten Querstab hing eine aus Stoff oder Bambusstäben gefertigte Blende. Sprach eine Hofdame mit einem Mann, der nicht zu ihrer engeren Familie zählte, so saß sie hinter einem Vorhangständer, und da sie im dunkleren Innenraum, ihr Gesprächspartner dagegen im helleren Außenraum Platz zu nehmen hatte, konnte sie diesen betrachten, während ihm ihr Gesicht verborgen blieb. Nur sie durfte die Blende anheben, nur mit ihrer Erlaubnis durfte er näher rücken. Alles andere hätte gegen die Etikette verstoßen. Da solche Vorhänge nicht allzu breit waren und nicht ganz bis zum Boden reichten, waren für einen Liebeswerbenden ihre Ärmel wie die sich auf dem Boden ausbreitende Bekleidung sichtbar, zumeist auch die Spitzen des bis zum Saum der Gewänder herabwallenden Haares, was als Zeichen besonderer Schönheit galt. Sein Augenmerk galt den Schichten ihrer übereinander getragenen Kleider, die nur an drei Stellen sichtbar waren: am Kragen, an den Ärmeln und an den Säumen des Gewandes. Aus den wenigen sichtbaren Details ließen sich Rang und Geschmack ablesen, ließ sich auf die Schönheit der hinter dem Vorhangständer verborgenen Frau schließen. Die Anordnung hatte viel mit Lektüre zu tun, wirkten doch die in dunkleren und helleren Farben übereinander liegenden Gewandschichten, als habe man farbiges Papier zu einem Heft gebunden.
Kleinste Geräusche galt es zu deuten, das Rascheln ihrer Gewänder, das Reiben einer Perlenschnur an einer Armstütze, all die Seufzer und Atemstöße. Um sich selbst Gewicht zu verleihen, umgaben sich werbende Männer mit einer Duftwolke. Kein Frauenabenteuer, ohne vorher sämtliche Kleidungsstücke auf einem Gestell über glimmender Kohle mit ausgefeiltesten Duftkombinationen einzuräuchern. Während ihre übereinanderliegenden Ärmelschichten seinen Augen galten, hatte sie die von ihm ausgeströmten Düfte durch ihre Nase aufzunehmen, was bereits die Grundstruktur solcher Verhältnisse deutlich macht.
Zumindest dann, wenn ein Mann aus der höfischen Gesellschaft um eine Frau warb, die seinem Stand entsprach, war sie in diesem Augenblick im Vorteil. Sie konnte sich bitten lassen, schmollen, trotzen, abweisen, schweigen oder, ein Unwohlsein vortäuschend, sich in die hinteren Räume des Hauses zurückziehen. Sie konnte eine Dienerin vorschicken, wie überhaupt Dienerinnen oft mit der Überbringung mündlicher oder schriftlicher Nachrichten betraut wurden. Kam es dann doch zu einer ersten gemeinsam verbrachten Nacht, dann musste diese anregender Konversation gelten. Auf keinen Fall durfte er einschlafen, schon gar nicht schnarchen. Brach der Morgen an, so hatte er sich vor Sonnenaufgang diskret zu entfernen. Kaum in seinem Haus angekommen, hatte er in einem Morgengedicht seinen Schmerz über die Trennung zum Ausdruck zu bringen. Auf das ihr überbrachte Gedicht hatte sie wieder mit einem Gedicht zu antworten. Heiraten kamen dagegen ziemlich formlos zustande. Eine Ehe galt dann als besiegelt, hatte der Mann in der dritten Nacht, die er bei der Frau verbrachte, mit ihr eine bestimmte Anzahl von Klößen aus gestampftem, klebrigem Reis (
mochi) verzehrt.
In ihrem „Kopfkissenbuch“ zählt Sei Shonagons auf, was in einem Haus vorhanden sein muss: „Die Küche. Die Räumlichkeiten für das Gefolge. Ein neuer Besen. Junge Mägde und Diener. Ein dreiteiliger Wandschirm. Ein hübscher bestickter Proviantsack. Ein Regenschirm. Eine lackierte Tafel, auf der man niederschreibt, was man vergessen könnte. Ein rundes Kissen. Ein Kohlenbecken, das mit Zeichnungen hübsch verziert ist. Schalen für den Reiswein.“ Sieht man von den jungen Mägden und Dienern ab, dann haben wir es, denken wir an all das, was wir in unseren Wohnungen und Häusern als unentbehrlich finden, mit einer auffallenden Genügsamkeit zu tun. In einem krassen Gegensatz dazu stand der Aufwand, der für Kleidung betrieben wurde, wobei die Schnitte der Kleidung einfach waren und die Betonung auf die Art des Gewebes, auf Farben und Farbzusammenstellungen gelegt wurde.
Schier endlos wäre die Liste, würde man all die von Murasaki Shikibu erwähnten Kleidungsstücke aufzählen, und dennoch hätten wir es bestenfalls mit einer vagen Vorstellung von dem zu tun, was in der höfischen Welt der späten Heian-Zeit getragen wurde. Was sich schickte, das war trotz aller Moden bis in kleinste Details durch Bestimmungen des Hofes oder der Etikette festgelegt. Bei offiziellen Anlässen trugen Männer ein je nach ihrem Hofrang gefärbtes Übergewand (
ue no kinu), darunter ein etwas längeres Untergewand (
shitagasane), unter diesem das meist weiße
akome, das sehr dünne
hitoe und eine Art Rockhose (
ue no hakama). Für den Alltag kleideten sie sich mit dem
naōshi, das ihrem Zeremonialgewand ähnelte, die Bewegungsfreiheit aber weniger einschränkte. Bei Ausfahrten oder heimlichen Besuchen entschieden sie sich meist für die bequemere und einfachere
kariginu-Kleidung.
Da sich Frauen die meiste Zeit innerhalb des Hauses aufhielten, wurde der Unterscheidung zwischen offizieller und gewöhnlicher Kleidung weniger Bedeutung beigemessen. Die offizielle Frauenkleidung bestand aus dem
karaginu als Obergewand, unter dem mehrere dünnere Gewänder getragen wurden. Die innerste Schicht der Gewandung bestand aus weißer Seide, darüber folgten andere Lagen in verschiedenen Farben und Seidenstoffen, von denen jede ihre eigene Bezeichnung hatte. Zum Obergewand konnten bei zeremoniellen Anlässen ein Mantel und eine Schleppe gehören.
Es gab zahllose Farbnuancen. Jede der Farben hatte ihre eigene Bezeichnung, etwa „purpurrote Pflaume des Frühlings“. Erst in der Kombination übereinandergelegter Schichten kam den einzelnen Farben ihre Bedeutung und Wirkung zu. Mögliche Farbkombinationen waren alles andere als beliebig. Eine dieser Kombinationen nannte sich „unter dem Schnee“. Auf Schichten von Grün, die an Blätter erinnern sollten, folgten Schichten von Rosa, schließlich Weiß, um Schnee zu symbolisieren. Farbkombinationen änderten sich mit den Jahreszeiten. Von innen nach außen oder auch von außen nach innen konnten die Farbtöne von hell ins Dunkle übergehen. Die Kunst des Färbens war hoch entwickelt. Oft war der Stoff an der Vorderseite anders gefärbt als an der Rückseite, man nannte dies die
gasane-Färbung – beim
yamabuki waren es die Farben Gelbbraun und Gelb; beim
sakura (Kirsch-)
gasane Weiß und Rot.
Ao-nibi war ein mattes graues Blau,
ebizome ein Hellviolett,
kanzo ein mit Hellrot gemischtes Gelb; unter
susogo verstand man eine Färbart, bei der der untere Teil des Gewandes dunkler gehalten war. Die Farbnuancen waren ohne Zahl, die Sensibilität gegenüber Farbzusammenstellungen höchst entwickelt.
Das Zentrum einer idealtypischen Wohnanlage bildete das nach Süden ausgerichtete Haupthaus, das dem Aufenthalt des Hausherrn und seiner Gäste diente. Der in der Mitte dieses Gebäudes gelegene Hauptraum (
moya) war von Wohn- und Vorratsräumen (
hisashi) umgeben, die eine Stufe niedriger lagen. Da der Hauptraum selbst ziemlich düster war, hielt man sich tagsüber zumeist in den diesen umgebenden Räumen auf, um die wiederum eine noch etwas tiefer gesetzte, nach außen mit einer Balustrade (
kōran) begrenzte Veranda (
sunoko) führte, die an der Stirnseite des Haupthauses vom Garten aus über eine fünfstufige Treppe betreten werden konnte. Neben dem Haupthaus wurden weitere Bauten errichtet, in denen die Hauptfrau, Nebenfrauen und Geliebte, Kinder, Verwandte, Gefolgsleute und Diener untergebracht waren. All diese Gebäude waren mit dem Haupthaus durch lange überdachte Gänge verbunden.
Der Hauptraum wurde mit Hilfe von aufrollbaren Vorhängen aus Bambus oder Schilf abgeschirmt. Dank beweglicher Trennwände und Stellschirme ließ er sich auch, so dies gewisse Anlässe erforderten, in kleinere Räume unterteilen. Geradezu modern muten Normformate an, so der Abstand zwischen den Säulen oder die Größe der Matten. Die Gebäude und ihre Räume waren von geometrischer Strenge. Alles schien im rechten Winkel zueinander zu stehen, wie auch die nach chinesischem Vorbild errichtete Stadt
heian-kyō insgesamt schachbrettartig gegliedert war.
Die Räume waren nur spärlich möbliert. Neben niederen Tischchen gab es einige Truhen, Kissen und Armstützen, um es sich auf dem Boden bequem zu machen. In einem Schreibkästchen wurden Tuschereibstein und Pinsel, Messer, Papier, Kalender und ähnliches aufbewahrt.
Nach außen waren die Räume durch hochklappbare Läden (
kōshi) abgeschirmt, die bei warmem Wetter abgenommen und durch Bambusgeflechte ersetzt wurden. Die Abgrenzung von Innen- und Außenraum war allein schon durch die großen Flächen, die sich öffnen ließen, höchst unscharf, das Hausinnere gegen die Außenwelt eher abgegrenzt als abgeschlossen. Vergleicht man diese Bauweise mit den architektonischen Lösungen der Ainu, die damals noch nicht vollständig nach Hokkaidō zurückgedrängt worden waren, so fällt auf, dass deren Häuser nur kleine Öffnungen nach außen kannten, also der Höhle näher standen als den Palastbauten mit ihren zeltartigen Dachkonstruktionen. Architektur bringt die soziale Ordnung zum Ausdruck, rahmt und bestätigt diese. Den Stammesgesellschaften der Ainu war eine ausgeprägte hierarchische Struktur fremd, weshalb sich ihre Mitglieder dicht zusammendrängen konnten, was in der höfischen Welt der Heian-Zeit mit ihrem komplizierten Ranggefüge völlig undenkbar war. Hier lag die Betonung auf visueller Kontrolle, auf dem Sehen und Gesehenwerden, was schon das ständige Schließen und Öffnen von Klappfenstern oder das Verschieben von Stellwänden deutlich macht.
Fenster im eigentlichen Sinn waren unbekannt. Selbst Palastbauten muss man sich während der Wintermonate als ziemlich unbehaglich vorstellen, ließen sie sich doch nicht wirklich gegen Kälte und Wind abschirmen. In den Räumen muss es während der Wintermonate oft sehr kalt gewesen sein, selbst dann, wenn man um ein Holzkohlebecken saß und die Asche immer wieder zu neuer Glut aufgestochert wurde. Der von den Holzkohlebecken aufsteigende Rauch zog durch eine in der Mitte der Decke angebrachte Öffnung ab, über der sich ein kleines Dach befand, um den Regen abzuhalten. Um sich zu wärmen, trug man kleine Kohlegefäße mit sich herum, mit denen man sich auch schlafen legte, was, wie die vielen Brände belegen, nicht ganz ungefährlich war.
Weniger die Gebäude, Kleidung bot Schutz vor Kälte. Während der kälteren Jahreszeit wurden mehrere gefütterte Roben übereinander getragen. An die Stelle weicher und anschmiegsamer Seide trat mit Frühlingsbeginn Rohseide, die kaum an der Haut anliegt und deshalb kühler ist, ein Effekt, dem auch die Stärkung der Roben diente. Während der heißesten Jahreszeit war die Kleidung so leicht, dass sie die Haut fast durchschimmern ließ. Auch unterschiedliche Webarten konnten der Wärmeregulierung dienen. Aber ob Sommer oder Winter, stets wurden mehrere Schichten übereinander getragen. Die höfische Gesellschaft wohnte weniger in ihren Häusern als in ihren Kleidern.
Man mag sich fragen, warum niemand auf die Idee kam, die mit Papier bespannten Schiebewände oder all die hochklappbaren Läden durch Glasscheiben zu ersetzen, war doch die Kunst der Glasherstellung nicht völlig unbekannt. Glasscheiben hätten nicht nur besseren Schutz gegen die Kälte geboten, sondern vor allem mehr Licht in die innersten Räume fallen lassen, die schon allein durch die weit herabgezogenen Vordächer dunkel waren. Sich auf die Heian-Zeit beziehend schreibt Tanizaki Jun’ichiro, man habe aus der Not eine Tugend gemacht, „denn ohne Zweifel wären auch für die Japaner helle Räume bequemer gewesen als dunkle. Das, was man als schön bezeichnet, entsteht in der Regel aus der Praxis des täglichen Lebens heraus. So entdeckten unsere Vorfahren, die wohl oder übel in dunklen Räumen wohnen mussten, irgendwann die dem Schatten innewohnende Schönheit, und sie verstanden es schließlich sogar, den Schatten einem ästhetischen Zweck dienstbar zu machen. Tatsächlich gründet die Schönheit eines japanischen Raumes rein in der Abstufung der Schatten.“ Dass die Nachfahren der Sonnengöttin das Schöne ausgerechnet im Schattenhaften suchten, ist nur auf den ersten Blick irritierend.
Das Fehlen wirklicher Fensterlösungen lässt sich nicht durch den Mangel an technischen Fertigkeiten erklären, zeugen doch die wenigen erhalten gebliebenen Bauten von großem handwerklichem Können. Tatsächlich waren Fenster, also transparente Flächen, die den Innenraum hermetisch vom Außenraum trennen, für damalige Vorstellungen undenkbar. Kälte und Wind mussten in die Häuser dringen. Der jahreszeitliche Rhythmus musste gewahrt bleiben, vor allem empfunden werden. Durch die Einführung von Fenstern hätte sich das höfische Leben grundlegend geändert. Genau auf den Tag festgelegte Zeremonien hätten in Räumen mit mehr oder weniger konstanter Temperatur ihren Sinn verloren und dadurch die höfische Welt ihre Legitimität. Es bedurfte der Kälte, des unter schwerer Schneelast knarrenden Gebälks. Auch galt es, mögliche und nicht zu vermeidende Erhitzungszustände abzukühlen. So betrachtet kam der Architektur eine wichtige Funktion in der gesellschaftlichen Wärmeregulierung zu. Auch ließ die Disziplinierung der Körper diese selbst zu architektonischen Gebilden werden. Die Körpergesten, denen sich vom Kaiser bis zu den puppenhaft gekleideten Pagen, die maschinengleich ihre Tänze aufführten, alle zu unterwerfen hatten, rückten die Körper in die Nähe von Möblierungen, Einrichtungsgegenständen wie Schreibkästchen, Sitzkissen, Vorhangständer oder Schiebewänden.
Am ersten Tag des vierten und am ersten Tag des zehnten Monats wechselte man die Kleidung. Am siebten Tag des ersten Monats versammelten sich die Minister und Hofleute im Hauptgebäude des kaiserlichen Palastes, um mit dem Kaiser zwanzig neue Pferde zu besichtigen. Am einundzwanzigsten Tag des ersten Monats fanden nach einem gemeinsamen chinesischen Dichten Bankette statt. Nach dem zwanzigsten Tag des dritten Monats waren Kandachime und Prinzen zu einem Bogenschießen geladen. Anschließend folgte ein Fest unter Glyzinienblüten. Dann das Kirschblütenfest. Während des Pfirsichblütenfestes schmückte man die Räume mit Pfirsichblüten, rieb sich während einer Reinigungszeremonie den Körper mit einer aus Papier gefertigten Puppe und warf diese in den Fluss, damit sie jede Verunreinigung mit sich forttrage. Ein Bußtag als Festlichkeit am „ersten Schlangentag des Frühlings“, dies deshalb, weil die Zeit, in der die Schlange ihre alte Haut abwirft, den Übergang aus dem Winterdunkel in das hoffnungsvolle Licht des Frühlings bezeichnet. Eines der großen Jahresfeste fiel auf den fünften Tag des fünften Monats. An diesem Tag zog man Iris mit der Wurzel aus der Erde. Gewinner war derjenige, der die längste und feinste Wurzel herausgezogen hatte. Am Tag des Totenfestes, es wurde im siebten Monat begangen, opferte man den Seelen der verstorbenen Vorfahren und betete zu ihnen, wobei dies nicht mit dem uns bekannten Beten zu verwechseln ist. Pflichtschuldigst herbeibeten, um sie dann wieder fortzuschicken, und sei es mit Hilfe von Vögeln, die die auf kleine Boote gepackten und in einem Fluss davontreibenden Opfergaben verzehren. Beim alljährlich stattfindenden Chrysanthemenfest inspizierten Adlige in Anwesenheit des Kaisers die Chrysanthemen im Garten des Palastes. Das Fest des roten Herbstlaubes fiel auf den zehnten Tag des zehnten Monats. In den sechsten und zwölften Monat fielen Zeiten der Reinigung. Und so weiter und so fort. Angefangen von der Kleidung über Wandschirme bis hin zum Spielen von Instrumenten hatte alles jahreszeitlichen Wechseln zu entsprechen. Es hätte gegen den guten Geschmack verstoßen, während des Herbstes in einem Gedicht Kirschblüten zu erwähnen.
Nicht nur das Jahr mit seinen zahllosen Festen und Feierlichkeiten, das Leben selbst war räumlich und zeitlich organisiert. Am dritten, fünften, siebten, fünfzehnten, dreißigsten und fünfzigsten Tag nach der Geburt eines Kindes wurden Bankette veranstaltet und Geschenke überreicht. Wurde ein Knabe im Alter von etwa zwölf bis vierzehn Jahren mannbar, so wurden ihm in einer feierlichen Zeremonie die seitlichen Haare abgeschnitten und erstmals ein Hut, die „Krone des Körpers“, aufgesetzt. Mädchen erhielten im Alter von zwölf oder dreizehn Jahren erstmals eine Schleppe und waren somit heiratsfähig. Dem Vater des Mädchens oder einer möglichst hochstehenden Persönlichkeit stand die Aufgabe zu, ihm das Hüftband zu schnüren. Das Mädchen hatte hinter einem Vorhangständer, womöglich auf einem prächtigen Baldachinlager, Platz zu nehmen. Die nächtliche Zeremonie konnte an einem Tag, der als besonders glückbringend galt, als prunkvolles Fest begangen werden, zu dem viele Gäste geladen waren, die das Mädchen mit Stapeln von Gewändern, mit Kämmen, Fächern, Geräten zum Haaraufbinden, mit erlesenen Sorten chinesischen Räucherwerks beschenkten, also mit lauter Dingen, die in ihrem Leben fortan unentbehrlich waren. Dies konnte unmittelbar einer Ehe oder dem Eintritt in den Hofdienst vorausgehen.
Im Zentrum der Gesellschaft stand der Kaiser, der „himmlische Herrscher“ (
tennō), der als Abkömmling der Sonnengöttin amaterasu, der „am Himmel scheinenden großen erlauchten Göttin“, betrachtet wurde. Der Kaiser selbst hatte keine politische Macht und verbrachte seine Tage damit, all die geheiligten Rituale zu vollziehen, die für das Wohlergehen des Landes notwendig waren, Rituale, die in ihrem Kern Vegetationskulten zuzuordnen sind. Eine der zentralen Überlieferungen dreht sich um den Tod und das Wiedererwachen einer Herrscher-Gottheit. Die Sonnengöttin amaterasu wird durch ihren Bruder s
usa-nowo-no-mikoto durch eine Reihe böser Taten und Tabuverletzungen gekränkt. Als er der Göttin, die in der Heiligen Webhalle am Webstuhl sitzt, ein totes Pferd vor die Füße wirft und eine ihrer Dienerinnen tötet, ist
amaterasu so bestürzt, dass sie sich in einer Höhle, die unschwer als Grab zu deuten ist, einschließt, worauf sich Himmel und Erde verfinstern. Ihr Wiedererscheinen verdankt sich einem bauboartigen ekstatischen Tanz, den die Göttin
ama no uzume vor der Höhle aufführt. Neugierig ob des Lachens und Lärmens schiebt
amaterasu den Stein, der die Höhle verschließt, zur Seite und erblickt ihr eigenes Spiegelbild. In früherer Zeit wurde ein Fest begangen, welches der Wiederkehr des jugendlichen Gottes waka-ikazuchi galt. Der Gott wurde in der Dunkelheit zum Kamo-Fluss getragen und ins Wasser geworfen. Eine geweihte Prinzessin (
itsuki-no-miko) hatte sich, um den Gott zu retten, in den Fluss zu stürzen. Für eine Nacht wurde das „Mädchen der göttlichen Erscheinung“ (
miare-no-otome) zur Braut des Gottes.
Während der späteren Heian-Zeit zählte es zu den ersten Amtshandlungen eines neuen Kaisers, eine jungfräuliche Prinzessin zur Oberpriesterin am Großen Schrein von Ise zu ernennen. Bevor diese aufbrach, um dort ihren Dienst anzutreten, hatte sie sich in einer feierlichen Zeremonie im Kamo-Fluss einer Reinigung zu unterziehen. Dabei überlagerte sich das Kultische, dessen ursprünglicher Kern kaum mehr zu erkennen war, mit einem großen farbenprächtigen gesellschaftlichen Ereignis, an dem die höchsten Würdenträger teilnahmen und Schaulustige auf sorgfältig geschmückten Tribünen das Schauspiel, vor allem den Zug, „das unbeschreiblich glanzvolle Bild“, verfolgten. Wie kann man sich die Reinigung einer künftigen Ise-Priesterin im Kamo-Fluss vorstellen? Stieg sie in den Fluss? Tauchte sie unter? Oder tauchte sie nur ihre Hände ins Wasser? Musste sie sich ihrer Kleider entledigen? Ich weiß es nicht. Gewiss war die eigentliche Reinigung für die Zuschauer nicht zu sehen, erfolgte diese doch hinter zeltartig aufgestellten Schirmen. Zu Fuß brauchte sie sich nicht zu bemühen. Sie saß oder lag, von Blicken abgeschirmt, in einer großen Sänfte, die von so vielen Männern getragen wurde, dass sich alle Unebenheiten ausglichen, als würden nicht Menschen, sondern sanfte Wellen sie tragen.
Bevor die künftige
saigū mit ihrem Gefolge nach
saikū, einem in der Nähe des Ise-Schreines gelegenen Ort, aufbrach, steckte ihr der Kaiser einen Kamm ins Stirnhaar und sprach dabei: „Kommt nicht wieder in die Hauptstadt zurück!“ Eine Rückkehr war nur nach seiner Abdankung oder seinem Tod möglich. Nach der Reinigung im Fluss, die ihre Vermählung mit der Gottheit symbolisierte, hatte die saigū enthaltsam zu leben; es ist anzunehmen, dass in archaischen Zeiten, in den furchtbaren Zeiten, in denen „Felsen und Baumstümpfe redeten“, wie in vergleichbaren Kulturen tatsächlich eine Prinzessin oder eine Stellvertreterin geopfert wurde. Eine Erinnerung daran blieb wach, konnte doch in späterer Zeit die Reinigung im Fluss, der sich die Menschen immer wieder zu unterziehen hatten, einem Stellvertreter übertragen werden, an dessen Stelle schließlich dem menschlichen Körper nachgebildete Papierpuppen (
kamibina), leblose Opfer, traten, wobei es sich auch um hölzerne Spulen, entsprechend zusammengebundene Flockenseide oder roh zurechtgeschnitzte Feldfrüchte handeln konnte.
Der Kamm findet sich übrigens in vielen anderen Vegetationsmythologien, wie natürlich auch das bereits erwähnte lange Frauenhaar. Brannte ein Tempel ab, so opferten Frauen ihr Haar, seien es auch nur einige Strähnen, damit man daraus ein langes dickes Tau flechte, um mit diesem den entscheidenden Mittelbalken des neuen Tempels aus einem Wald herbeizuschleppen.
Das höfische Leben war zutiefst kultisch geprägt, was schon allein die für den
shintō-Kult des Kaisers zuständige „Behörde für Angelegenheiten der Gottheiten“ (
jingikan) deutlich macht. Die Adeligen bildeten eine Priesterkaste, mochten sie auch, sieht man vom Kaiser oder der Oberpriesterin am großen Schrein von Ise ab, die religiösen Alltagsgeschäfte buddhistischen Mönchen oder shintoistischen Priestern überlassen, bestand doch ihr Bestreben darin, Kontinuität zu wahren, und dies im doppelten Sinn. Der Faden zur Urmutter amaterasu durfte nicht abreißen. Da im Hochadel nur innerhalb eines engen Familiengeflechts geheiratet wurde, waren alle mit dem Kaiser verwandt und somit letztlich Nachfahren der Sonnengöttin. Auch bedurfte es, so fremd es für unsere Ohren klingen mag, einer Priesterkaste, um die Vegetationszyklen aufrechtzuerhalten, was etwa das jährliche Erntefest deutlich macht. Während der
gosechi-Feier, einer zeremoniellen Darbringung von frisch geerntetem Reis durch den Kaiser an die Götter, hatten acht Pagenmädchen vor dem Kaiser einen Tanz aufzuführen und sich vor ihm zu verbeugen. Auf ihren Auftritt wurden sie lange vorbereitet. Vier der Mädchen waren als Vögel gekleidet, vier als Schmetterlinge. Die einen trugen in silbernen Blumenvasen Kirschblütenzweige, die anderen in goldenen Vasen Goldnesseln. Sänger traten auf. Wie in einem Theater war jede Bewegung, jeder Auftritt exakt festgelegt, selbst die Art und Weise, wie sich der Kaiser zu kleiden hatte.
Priesterkasten mit einem Gottkönig sind uns in ähnlicher Form aus anderen frühen getreideanbauenden Kulturen mit entsprechenden Mythologien bekannt, wobei die geltende Ordnung stets als gottgegeben betrachtet wurde, auch von den Angehörigen solcher Priesterkasten selbst. Der für das höfische Leben nötige Überschuss verdankte sich Naturalabgaben oder Frondiensten, die die einfach lebenden Bauern zu leisten hatten und die wie in verwandten Kulturen von einem bürokratischen Apparat bewirtschaftet wurden. Auffallenderweise fehlen Monumentalbauten, wie wir sie aus Ägypten oder Mesopotamien kennen.
Heian-kyō war zwar großzügig angelegt, wie man sich auch einzelne Palastanlagen prachtvoll vorstellen muss, der Überschuss wurde allerdings weniger in Bauwerke als in flüchtige Dinge investiert, in Kleidung und Papier, Gedichte und farbenfrohe Feierlichkeiten. Jahreszeitliche Feste und Zeremonien, alles wiederholte sich. Es schien, als werde sich die Welt nie ändern. Nach Claude Lévi-Strauss haben wir es mit einer kalten Kultur zu tun, und dies trotz zentralisierter Herrschaft und ausgeprägter Rangordnungen. Selbst der intensiv betriebene Reisanbau mit all den Eingriffen in Landschaft und Natur spricht nicht dagegen. Alles schien sich ständig zu wiederholen. Die Leute verbeugten sich, gingen, redeten, lächelten, wie sie gestern, vorgestern und in allen vergangenen Zeiten geredet, gelächelt und sich verbeugt hatten.
Während die Gebäude und ihre Innenräume sehr streng gehalten waren und klare Linien betonten, müssen die umliegenden Gärten auf den ersten Blick einen geradezu organischen Eindruck vermittelt haben. Tatsächlich handelte es sich um höchst artifizielle Miniaturlandschaften mit Baumgruppen, kleinen Seen, Bächen und Felsen, die wie all die Gedichte strengen Kompositionsregeln folgten. Blütenbäumen wie der roten Pflaume konnten fünfnadlige Kiefern entgegengesetzt werden, Laubbäumen des Frühlings solche, die erst im welkenden Laub des Herbstes ihre Farbenpracht entfalten. Ständig war jemand damit beschäftigt, Bäume zu beschneiden oder Hecken zu stutzen. Kaum waren morgens die Trittsteine abgewischt, streute ein anderer im Wald gesammelte frische Piniennadeln aus, oder auch buntes herbstliches Laub. Jeder Felsbrocken war sorgfältig ausgewählt, herbeigeschafft und arrangiert worden. Solche Gärten kannten kein wirkliches Eigenleben, nicht die geringste Unordnung. Hätte man Gitterlinien über das Sichtfeld gelegt, wäre die geradezu zwanghafte Ordnung der kulissenhaften Arrangements offensichtlich gewesen. Ob Bach, Haus, Pinien oder Steine, nicht das Geringste wäre aus dem Rahmen gefallen.
Letzthin surrte an einem der Abende eine Drohne über mir. Ihr Surren war auch dann noch deutlich zu hören, wenn sie tausend Meter über mir stand oder sich über der anderen Talseite bewegte, mit freiem Auge nicht mehr zu sehen war. Obwohl das einmal höher, dann wieder tiefer klingende Surrgeräusch gar nicht so laut war, nicht mit dem Lärm einer Motorsense zu vergleichen, empfand ich es doch als sehr unangenehm. Zu meinem Erstaunen musste ich feststellen, dass die Amseln, die sich sonst an jedem Abend geradezu lustvoll ihrem Gesang hingaben, verstummten und auch dann nicht mehr sangen, als die Drohne endlich verschwunden war. Sie blieben stumm. Vermutlich nahmen sie das Surrgeräusch als bedrohlich wahr, womöglich als Summen eines ins Riesenhafte vergrößerten Insekts. Nur die Grillen mit ihrem maschinenhaften Gezirpe schien es nicht zu stören.
In
heian-kyō war es Aufgabe der Palastwächter, nachts in regelmäßigen Abständen die Sehnen ihrer Bögen schwirren zu lassen, um die bösen Geister, die aus nordöstlicher Richtung den Palast bedrohten, abzuwehren. Ob ihnen das gelang, weiß ich nicht zu sagen. Auf jeden Fall verstummten die Nachtigallen, erwähnt doch Sei Shonagon, noch nie in den Gärten des kaiserlichen Palastes eine Nachtigall gehört zu haben: „Die Nachtigall wird in der japanischen Literatur ihrer schönen Stimme wegen immer wieder gepriesen. Wie bedauerlich und merkwürdig ist es doch, dass sie sich nie innerhalb des kaiserlichen Palastbereiches zeigt! Zuerst konnte ich es nicht glauben; aber tatsächlich habe ich während meines zehnjährigen Aufenthaltes bei Hofe niemals ihre Stimme im Palastgarten gehört, obwohl es da an schönen Pflaumenbäumen nicht fehlt. Geht man nur einen Schritt aus dem Palasttor, so hört man sie sogar auf den unscheinbarsten Pflaumenbäumen in öden Gärten prächtig trillern.“ An anderer Stelle ist zu lesen, das Zirpen der
matsumushis, der Glockengrillen, sei nur noch tief in den Bergen und auf menschenfernen Feldern zu vernehmen. Das Verschwinden der Nachtigallen hatte wohl weniger mit dem Schwirren der Bogensehnen als mit dem Umstand zu tun, dass die schönen Gärten kaum noch etwas mit Natur gemein hatten. Mochte in ihnen auch manches Fest gefeiert werden – auf größeren Teichen ließen sich Bootsfahrten unternehmen –, so spiegeln sich in ihnen all die Zurichtungen und Beschneidungen, denen die Menschen selbst unterworfen waren, in all ihren Ausdrucksformen, angefangen von den Gebärden bis hin zu den Gedichten.
Eine Fläche, auf der sich Reis hätte anbauen lassen, wäre undenkbar gewesen. Ertrag durften die Gärten keinesfalls liefern, nicht einmal Gemüse oder Früchte. Mochten all die Gärten auch der Muße dienen, der Verbesserung des Binnenklimas der Stadt
heian-kyō oder dazu, mit der vermeintlich unberührten Natur vergessen zu lassen, dass sich der ganze Wohlstand intensivst bewirtschafteter Kleinstparzellen verdankte, so kam ihnen doch vor allem eine kultische Bedeutung zu, ging es doch um die Darstellung ständigen Werdens und Vergehens.
Zwar finden sich viele Hinweise zu den ästhetischen Kriterien, nach denen Gärten gestaltet wurden, aber nur wenige zu ihrer tatsächlichen Errichtung. Dabei bedurfte es zahlloser Arbeiter, um all die Hügel aufzuschütten, Teiche oder Wasserfälle anzulegen, Bächen ein Bett zu graben, ausgesuchte Steine herbeizuschleppen, diese in klare Bächlein zu setzen, damit deren Rauschen heller klinge, oder kontrapunktisch zwischen einzelne Baumgruppen. Aller Gartenliebhaberei zum Trotz finden sich unter den Höflingen der Heian-Zeit keine wirklichen Gärtner, mochte es auch zahllose Ober- und Untergärtner gegeben haben. Letztere zählten gewiss nicht zu den Autoren von Naturgedichten, sonst hätte, wie in der späteren japanischen Literatur, doch die eine oder andere Gartenerfahrung ihren Niederschlag gefunden. Es fällt schwer, sich auch nur einen der Höflinge in Arbeitskleidung vorzustellen. Keiner von ihnen hat je Erde umgegraben oder Hecken gestutzt, war es doch undenkbar, selbst einen Regenschirm zu tragen. Dafür gab es Schirmträger. So wurde denn alles von Ober- und Untergärtnern nach Vorgaben arrangiert. Die Zikaden, an deren Gezirpe man sich erfreute, wurden von Dienern gesammelt. Hätte sich nur ein Höfling zum Gärtner entwickelt, die sterile Ordnung wäre ins Wanken geraten, tritt ein Gärtner doch in Zwiesprache mit seinem Garten, mit einer äußeren Welt, die ein Eigenleben hat. So hätte jeder einem Brief beigelegte Zweig eine andere Bedeutung gehabt, über festgelegte Zeichen hinaus gewiesen. Wirklichen Trost konnten die Höflinge in ihren Gärten nicht finden. Und wenn jemand plötzlich im Ranggefüge einige Stufen nach unten fiel oder ein Mann sich nicht länger um eine seiner Gemahlinnen kümmerte, wucherte das Gras wild empor, machten sich Gestrüpp, Brennnesseln und Beifuß breit, das Haus verfiel und Regen tropfte durch das Strohdach. Jeder Verlust an gesellschaftlicher Stellung fand seinen Ausdruck im Verfall von Häusern und dem Verwildern von Gärten.
Während der Pandemie haben wir manche Einschränkungen erfahren, hatten wir, sei es durch behördliche Regelungen oder aus Gründen der Vernunft, manches zu meiden. Die meisten empfanden das als sehr bedrückend. Dabei hätten wir uns all die Einschränkungen und Hemmnisse vor Augen halten sollen, die das höfische Leben während der Heian-Zeit bestimmten. Auf keinen Fall durfte man im Frühjahr den Herd ausbessern oder umbauen, da die Gottheit
dokujin im Frühling am Herd, im Sommer am Tor, im Herbst am Brunnen und im Winter im Garten wohnte. War es dennoch nötig, während des Frühlings Ausbesserungsarbeiten am Herd vorzunehmen, so wurde das Haus für „unglücklich“ erklärt. Um
dokujins Rache zu entgehen, suchte man vorübergehend in einem anderen Haus unterzukommen. Bestimmte Tage galten als unheilbringend. An „unglücklichen“ Tagen, sie nannten sich monoimi, durfte man das Haus nicht verlassen, keine Besuche empfangen oder Briefe entgegennehmen. Immer wieder mussten Wege wegen einer unheilbringenden Sternrichtung unterlassen werden. Das hing davon ab, wo sich dem Mondkalender entsprechend die Gottheit
nagakami gerade aufhielt. Undenkbar war es, auf sie zuzugehen. Ließ sich ein Gang nicht vermeiden, musste man einen Umweg einschlagen. Man konnte auch bei einem in einer anderen Richtung wohnenden Bekannten übernachten. Bei einem ungünstigen Vorzeichen war es nicht ratsam, in ein anderes Haus zu übersiedeln. Im neunten und zehnten Monat sollte das Haar nicht gewaschen werden. Der neunte Monat galt als ungünstig für eine Heirat. Wurde ein Kind geboren, hatten sich die Eltern eine bestimmte Zeit im Haus zurückzuziehen, da sich sonst ihre Unreinheit auf andere übertragen hätte. Als besonders unrein galt die menstruierende Frau. Hofdamen hielten sich in ihren Räumlichkeiten verborgen. Und hatten sie sich irgendwelcher Enthaltungszeiten wegen in einen Tempel zurückgezogen, so mussten sie sich, kaum setzte die Blutung ein, in eine außerhalb gelegene Unterkunft begeben. Frauen aus den niederen Schichten verkrochen sich in Meidungshütten. Ein
monoimi konnte auch vorgeschoben sein, war es doch eine der wenigen Möglichkeiten, unangenehme Begegnungen zu vermeiden oder sich eine Atempause zu verschaffen: „Meine Herrin bedauert es sehr, aber es haben sich gestern Abend die monatlichen Beschwerden wieder eingestellt. Außerdem sah sie in der Nacht einen bösen Traum, und so riet ich ihr, sich zurückzuhalten. Es ist heute also ein Tag des
monoimi.“
Wer ein Trauerhaus betrat, durfte sich dort nicht setzen, hätte dies doch Unreinheit zur Folge gehabt. Je nach Verwandtschaftsgrad konnten nach einem Todesfall die Enthaltungszeiten länger oder kürzer dauern, beim Tod des Vaters oder der Mutter, „wenn die Seele um die Dachtraufen schwebt“, 49 Tage, beim Tod einer Großmutter dreißig Tage: „Und da hockten ein paar von den Meinen, die eigentlich an den Hof des Kaisers hätten gehen sollen, zuhause über die Trauerzeit. Jeder schuf sich einen Raum für sich, indem ein großes Zimmer mit dünnen Scheidewänden und Wandschirmen abgeteilt wurde.“ Während dieser Zeit war Trauerkleidung zu tragen, je nach Verwandtschaftsgrad in helleren oder dunkleren Grautönen. Weder durften Briefe geschrieben noch Musikinstrumente benutzt werden. Selbst wenn eine niedere Dienerin erkrankte und plötzlich starb, man es versäumt hatte, sie vorher fortzubringen, hatte man sich zwanzig Tage zu enthalten. Zu enthalten hatte man sich auch, wenn der Todestag des Vaters oder der Mutter sich jährte. Erst nach einer Reinigung konnte man wieder in ein normales Leben zurückkehren: „Gleich legte ich die graue Trauer ab und reinigte all die grauen Dinge, die ich getragen hatte, sogar auch den Fächer, und warf sie in den Fluss. Dabei entschlüpfte ein Gedicht meinen Lippen: Alle die graue / Trauer ins Wasser werf ich. / Tränen mir strömen, / schwellen den Fluss, die Wellen / fluten über die Ufer.“ Man mag sich fragen, wie gesellschaftliches Leben überhaupt noch stattfinden konnte, hatte doch nahezu jeder Erwachsene während eines Jahres mehrere Wochen, wenn nicht Monate zurückgezogen zu leben. In unseren Augen einfach zu organisierende Treffen waren deshalb oft erst nach Wochen oder Monaten möglich.
Während es uns schwer gefallen ist, vergleichsweise moderate pandemiebedingte Beschränkungen zu ertragen, scheinen die Angehörigen der höfischen Welt der Heian-Zeit all die ihnen abverlangten Hemmnisse als gegeben betrachtet und sich weitgehend in diese gefügt zu haben. Die vielen Enthaltezeiten dürften nicht unwesentlich zu einer Steigerung und Verfeinerung der sinnlichen Wahrnehmung beigetragen haben. Gleichzeitig scheinen sie notwendig gewesen zu sein, kam ihnen doch, was gesellschaftliche Erregungs- oder Erhitzungszustände betrifft, eine dämpfende Funktion zu. Es wäre zu einfach, all das, wie es meist zu lesen ist, als Ausdruck verbreiteten Aberglaubens zu betrachten.
Unter dem höfischen Adel habe eine große Freizügigkeit im Liebesleben geherrscht, unverheirateten Frauen sei ein hohes Maß an sexueller Selbstbestimmung zugestanden worden. Scharen von Mädchen, die sich in Ochsenkarren aufs Land hinaus gewagt hätten, um dem Gesang der Vögel zu lauschen oder Blumen zu sammeln, hätten mit jedem jungen Mann geflirtet, der ihnen über den Weg gelaufen sei. Eine Dame, die einen oder mehrere Liebhaber gehabt habe, sei nicht aus dem Rahmen gefallen, vorausgesetzt, sie habe ein gewisses Maß an Diskretion beachtet. So liest es sich in Texten über die Heian-Zeit.
Ein Mann konnte mehrere Ehefrauen haben und daneben Verhältnisse mit heimlichen Geliebten unterhalten. Ähnliches lässt sich über die Hofdamen nicht sagen. Da Väter ihre Töchter als Investitionskapital betrachteten, zumindest jene, die aufgrund ihrer Abstammung in den höheren Adel einheiraten konnten, müssen sie sehr darauf bedacht gewesen sein, diese entsprechend abzuschirmen, um sie nicht unter ihrem Wert zu verlieren. Sexuelle Freizügigkeit galt keinesfalls für verheiratete Frauen, gleichgültig, wie viele Verhältnisse ihre Männer hatten. Selbst Nebenfrauen, die von ihrem Mann kaum noch beachtet wurden, hatten ihm treu zu sein. So etwas wie sexuelle Selbstbestimmung wurde bestenfalls unverheirateten Hofdamen zugestanden, die für eine entsprechende Heirat nicht oder nicht mehr in Frage kamen. Für sie gab es Gelegenheit genug, mochten sie auch ihr Leben hinter Wandschirmen oder Bambusvorhängen verbringen. All die Bereiche, in denen sie sich bewegten, sind ohne Männer nicht denkbar. Es brauchte Verwalter, Oberkämmerer, Unterkämmerer, Sekretäre, Zeremonienmeister, Wächter der Militärgarde zur Linken, Wächter der Militärgarde zur Rechten, der Torgarde zur Linken, der Torgarde zur Rechten, ganz zu schweigen von all den so gut wie nie erwähnten niederen Dienstboten. Im Palast, wo sich Damen und Herren im Dienst zusammenfanden, konnte sich im Lauf der Zeit ganz von selbst eine gewisse Vertraulichkeit oder Zuneigung ergeben. Warum sich nicht nachts mit dem einen oder anderen vergnügen?
Von einem hohen Maß an sexueller Selbstbestimmung der Frau kann schon allein deshalb nicht die Rede sein, da es stets am Mann lag, den ersten Schritt zu setzen. Frauen wurden aufgesucht, sie selbst konnten nicht aufsuchen, blieb ihnen doch der öffentliche Raum weitgehend verschlossen: „Ach, wäre ich doch auch als Knabe geboren! Dann könnte auch ich mich frei bewegen!“ Selbst beim Austausch von Gedichten ging die Initiative stets vom Mann aus, die Frau hatte zu antworten. Keinesfalls durfte der Eindruck entstehen, sie habe sich in Willkür selbst für einen Mann entschieden. Verhielt sich eine Frau abweisend, wurde sie als grausam, kalt, hart, unbegreiflich gefühllos oder unverständig gescholten.
Das um Trennwände, Schiebetüren oder Vorhangständer organisierte und in der Literatur der Heian-Zeit vielfach beschriebene Liebeswerben dürfte im realen Leben kaum diese Bedeutung gehabt und sich eher erzähltechnischem Bemühen verdankt haben, und wenn doch, so konnte ein Höfling, zierte sich eine Frau gar zu lange, bot sich ihm nur eine günstige Gelegenheit, alle geltenden Regeln missachten, nach ihrer Hand, ihrem Haar oder Kleid fassen, und schon fand er sich auf der anderen Seite des Vorhangständers: „Als er sie mit sanfter Gewalt näher zu sich heranzog, wollte sie schnell ihr Obergewand abstreifen und fliehen; doch da hielt er schon den Saum ihres Gewandes zusammen mit dem Ende ihres Haares fest in seinen Händen, und sie erkannte traurig ihr Schicksal und fügte sich verzweifelt darein.“ Gelang es ihr, sich dennoch zu entwinden, dann blieb ihr nur noch, in eine Besenkammer zu flüchten und dort zu verharren: „In dem
nurigome-Raum befanden sich nicht allzu viele Geräte, es waren chinesische Kisten mit Räucherwerk und einige Truhen. Diese waren rechts und links zur Seite geschoben worden, so dass es nicht mehr so eng war, und da lag die Prinzessin nun.“
Hofdamen konnten größte Scham empfinden, wenn sie sich dessen bewusst wurden, dass ein Mann sie durch ein offenstehendes Klappfenster, durch ein Loch in einer Trennwand oder durch die Ritzen eines Bambusvorhangs erspäht hatte. Allein dass ein Höfling eine der Hofdamen sah, und sei es aus der Ferne, konnte von diesem als Einwilligung verstanden werden, hätte sie als vornehme Dame doch darauf achten müssen, alles zu tun, um von keinem Mann erblickt zu werden. Nie hätte er es gewagt, bei ihr einzudringen, hätte er nicht zufällig einen Blick auf sie werfen können, hätten Dienerinnen in ihrer Unachtsamkeit nicht die Klappfenster offenstehen lassen, hätte nicht ein Windstoß für einen Augenblick den Vorhang, hinter dem sie saß, emporgehoben: „Hinter einer kleinen, hübschen chinesischen Katze lief eine etwas größere her, und als die kleinere plötzlich unter dem Saum des Vorhangs hervorsprang, erschraken die Dienerinnen, und man hörte an dem Rascheln ihrer Gewänder, wie sie sich aufgeregt hin und her bewegten. Die chinesische Katze war, vielleicht weil sie sich noch nicht an Menschen gewöhnt hatte, an einer sehr langen Schnur angebunden; diese wickelte sich, während jene fortzulaufen trachtete, um einen Pfosten, und dadurch hob sich, je heftiger das kleine Tier an der Schnur zerrte, die eine Seite des Vorhangs …“
Bei Dienerinnen stellten sich solche Probleme nicht. Fühlte sich ein Höfling von einer Dame zurückgewiesen oder gelangweilt, so konnte er zwanglos die Nacht bei einer der vielen Dienerinnen oder Zofen verbringen, die gewiss alle hübsch waren und aus gutem Hause stammten, aber einige Rangstufen tiefer standen. Da bedurfte es keines Vorhangständers. In der Regel dürften sie sich solchen Zudringlichkeiten gefügt haben, zumal sie es mit einem Mann zu tun hatten, der hoch über ihnen stand. Wurde eine von ihnen schwanger, so brauchte ihn das nicht zu kümmern. Dienerinnen waren austauschbar. Sie wurden gezählt, zählten selbst aber nicht wirklich. In gewisser Weise waren sie dem Inventar zugeordnet, ihre Anwesenheit wurde deshalb auch dann nicht als störend erlebt, wenn ein Höfling bei einer der Damen lag.
Hofdamen sollten flüssig mit dem Pinsel schreiben können, das Spiel auf dem
koto beherrschen, über erlesenen Geschmack und hohe Bildung verfügen, sowohl im ernsten Gespräch wie im vergnüglichen Spiel angenehme Unterhalterinnen sein, sanft und ergeben, eine der Etikette entsprechende Zurückhaltung zeigen, ihre Gefühle beherrschen, ihren Willen nie mit Gewalt durchsetzen und sich mit den Dingen abfinden, mochten sie ihnen auch missfallen: „Für eine Frau ist Sanftmut immer das beste. Übertreibt sie die Dinge und beginnt zu schelten, so hält sich der Mann, da ihm ihre Eifersucht lästig ist, vielleicht für eine Weile zurück, aber kein Mann fügt sich einer Frau auf die Dauer, er fühlt sich unbehaglich und peinlich beengt.“ Und war eine, die sich ein Mann zur Frau nahm, noch allzu jung und unreif, so bedurfte es seiner Hand, um sie zu verbessern und zu erziehen. Stets wurde über sie verfügt. Als Kind hatten sie ihrem Vater, nach der Heirat ihrem Ehemann, nach dessen Tod ihren Söhnen zu folgen. Die drei Folgsamkeiten zu missachten und nach dem eigenen Herzen zu handeln, das stand einer Frau nicht zu. Wen eine Frau zu heiraten hatte, das bestimmte nicht sie. Mädchen konnten bereits zwölf- oder dreizehnjährig, also in einem Alter, in dem die Brüste erst zu knospen beginnen, verheiratet werden, zudem mit Männern, die sie noch nie gesehen hatten: „Als es dunkel wurde, traf der Generalgouverneur ein. Der
shōshō führte ihn ins Haus und wies ihm den Weg zur
shi no kimi. Diese sah jetzt ein, dass sie sich nicht mehr widerspenstig zeigen konnte, da zum einen der Generalgouverneur sicher kein schlechter Mann war und der
sadaijin sich zum anderen unermüdlich für die Heirat eingesetzt hatte, und sie empfing ihn. Wie sie sich anfühlte und auf alle seine Sinne wirkte, war für den Generalgouverneur sehr reizvoll, und er freute sich.“ Man würde doch nur zu gerne wissen, wie er sich angefühlt und auf alle ihre Sinne gewirkt hat.
Nahm sich ein Kaiser eine weitere Nebenfrau, so zog sie mit großem Pomp, mit Wagen und Vorreitern und in Begleitung ihrer hübschesten Dienerinnen und Pagenmädchen in den Palast ein. Zuerst hatte sie sich in das Gemach der
nyōgo (=Hofdame) zu begeben, deren Aufgabe es war, den Kaiser in seinem Schlafzimmer zu bedienen, ihm aufzuwarten oder auch beizuwohnen. Dann suchte die neue Frau die ihr zugewiesenen und aufs prächtigste geschmückten Räumlichkeiten mit dem Baldachinlager auf. War es spät, also dunkel geworden, begab sie sich in Begleitung der
nyōgo in die kaiserlichen Gemächer. Dieses erste Zusammentreffen muss oft wohl sehr seltsam verlaufen sein, zumal es sich nach der Thronbesteigung eines Kaisers bei einer weiteren Gemahlin nur um eine von anderen ausgewählte handeln konnte, war ihm selbst doch jede freie Bewegung untersagt und sein ganzes Leben, mochte er auch manche Späße treiben, drückend reglementiert. Bei kaiserlichen Audienzen hatte er hinter einem Paravent Platz zu nehmen, da es verboten war, den „himmlischen Herrscher“ direkt anzuschauen. Nur seine Schuhe durften sich zeigen. Undenkbar ein Spaziergang durch
heian-kyō oder ein Besuch in einem Privathaus, mochten ihn noch so enge verwandtschaftliche Beziehungen an dieses binden.
Die höfische Gesellschaft bildete ein in sich geschlossenes System, in dem innerhalb weniger Familien geheiratet wurde. Mochte der Kaiser auch als Abkömmling der Sonnengöttin
amaterasu betrachtet werden, nicht bei ihm lag die wirkliche Macht, sondern in den Händen der Fujiwara-Sippe, die nahezu alle wichtigen Ämter besetzt hielt. Damit sich daran nichts änderte, setzten die Fujiwaras alles daran, ihre Töchter zu Gemahlinnen des Kaisers oder von möglichen Thronanwärtern zu machen. Am Ende hatte jeder Kaiser eine Fujiwara zur Mutter, wie auch all seine Hauptgemahlinnen der Fujiwara-Sippe entstammten.
Und so hieß es denn auch meist, man habe eine neue Gemahlin für ihn ausgesucht. Bei einer weiteren Gemahlin konnte es sich um ein Mädchen handeln, das sich noch ganz dem kindlichen Spiel hingab. War der Kaiser selbst noch kindlich, konnte er sich einer um Jahre älteren Frau gegenübersehen, die ihm Angst einflößte und die nicht recht wusste, wie sich zu verhalten. Hatte ein Kaiser bereits eine oder mehrere Gemahlinnen, so muss sich jede Neuhinzugekommene nach ihrem Palasteintritt gefühlt haben, als sei sie in ein Wespennest gefallen. Konflikte mit der Kaiserin, der
nyōgo oder anderen Nebenfrauen konnten nicht ausbleiben, zumal dann, wenn diese seit ihrem Palasteintritt schon etwas gealtert waren, während die neue Gemahlin mitten in ihrer Lebensblüte stand, also noch sehr jung war, mussten die Älteren doch fürchten, vom Kaiser fortan weniger beachtet zu werden, dies insbesondere dann, wenn die neue Frau durch die Geburt eines Kindes zur
miyasudokoro aufstieg, war doch erst mit der Geburt eines Kindes ihre Stellung halbwegs sicher: „Es wäre wahrhaftig besser gewesen, es hätte diese Frau den Palast niemals betreten!“ Unerfreulicher Zank konnte die Folge sein, dies trotz architektonischer Anordnungen, die verhindern sollten, dass sich Haupt- und Nebengemahlinnen allzu oft über den Weg liefen, waren sie doch jeweils in einem eigenen Trakt untergebracht.
Mag auch immer wieder von einer „galanten Zeit“ die Rede sein, ein von Konflikten befreites Leben führten die Hofdamen nicht. Da Männer aus dem höheren Adel neben einer Hauptfrau zumeist mehrere Nebenfrauen hatten, fürchtete jede der Frauen die Zuneigung des Mannes zu verlieren, zur Seite geschoben, von einer anderen Frau verdrängt zu werden. Fürwahr kein leichtes Los, mit den anderen um die Gunst des Ehemanns zu kämpfen. In einem Klima ständiger Rivalität reagierten sie höchst sensibel auf kleinste Verschiebungen im Gefüge. Und so sind denn auch Träume aggressiven Inhalts nicht verwunderlich. In einem der Träume betritt eine Dame das prächtige Gemach einer Konkurrentin, reißt diese in ihrer fürchterlichen Wut an den Haaren, stößt sie hin und her und schlägt sie zu Boden.
Angesichts der vielen beschriebenen Episoden, in denen sich Männer Frauen mehr oder weniger gewaltsam nähern, denken wir an Missbrauch oder sexuelle Gewalt, gar dann, wenn es sich um ein Mädchen in noch kindlichem Alter handelt, das, da es noch nie mit Männern zu tun hatte, schmerzhaft feststellen muss, dass Liebe etwas anderes bedeutet als ein bloßes Nebeneinanderliegen: „Sie war bestürzt und wusste sich kaum zu fassen.“ Fragt man sich, was all die Mädchen und Frauen tatsächlich beschäftigt hat, dann muss man feststellen, dass es weniger um Sexualität als vielmehr um die Stellung im Ranggefüge ging. Im
ochikubo monogatari wird die Geschichte eines adeligen Mädchens namens
onnagimi erzählt, das von einer bösen Stiefmutter gedemütigt und dazu gezwungen wird, für die ganze Familie Näharbeiten zu leisten. Ein Angehöriger der kaiserlichen Palastwache bekundet Interesse für
onnagimi, und obwohl sie seine vielen Liebesgedichte unbeantwortet lässt, dringt er eines Abends bei ihr ein, hält sie fest, streift seine Überkleider ab und legt sich neben sie. Aber worüber klagt das Mädchen anderntags? Nicht darüber, gewaltsam genommen worden zu sein.
Onnagimi schämt sich einzig ihrer abgetragenen Kleider und ihrer allzu hässlichen Unterwäsche: „Am liebsten wäre sie auf der Stelle gestorben.“ Unmittelbare sexuelle Erfahrungen verblassen geradezu gegenüber der Betonung des Ranggefüges. Da vor allem in der Kleidung die jeweilige Stellung zum Ausdruck gebracht wurde, fürchtet
onnagimi, als so abwegig angezogene Person könne sie doch kein Mann liebgewinnen.
Man würde gerne wissen, was in den Köpfen von Mädchen, die mit zwölf oder dreizehn Jahren eben die Gewandzeremonie hinter sich hatten, vor sich ging, legte sich ein zumeist älterer Mann, den sie nicht wirklich kannten, nachts neben, auf sie, machten sie ihre ersten sexuellen Erfahrungen. Die von Kind an eingetrichterte Selbstbeherrschung muss all das absorbiert, zumindest zum Verstummen gebracht haben. Vermutlich verharrten sie in einer Art Käferstarre, wie auch die oft erwähnten tränennassen Ärmel weniger der Liebessehnsucht als tatsächlichen Verletzungen gegolten haben dürften. Man muss das Flackern verlöschender Glut im Kohlebecken, die Dunkelheit hinzudenken, die Augen von Zofen und anderen Dienerinnen, die in einer Ecke oder hinter Wandschirmen kauerten.
Egalitär war sie nicht, die prachtliebende Gesellschaft, die über drei Jahrhunderte hinweg ein einziges Fest zu feiern schien, ganz im Gegenteil, hatte doch jeder seinen Platz in einem extrem hierarchischen Gefüge einzunehmen. Vier Prinzenränge waren Mitgliedern der kaiserlichen Familie vorbehalten. Sie erhoben sich über acht Ränge jener, die in den Untertanenstand versetzt, also aus der Thronfolge ausgeschlossen waren. Diese acht Ränge wurden wiederum unterteilt und kannten eine Vielzahl von Abstufungen. Privilegien nahmen von oben nach unten ab. Dies gilt für Lehen, die der Rangordnung entsprechend verliehen wurden, und reicht hin bis zur Anzahl erlaubter Gefolgsleute oder der Berechtigung, an kaiserlichen Festlichkeiten teilzunehmen. Bereits ein flüchtiger Blick gab Auskunft über den jeweiligen Rang. Bestimmte Rottöne waren der kaiserlichen Familie vorbehalten. Die Männer des sechsten Hofranges hatten Hellblau zu tragen, andere Ränge Grün, Lila und so weiter. Je höher eine Frau in der Rangordnung stand, umso länger durfte ihre Schleppe sein. Der jeweilige Rang ließ sich bereits an unterschiedlichen Webarten von Seide ablesen. Die Anzahl der erlaubten Läufer im Gefolge war durch Rang und Amt genau bestimmt. Auch die Dienerinnen eines Hauses waren einem Rangsystem mit entsprechender Kleiderordnung unterworfen.
Jeder war sich seines Ranges bewusst und nahm andere durch ihren jeweiligen Rang wahr. Jeder maß sich selbst, jeder wurde gemessen. Ständig war auf die eigene Stellung in der Rangordnung zu achten. Bekleidete ein junger Höfling aus einer der angesehensten Familien aufgrund seines jugendlichen Alters nur den sechsten Rang, so konnte er dies als beschämend empfinden und den Audienzsaal meiden, obwohl er ihn betreten hätte dürfen, fürchtete er doch, dort Gleichaltrigen zu begegnen, die ihn inzwischen im Hofrang überflügelt hatten: „Da man mich meines sechsten Ranges wegen missachtet, fühle ich mich zu unwürdig, um in den Palast zu gehen. Ich schäme mich.“ Wurde ein Mädchen die Frau eines Kronprinzen, so hatte ihre Schwester, die nur mit einem in den Untertanenstand versetzten Prinzen verheiratet war, ihr anders gegenüberzutreten, so groß war plötzlich der Standesunterschied. Durch einen unglücklichen Zufall konnte auch die Tochter eines Prinzen, mochte sie noch so schöne Gedichte schreiben, auf die Stufe einer Zofe herabsinken. Sie erhielt einen Dienerinnennamen und Dienerinnengewand. Und angesichts ihres beklagenswerten Schicksals hätte es jeder verstanden, hätte sie sich ins Wasser gestürzt, um für immer zu verschwinden: „So werden zwar manche traurig sein, doch dauert es nicht allzu lange! Macht mich mein mitleidloses Geschick aber zum Gespött der Leute, muss ich immerfort leiden.“
Ein anderes Frauenschicksal: Eine Hofdame wird Zofe eines Prinzen. Dieser sucht nach dem Tod seiner Frau Trost bei ihr. Sie wird schwanger, bringt ein Mädchen zur Welt. Der Prinz erkennt die Tochter nicht an, käme ein Kind mit einer Frau niedrigen Standes doch einer peinlichen und lästigen Fessel gleich. Fortan führt er ein priestergleiches, frommes Leben. In ihrer Not nimmt die Hofdame einen Provinzstatthalter zum Mann. Die beiden führen, zumindest wenn es nach unseren Vorstellungen geht, ein ziemlich normales Eheleben, mag er auch seinen leiblichen Töchtern den Vorzug geben. Sie: „Dann und wann erscheint es mir zwar kaum länger zu ertragen, wie wenig liebenswürdig und rücksichtsvoll er ist, aber ich hege gegen ihn keinen ernsten, tiefen Groll. Sind wir einmal verschiedener Meinung, so bereden wir das; manchmal geraten wir auch in Streit, aber dann versöhnen wir uns auch wieder. Mögen wir noch so sehr mit Kaiserlichen Prinzen und Kandachimen verkehren, die alle ein prachtvolles Leben führen, mit unserem niederen Stande taugen wir doch zu nichts. Es ist ein Jammer, wie sehr sich alles nur immer nach dem Stande richtet!“ Obwohl sich in so einer Ehe ganz gut leben ließe, schwärt die erfahrene Herabsetzung wie eine eitrige Wunde in ihr, weshalb sie alles daransetzt, für ihre Tochter, die Tochter eines Prinzen, einen standesgemäßen Gatten zu finden. Das kann nicht gutgehen. Zwar buhlen zwei Prinzen um die Tochter, aber beide denken ihres niedrigen Standes wegen nur an eine heimliche Liebschaft. Darum wissend, dass ihr dasselbe Schicksal wie ihrer Mutter droht, geht die Tochter ins Wasser. Da sich ihre Leiche nicht finden lässt, werden nur ihre Kleider verbrannt. Zwar taucht sie später wieder auf, nimmt aber keinen Anteil mehr an der Welt und wird Nonne.
Wie sehr die einzelne Person hinter die starre höfische Ordnung zurücktrat, wird nicht zuletzt dort offensichtlich, wo es geradezu verpönt war, jemanden mit seinem eigentlichen Namen zu nennen. An die Stelle des Namens traten Titel, Rang oder Funktion, etwa
taishō (= Befehlshaber der Linken Kaiserlichen Leibwache),
daijōdaijin (= Großkanzler),
udaijin (= Kanzler zur Rechten) oder nyōgo (= Hofdame). Frauen konnten mit ihrer Stellung in der Familie, mit dem Titel ihres Gatten (
shōnagon = Unterer Kabinettsrat), mit den von ihnen bewohnten Bauwerken oder Räumlichkeiten (
chūgū = Palast der Kaiserin), mit dem Ort ihrer Herkunft (
akashi = Bezeichnung einer Bucht) oder ihrem Wohnort (
rokujō no miyasundokoro = Geliebte von der sechsten Straße) benannt werden. Mit
saigū war die Oberpriesterin am Ise-Schrein gemeint, benannt nach dem Ort, an dem sie wohnte.
Ein Mann, der sich verliebte, wartete aufgeregt auf die ersten Proben der Handschrift seiner Dame. Ein Brief mit ungelenker Schrift, mochte er sonst noch so ordentlich sein, wurde nicht lange betrachtet und gleich zur Seite gelegt. Von der Schrift wurden Rückschlüsse auf den Charakter und die Herkunft einer Person gezogen. Ein oberflächlicher oder beunruhigter Geisteszustand, so glaubte man, verrate sich stets in der schwierigen Schattierung der Handschrift, denn jeder einzelne Strich erfordere unbedingte Sicherheit. Eine wunderschöne Handschrift konnte sich nur einer schönen Frau verdanken: „Als er ihre Handschrift betrachtete, dachte er bewundernd, wie sehr sie doch andere Frauen überragte.“ Dass von einer schönen Schrift auf einen hohen Rang, zumindest auf eine entsprechende Abstammung geschlossen werden konnte, ist nicht ganz von der Hand zu weisen, wurde doch nur in den vornehmsten Familien sehr viel Wert auf eine gute Ausbildung, nicht zuletzt auf eine besonders schöne Schrift gelegt. Verständlicherweise wurde jemand, der nicht schön zu schreiben oder kein gutes Gedicht zu verfassen wusste, mit Verachtung bestraft. Geradezu widerlich musste es wirken, standen die Schriftzeichen unbeholfen nebeneinander, zog sich das Silbenzeichen
shi sinnlos lange aus, verschoben sich die Zeilen oder schienen sie ganz in sich zusammenzufallen. Wenn dann noch im Gedicht unpassende Bilder bemüht oder Dialektworte verwendet wurden, dann vervollständigte sich das Bild: „Was für ein unbeholfen stammelndes Gedicht!“ So einen Brief konnte also nur eine Frau von niederem Rang geschrieben haben.
Je höher in der Rangordnung, umso schöner. Eine Prinzessin konnte nur von auffallender Schönheit sein, so schön, dass ihre Dienerinnen wie Erdklumpen erscheinen mussten. Und so erstaunt es nicht, machten Prinzen, weil es sich eben um Prinzen handelte, schon als Kleinkinder einen ungemein vornehmen Eindruck, während Kinder aus nicht so hohem Haus zwar hübsch sein mochten, aber alle gleich aussahen. Je höher in der Rangordnung, umso besser der Geschmack, mit dem sich jemand zu kleiden wusste, und umso köstlicher der Duft, den die Kleider verströmten, „ein Duft wie von einer anderen Welt, von so erlesener Güte, dass ihn der Wind schon bei einer kleinen Bewegung weithin trug“.
Beliebt waren Wettbewerbe aller Art. Wer beherrscht dieses oder jenes Instrument am besten? Wessen Tanz ist der ausdrucksvollste? Ob Kalligraphie, Kleidung, Gärten, die hübschesten Dienerinnen oder die feinsten Düfte, alles wurde miteinander verglichen. Bei Gedichtwettbewerben konnten Themen gestellt werden. Manchmal galt es, die letzten beiden Zeilen von Gedichten zu ergänzen. Es gab Nachschlagewerke zu berühmten Orten oder Schmuckworten, die traditionsgemäß in Gedichten verwendet wurden. Um sich keiner Lächerlichkeit auszusetzen, hielt man sich an chinesische Poetikregeln, die vorgaben, was beim Dichten alles vermieden werden musste. All das hatte weniger mit Wettbewerben als mit Bestätigungen geltender Ränge zu tun. Zwar liest man immer wieder, jemand sei wegen eines einzigen schlechten Gedichts mit Verachtung bestraft worden, aber in einer so starr hierarchisch gegliederten Ordnung konnte nur der Ranghöhere das bessere Gedicht schreiben. Hatte der Kaiser einen Gedichtwettbewerb ausgerufen, dann ging mit größter Wahrscheinlichkeit der als Sieger hervor, der dem Kaiser am nächsten stand, während die auf der Stufenleiter etwas tiefer Stehenden zumeist unsicher und verschämt wirkten.
Aus heutiger Sicht scheinen vor allem die Gedichte bemerkenswert, in denen gegen geltende Regeln verstoßen wurde. Als Beispiel sei ein Gedicht als Antwort auf ein Kleidergeschenk erwähnt, das, da nicht mehr der Mode entsprechend, Unmut erregte: „Chinesisches Gewand / und wieder chinesisches Gewand, / chinesisches Gewand / und immer, immer wieder / chinesisches Gewand!“ Da ist erfrischenderweise nicht schon wieder vom Mond, von Tautropfen, tränennassen Ärmeln, welkem Herbstlaub oder Seetang die Rede, mag man sich auch dessen bewusst sein, dass all die feinen Sprachspiele in Übersetzungen nicht wirklich mitklingen können: „Auf der Kieferinsel / in dem kleinen Fischerhaus ...“
matsu = Kiefer, aber auch: warten;
ama = Fischer, aber auch: Nonne; „.. die ich, wie die tangschneidenden / Fischer von Ise betrübt bin.“
ukime = Seetang,
uki = betrübt sein.
Bunt war das Leben, aber eine ausgelassen feiernde Gesellschaft war es nicht. Kontakte zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Ränge muss man sich höchst ritualisiert vorstellen, all das in einer Architektur, die jedem einzelnen horizontal und vertikal klar definierte Orte zuwies, einer Architektur, die der Rahmung und Bestätigung geltender Rangordnungen diente. Auch bei formlosen Festlichkeiten war peinlichst genau auf die Sitzordnung zu achten. Die Plätze waren nach Rängen gestaffelt, auch links und rechts war von Bedeutung, wurde doch der linken Seite mehr Gewicht beigelegt. Ein Gartenfest. Der Kaiser ist anwesend. Der oberste Kormoranzüchter der Palastküche hat eben auf einem der künstlich angelegten Teiche einige Karauschen gefangen. Der
shōshō von der Linken Kaiserlichen Leibwache nimmt einen der Fische, der
shōshō von der Rechten Kaiserlichen Leibwache einen Vogel, den der Falkenzüchter erjagt hat. So, als hätten die beiden ein Ballett einstudiert, nähern sie sich dem Kaiser, fallen links und rechts an der Vordertreppe vor ihm nieder, um ihm ihre Gaben zu überreichen. Auftritt des Großministers, dessen Aufgabe es ist, die Gaben in Empfang zu nehmen, die Zubereitung zu überwachen und die Gerichte für den Herrscher aufzutischen. Es ist nicht beschrieben, aber man kann sich all die Bücklinge vorstellen, wenn der Herrscher den ersten Bissen zu sich nahm. Schon die Überreichung des Trinkbechers aus der Hand des Herrschers konnte Irritation auslösen, überreichte er diesen nicht, wie es die Rangstellung vorschrieb, einem der Prinzen oder dem Minister zur Linken, sondern einem seiner Schwiegersöhne. Mochte dieser, so wie es zu geschehen hatte, den Wein in ein irdenes Gefäß umgießen, in den Garten hinabsteigen und den Danktanz aufführen, so hatte er doch wieder entsprechend seiner Stellung in der Rangordnung zu seinem weit unten befindlichen Platz zurückzukehren. Wo immer sie sich bewegten, was immer sie machten, alle trugen ein Gitterwerk von Wänden, Zäunen oder Netzen mit sich.
Nicht zufällig spielten Tast- und Geschmackssinn eine untergeordnete Rolle, war doch das ganze Leben auf Übersicht und Einschätzung bedacht, mit ein Grund für die beachtlichen Differenzierungsleistungen, ganz gleich, ob es sich um die Beobachtung des Flugs verschiedener Vögel, die Töne verschiedener Regenarten, die Bedeutung eines leichten Zuckens der Lippen oder eine kaum merkbare Veränderung des Blicks handelte. Einander ja nicht zu nahe kommen. Während des Essens hatte jeder sein eigenes Tischchen vor sich stehen. Gemeinschaftliches Essen war so gut wie unmöglich, auf jeden Fall eine ziemlich steife Angelegenheit. Männer konnten sich zwar betrinken, aber auch hier bedurfte es der Dunkelheit, hätte doch ein Kontrollverlust einen Gesichtsverlust zur Folge gehabt. Will man den Romanen glauben, dann scheint die Küche nicht sehr entwickelt gewesen zu sein. Nur wenige Speisen werden erwähnt, etwa Farnschösslinge, junge Gräser, Reisklöße oder Reisbrei, Fische.
Selbst jene, die ganz oben in dieser Hierarchie standen, konnten sich nicht frei bewegen: „Obwohl ich meines hohen Standes wegen nicht immer so handeln kann, wie mein Herz es sich wünscht, und ich darauf achten muss, kein Aufsehen zu erregen ...“ In der strikt hierarchisch gestaffelten Ordnung gab es eine Vielzahl von Räumen, die nicht betreten werden durften. Näherte sich einer einem anderen, so hatte er durch Hüsteln auf sich aufmerksam zu machen. Bei jeder Begrüßung, jeder Begegnung hatten sich die Beteiligten dem Rangverhältnis entsprechend zu verhalten. Je nachdem, ob es sich um einen Vertrauten, einen Untergebenen oder einen Höherstehenden handelte, waren andere Wörter zu gebrauchen: „Besonders abscheulich ist es, über eine ehrwürdige Person ohne die richtigen Höflichkeitsausdrücke zu sprechen. Dagegen sollte man keine Höflichkeitsformen benutzen, wenn es sich um seine eigenen Angestellten handelt. Diese Lächerlichkeit verdoppelt sich, wenn man dazu noch die Angestellten in der Bescheidenheitsform anspricht.“
Nicht nur auf die richtigen Worte, auch auf minuziös vorgeschriebene und durch Konventionen geregelte Körpergesten wie Verbeugungen und Kniefälle war zu achten. Man musste also nicht nur wissen, vor wem, sondern auch, wie oft man sich zu verbeugen hatte, wobei allein die Verbeugungen eine große Bandbreite aufwiesen, von einem leichten Neigen des Kopfes und der Schulter bis zu einem Niederwerfen reichen konnten. Eine Verbeugung, die in einem Fall angemessen war, konnte von einer anderen Person, die im Ranggefüge vielleicht nur etwas höher stand, als grobe Beleidigung betrachtet werden. Neben der Rangordnung waren Geschlecht und Alter, verwandtschaftliche Bindungen und vorherige Beziehungen zu beachten. Auch gegenüber ein und derselben Person konnten je nach Situation unterschiedliche Grade der Ehrerbietung als angemessen gelten. Es machte eben einen Unterschied, ob einem ein guter Bekannter in seiner Alltagskleidung oder in seiner Zeremonialtracht entgegentrat. All das wurde, wie Ruth Benedict bemerkt, von frühester Kindheit an eingeübt: „Während eine junge Mutter ihr Baby noch auf dem Rücken trägt, beugt sie schon seinen Kopf mit der Hand nach unten, und in seinen ersten Lektionen lernt das Kleinkind, wie man seinem Vater und seinem älteren Bruder Respekt erweist. Die Ehefrau verbeugt sich vor ihrem Mann, das Kind vor dem Vater, der jüngere Bruder vor dem älteren, die Schwester vor allen Brüdern, gleichgültig ob jünger oder älter. All dies sind keine leeren Gesten, denn es bedeutet, dass derjenige, der sich verbeugt, das Recht des anderen anerkennt, seinen Willen auch dann durchzusetzen, wenn er gerne selbst entscheiden würde, und der Adressat der Verbeugung erkennt seinerseits bestimmte Verpflichtungen an, die seine Stellung mit sich bringt.“ Die Disziplinierung des Kindes erfolgte vor allem durch Beschämung und die Drohung, verstoßen oder ausgeschlossen zu werden.
Der steifen Etikette kam die Funktion zu, jedem Übermaß von Gefühlsausbrüchen vorzubeugen, alles zu regeln, was zwischen der Geburt und dem Tod eines Menschen liegt, ganz gleich, ob es sich um das Essen, das Begehren, alltäglichste Begegnungen, Gefühlsregungen wie Lachen oder Weinen handelt. Machtkämpfe wurden allerdings nicht nur mit spitzem Pinsel geführt. Wer zu viel Einfluss gewann, konnte wegen angeblicher Umsturzpläne in die Verbannung geschickt werden, was auch hieß, seine Familie in alle Winde zu zerstreuen, sein Haus in Brand zu stecken, um den verlorenen Platz zu kennzeichnen. In einem solchen Fall sollen dreihundert benachbarte Häuser dem Feuer zum Opfer gefallen sein. All die Höflichkeiten können nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Leben der Höflinge von Neid und Intrigen geprägt war, sind doch übertriebene Höflichkeiten als Hemmungen zu betrachten, die nach Entladung schreien. Unmut ließ sich durch das Schnippen mit den Fingern äußern. Bot sich eine Gelegenheit, konnte er sich auch ganz offen entladen, etwa indem in der Rangordnung Tieferstehende in übelster Form bloßgestellt und verächtlich gemacht wurden. Vergessen war das feine Benehmen, wenn einem unter dem Gelächter zahlreicher Zuschauer mit langstieligen Fächern der Hut vom Kopf geschlagen wurde, damit jeder seinen dünnen Haarknoten sah, den kahlen Scheitel. Und versuchte das Opfer, seine Blöße mit den Ärmeln zu bedecken, dann konnte der Beschämte noch mit Fußtritten traktiert werden. Geschah solches, wurde es in der ganzen Gesellschaft unter viel Gelächter herumgeboten. Entladungen in einer Welt, die von jedem ein hohes Maß an Selbstkontrolle verlangte. Jene, die lachten, litten selbst ständig unter der Angst, Gegenstand des Gespötts zu werden. Da fällt mir ein alter Bekannter ein, der vor langen Jahren in Obstkistchen hübscheste japanische Miniaturgärten kultivierte, mit Moosen, Steinen und Steinchen, Bäumchen, die gerade einmal einige Zentimeter hoch waren. Die Lesart dieser Gärtchen änderte sich, als sich eines Tages seine ganze aufgestaute Wut entlud und er mit einer Schere über eine Sekretärin herfiel, die ihm wohl oft genug zugehört hatte. Ohne jeden Zweifel hatte sie ihn mit einer unbedachten Bemerkung in seiner Ehre gekränkt.
Die allgegenwärtige Angst vor Gerede, davor, öffentlich beschämt oder verlacht zu werden, ist verständlich in einer Welt, die keine wirkliche Privatsphäre kannte. Manches mochte im Dunkeln geschehen, allein die Bauweise mit ihren dünnen Wänden, die jeden Laut durchließen, erlaubte keine Geheimnisse. Die schreckliche Bedrohung einer jederzeit möglichen Ächtung oder Herabsetzung muss als permanente Anspannung erlebt worden sein, wobei, psychologisch betrachtet, weniger ein tatsächlicher Ausschluss, sondern der Verlust der Selbstachtung von Bedeutung war. In einer Welt, in der nur das Äußere zählte, die bestenfalls ein Entrinnen nach oben kannte, drehte sich alles um Rang und Geltung. Deshalb ist denn auch, so Christoph Langemann, „der häufigste psychische Reflex jener der Scham“. Verständlich die vor allem von Frauen geäußerte Todessehnsucht. In äußerster Beschämung stumm daliegen, so als hörte man nichts. Eine Flamme möge sie in Rauch verwandeln.
Sieht man von Kämmen und Fächern, Ablegeschachteln oder Räucherwerk ab, womit Frauen bedacht werden konnten, so wurden vor allem Kleidungsstücke geschenkt, manchmal auch Stoffballen. Keine Festlichkeit, die nicht mit einem Kleidergeschenk geendet hätte. Ein Hausherr konnte einen guten Sänger dadurch ehren, indem er diesem sein eben abgelegtes Übergewand reichte. Mit Kleidungsstücken wurden auch Boten beschenkt, etwa wenn sie einen Morgenbrief überbracht hatten. Geschenkt wurde von oben nach unten. Es war gegen alle Regeln, einem oder einer Höherstehenden etwas zu schenken. Zumeist ging es nicht darum, jemanden zu kleiden. Wurde einem Boten ein prachtvolles Gewand geschenkt, dann durfte er dieses nicht tragen. Es hätte die Aufmerksamkeit aller erregt und einen Verstoß gegen geltende Rang- und Kleiderordnungen bedeutet. Ein seinem Stand nicht angemessenes, zu kostbares Kleidergeschenk konnte den Empfänger in große Verlegenheit versetzen; er ließ es dann vielleicht gut verschnürt, damit es ja keiner sehe, von einem seiner Begleiter tragen. Wagte es aber einer in seiner Abgeschiedenheit doch, solch ein Gewand anzulegen, dann wurde ihm nur zu rasch bewusst, dass er seinen Stand nicht wechseln konnte. Ein schreckliches Unbehagen verursachte schon allein der am Gewand haftende betörende Duft, den zu verströmen nur höherstehenden Persönlichkeiten erlaubt war. Mit solchen Geschenken wurde weniger Dank oder Anerkennung zum Ausdruck gebracht, wurde der Beschenkte doch beschämt, an seinen niederen Rang erinnert und, indem er das Geschenk annahm, die geltende Ordnung bestätigt. Es gab Ausnahmen. Manchmal wurden Kleider getauscht, etwa bei einem Abschied, um sich der gegenseitigen Zuneigung zu versichern: „Ich ließ meinen Wagen am Haupteingang vorfahren. Bevor ich einstieg, tauschten wir, meine Schwester und ich, unsere Kleider miteinander.“ Auch Verliebte konnte ihre Kleider tauschen oder sich im umgewandten Kleid zur Ruhe legen, hoffend, einander im Traum zu sehen. Man fragt sich, was mit all den verschenkten Kleidungsstücken geschah?
Heian-kyō zählte etwa hunderttausend Einwohner. Wohl nicht mehr als dreitausend von ihnen waren der höfischen Elite, den „in den Wolken Lebenden“, zuzurechnen, die sich über den Lärm ärgern konnten, der schon in aller Früh in die Gemächer der Paläste drang und die Ruhe störte, über das Getöse von Mörsern beim Reisstampfen oder das unablässige Geklatsche von Plätthämmern. Niederes Dienstpersonal war natürlich eine Notwendigkeit. Es bedurfte vieler Hände, sei es, um die Glut in den Kohlepfannen zu entfachen, Ochsen in ihre Stallungen zu führen oder vorzuspannen, Gärten anzulegen, Schnee von den Dächern zu schaufeln, die Dächer auszubessern oder weitere Bauwerke zu errichten. Obwohl allgegenwärtig, kommen in den literarischen Texten der Hofdamen einfache Menschen bestenfalls als Randnotizen vor. In einem Eintrag in ihr „Kopfkissenbuch“ beobachtet Sei Shonagon Zimmerleute, die mit der Errichtung eines weiteren Seitenflügels beschäftigt sind, beim Essen: „Kaum hatte man ihnen die unglasierten Tonschalen mit der Suppe gebracht, griffen sie so hastig zu, als hätte man sie mit dem Essen lange warten lassen, und ohne auch nur einmal abzusetzen, gossen sie sich die Suppe in ihren Rachen. Die leeren Schalen flogen in die Ecke, und im Nu verschlangen sie jetzt das Gemüse bis zum letzten Rest. Ich dachte im Stillen, dass sie nun den Reis wohl kaum mehr vertragen würden, doch hatte ich mich getäuscht; denn im Handumdrehen hatten sie auch das letzte Reiskorn ihrem Magen einverleibt.“ So das Essen zu sich zu nehmen, das empfand Sei Shonagon als höchst abstoßend. Und da alle die Suppe in derselben Weise in sich hineingossen, schloss sie daraus auf allgemein schlechte Manieren unter den Zimmerleuten. Dass diese Hunger empfinden könnten oder ihnen womöglich nur eine kurze Verschnaufpause gegönnt war, das wollte oder konnte sie nicht sehen. Einfacher war es, all die Niederen als Naturerscheinungen zu betrachten: „Ich beobachte so gern die Diener, wie sie draußen, im frostigen, weißgestreiften Morgen, eilig Feuer anfachen und die Becken mit glühender Kohle in die Zimmer tragen.“ Und so erstaunt es denn auch nicht, dass sich in keinem der Texte die Beschreibung eines Gesinderaumes findet, jener vielen Bereiche also, in denen auf gestampftem Lehm mannigfache Arbeiten, grobe und schmutzige, verrichtet wurden, ohne die das luxuriöse Leben der höfischen Welt undenkbar gewesen wäre.
Die Schönen und Guten verließen die Hauptstadt so gut wie nie. Wozu auch? Die Verwaltung der Güter, von denen sie lebten, überließen sie Angehörigen des niederen Adels. Verschlug es einen der Höflinge durch widrige Umstände in die Provinz, und sei es in Gegenden, die gar nicht so fern lagen, so konnte ihn beim Anblick von Fischern oder Köhlern, die Reisig zu Holzkohle verbrannten, ein solches Schaudern überfallen, dass es ihm schwer fiel, in ihnen ihres niedrigen Standes und ihres abstoßenden Aussehens wegen menschliche Wesen zu erkennen. Menschen, über die niemand ein Wort verlor, von deren Dasein man kaum etwas ahnte. Grobe, ungeschlachte Leute, denen es an einem feineren, tieferen Verständnis der Welt zu fehlen schien. Und traf der Höfling, was wohl selten der Fall war, auf Fischer, die keinen Fang gemacht hatten, dann konnte er sagen: „Wenn man sie so betrachtet, wie sie auf ihren schwankenden, kleinen und mit Reisig beladenen Booten sinnlos Tag für Tag verbringen ... Aber warum sollte einer wie ich, der so flüchtig ist wie eine Eintagsfliege, solches besichtigen wollen?“
Rasche Bewegungen waren der höfischen Welt fremd. Mit ochsenbespannten zweirädrigen Wagen kam man nur langsam voran. Das hatte nicht nur mit der Ochsen eigenen Trägheit zu tun. Je höher der Rang, umso mehr Begleitpersonal war nötig, Vorreiter, Rufer, Wächter, Hausdiener, Knechte, die die Ochsen führten. Selbst dann, wenn Ausfahrten in aller Heimlichkeit geschehen sollten, zählten zum Zug eines einzigen Ochsenwagens etwa zwanzig Begleiter. Nahmen mehrere Wagen teil, war auf die jeweiligen Ränge zu achten. Selbst innerhalb eines Wagens hatten die Sitzplätze der Rangordnung zu entsprechen. Die ranghöchste Person saß vorne. Schon das Ein- und Aussteigen in ein solches Gefährt gestaltete sich umständlich. Man stieg hinten in den Ochsenwagen und vorne aus. Wollte man eine Pause einlegen, mussten die Ochsen ausgespannt werden. Ein eigens dazu bestimmter Diener hatte einen Bock, der dazu diente, die Wagendeichseln aufzulegen, mit sich zu tragen. Wollte eine Hofdame während einer solchen Fahrt aussteigen, etwa um ihre Notdurft zu verrichten oder etwas zu sich zu nehmen, schon war die mitlaufende Dienerschaft eifrigst damit beschäftigt, mitgebrachte Vorhänge wie ein Zelt um sie herum aufzuspannen.
Hatte sich der Zug endlich in Bewegung gesetzt, so waren trotz aller Vorreiter, deren Aufgabe es war, die Wege frei zu halten, Stauungen unvermeidlich. Bei größeren Feierlichkeiten konnte es sogar zu Parkplatzproblemen kommen, bei denen sich Hausdiener verschiedener Parteien prügelten, um für ihre Herren oder Herrinnen den besten Platz zu sichern. War ein Provinzverwalter mit seinem Tross unterwegs, so musste er stets fürchten, dem Tross eines Höhergestellten zu begegnen. War dies der Fall, so hatte er früh genug auszuweichen, voll Ehrfurcht auf sichere Distanz zu gehen, um unter Zeichen der Ehrerbietung den anderen Wagen vorüberziehen zu lassen. Zwar war Höhergestellten stets Vorrang einzuräumen, aber das bedeutete keineswegs, dass sie schneller vorangekommen wären. Ganz im Gegenteil, je höher jemand im Ranggefüge stand, umso langsamer seine Fortbewegung. Und so erstaunt es nicht zu lesen, der Bote hätte seines niedrigen Standes wegen das Ziel schnell erreicht. Das schien niemanden zu stören, war doch die Trägheit der Fortbewegung, das Fahren in einem ochsenbespannten Wagen, ein ausgesprochenes Privileg weniger. Es gab elf Rangstufen von Ochsenwagen mit detaillierten Bestimmungen. Die Anzahl der erlaubten Begleitpersonen war je nach Rang zugemessen wie auch der Platz in einem Wagentross dem jeweiligen Rang zu entsprechen hatte. Nur die obersten Hofränge durften mit einem Ochsenwagen zum Palast fahren, mehr noch, es bedurfte dafür eines eigenen kaiserlichen Erlasses.
Mochten die Hofdamen weitgehend aller Sorgen befreit sein, eines kannte ihr Leben nicht, nämlich Bewegung. Die „Schönheiten der inneren Räume“ verbrachten, sieht man von seltenen Ausfahrten ab, ihr ganzes Leben streng abgeschirmt in ihren Häusern, hinter Klappfenstern, Wandschirmen und Vorhangständern. Größtmögliche Bewegungslosigkeit war ihnen auch in ihrem alltäglichen Leben abverlangt, ganz im Gegensatz zu ihren Zofen, Ammen, Pagenmädchen oder anderen Dienerinnen, die zumindest im häuslichen Bereich viel in Bewegung waren. Die meiste Zeit verbrachten Hofdamen liegend oder unbewegt auf ihren Fersen sitzend, womöglich an eine Säule gelehnt. Nahezu all ihre Tätigkeiten, angefangen vom Verfassen von Gedichten und Briefen, dem Betrachten von Bildrollen, dem Go-Spiel oder dem Zupfen von Instrumenten bis hin zu Näharbeiten, erforderten eine solche Körperhaltung. Das gilt selbst für die oft erwähnte Geste, sich mit den Ärmeln die Tränen abzuwischen. Das Haar wurde offen getragen. Als besonders schön galt fülliges, bis zum Boden reichendes Haar. So getragenes Haar, sollte es zur Geltung kommen, hatte eine puppenhafte Reglosigkeit zur Voraussetzung. Die Hofdamen hatten Posen einzunehmen, als machte man Aufnahmen für einen Katalog. Die Schichten der einzelnen Kleidungsstücke durften nicht durcheinandergeraten, wären doch sonst die abgestimmten Farben an den Ärmelenden und am Kragen nicht zur Geltung gekommen. Geradezu verpackt müssen die feinen Damen gewirkt haben, als bestünden sie nur aus Gewändern, als besäßen sie keinen Körper. Das Gesamtgewicht der übereinander getragenen und sich im Raum ausbreitenden Überwürfe konnte bis zu zwanzig Kilogramm betragen. An ein wirkliches Laufen oder Gehen war nicht zu denken. Kleinere Positionsänderungen wurden denn auch kriechend oder rutschend vollzogen.
In der höfischen Gesellschaft der Heian-Zeit muss eine panische Angst vor raschen Bewegungen geherrscht haben. Ruckartige oder ungestüme Bewegungen waren verpönt. Sei Shonagon empfand denn auch einen Liebhaber, „der sich mit einem Sprung vom gemeinsamen Lager erhebt, aufgeregt im Zimmer hin und her läuft, um seine Siebensachen zusammenzusuchen, und, wenn er sich schließlich umständlich angekleidet hat, mit ganzer Kraft seine Jackenbänder festbindet“, geradezu als verabscheuungswürdig. Widerwillig sollte er sich erheben, den anbrechenden Tag beklagen, zögern, sich unauffällig ankleiden, behutsam die Fenster öffnen. Das
genji monotagari liest sich, als wandelte man durch eine Fixieranstalt. Alles scheint in Zeichen zu erstarren. Das gilt insbesondere für den weiblichen Körper. Bezeichnend sind die geschminkten Gesichter mit den ausgezupften Augenbrauen, an deren Stelle knapp unter dem Haaransatz mit dem Pinsel zwei Striche gezogen wurden. Undurchdringliche Masken, die alle Empfindungen zum Verschwinden bringen sollten.
Verständlicherweise war wirklicher Körperkontakt zwischen Männern und Frauen nur in der Nacht möglich. Der Mann betrat erst nach Einbruch der Dunkelheit das Haus und verließ es wieder, ehe es hell wurde. War die Frau schon tagsüber in einer dämmrigen Düsternis begraben, so erst recht in der Nacht, wenn ein Liebhaber sie aufsuchte und die beiden sich im dumpfen Schimmer von Kohlebecken oder Kerzen kaum zu erkennen vermochten, weshalb Verwechslungen trotz körperlicher Nähe nicht erstaunen. Folglich konnten Männer, so Tanizaki Jun’ichiro, Frauen nur „als raschelnde Gewänder, mit Räucherdüften parfümierte Stoffe, trotz größter Nähe nur weiche, mit Händen ertastete Haut und Wasserfall von körperlangen Haaren“ wahrnehmen. An anderer Stelle bemerkt er, die feinen Damen hätten nur vom Kragen aufwärts und von der Ärmelöffnung an existiert. Alles andere sei im Dunkeln verborgen geblieben, sie hätten kaum einen Körper besessen. Wie Geister, die sich vornehmlich während der Nacht bemerkbar machten, seien sie „in einer Lauge von Düsternis“ letzten Endes selbst zu Phantomen geworden: „Dunkelheit umhüllte diese Frauen sicherlich zehnfach, zwanzigfach und füllte sämtliche Spalten und Öffnungen an ihren Kleidern, am Kragen, an den Ärmeln, am Kleidersaum und wo auch immer. Je nachdem mochte es sich sogar umgekehrt verhalten: Aus ihrem Körper, aus ihrem Mund mit den geschwärzten Zähnen, aus den Spitzen ihrer schwarzen Haare ließen sie Dunkelheit ausströmen, so wie die Erdspinne ihre Fäden ausspeit.“
Beim Geschlechtsverkehr geraten die Zeichen durcheinander. Deshalb bedurfte es der Dunkelheit. Ein Mann ohne Kleidung, ohne all die Beiwerke, ohne seine Schwerter, ohne lackiertes Mützchen mit aufragender Zunge, ohne all das, was ihn größer erscheinen ließ, als er war, hätte eine lächerliche Erscheinung abgegeben. Das lässt an Nagisa Oshimas Film „Der Besessene im hellen Tageslicht“ (1966) denken. Der Film beschäftigt sich mit dem Schamgefühl japanischer Männer. Abgehandelt wird dies an einem Sexualmörder, der mit Frauen erst dann verkehren kann, wenn er sie erwürgt hat, können sie doch dann seinen Blick nicht mehr erwidern: „Die Befriedigung der Lust setzt eine Befreiung von der Scham voraus.“
Die geforderten Körperhaltungen wurden von Kind an eingeübt. Noch ehe ein Kind zwei Jahre alt war, musste es die richtige Sitzhaltung lernen, bei der die Beine untergeschlagen sind und der Spann auf den Boden weist. Mochte es dem Kind anfangs noch so schwer fallen, nicht rückwärts umzukippen, so wurde doch auf völlige Bewegungslosigkeit geachtet. Weder durfte das Kind herumzappeln noch seine Position ändern. Mit den Gewändern möglichst wenig rascheln, sich leise hinsetzen und kaum hörbar aufstehen. Ähnliches galt für das Schreiben oder das Essen mit Stäbchen. Selbst die richtigen Schlafpositionen waren einzuüben. Im Gegensatz zu Jungen mussten Mädchen lernen, in gerader Haltung mit geschlossenen Beinen zu schlafen, während der Nacht ganz ruhig auf einem hölzernen Kissen zu liegen, selbst im Schlaf nicht die Kontrolle über Körper oder Geist zu verlieren. Nicht nur Bewegungen, vor allem Empfindungen waren zu beherrschen.
In so einer Welt erstaunen konvulsive Entladungen nicht, die von heftigem Fieber über Weinkrämpfe, wirre Reden bis hin zu unvernünftigen Handlungen reichen konnten. Da sich vieles nicht besprechen ließ, erklärte man sich solche Anfälle mit Hilfe von
mononoke-Geistern, also mit unsichtbaren, geistähnlichen Wesen, Seelen von Toten oder noch Lebenden, die in andere Menschen schlüpften und diese quälten. Auch die Seele eines unachtsam weggeworfenen Schöpflöffels konnte Besitz von einer Frau ergreifen.
Um den Geist auszutreiben, wurde ein erfahrener Exorzist gerufen. Neben der Kranken hatte ein junges Mädchen, ein
yorimashi, Platz zu nehmen und wurde durch Beschwörungen in Trance versetzt, damit der böse Geist auf es übergehe. Gelang die Übertragung, wurde das Medium von krankhaften Zuckungen befallen und stieß in besessenem Zustand laute Schmähungen und Flüche aus. Nun konnte das
mononoke befragt werden, wollte man doch in Erfahrung bringen, wer die Kranke so quäle. Es sollte also nicht die leidende Hofdame ihre Gefühle zum Ausdruck bringen, sondern – welch seltsame Verschiebung – das Mädchen als Medium sollte im Namen des
mononoke sprechen, hinter dem meist eine an Eifersucht leidende Frau aus dem unmittelbaren Umfeld vermutet wurde. Manchmal nannte es seinen Namen und seine Beweggründe, es konnte sich aber auch hartnäckig weigern oder aber in einem Verwirrspiel verschiedene Namen angeben. Wurde das
mononoke gewaltsam mit Gebeten zur Rede gestellt, so konnte es einmal klar seine Beweggründe äußern, in anderen Fällen blieb es dagegen stumm oder seine Rede wirr und unverständlich, brach in Gelächter aus oder führte Spottreden: „Mich kann man mit solchen Mitteln nicht so leicht beugen! Ich war einmal selbst ein Priester, fleißig den buddhistischen Übungen ergeben; bei meinem Tod aber haftete ich noch mit manchen Wünschen an der Welt und entdeckte, während ich hin und her irrte, einen Ort, wo einige sehr hübsche Frauen wohnten ...“
Vermutlich brachten die in Trance versetzten Mädchen den Klatsch der Hinterbühne zum Ausdruck, all das, was Dienerinnen untereinander über die Verstrickungen der jeweiligen Dame tuschelten oder aufschnappten. Gut nachvollziehbar, dass das Mädchen im Lärm der Beschwörungen und durch insistierende Fragen eingeschüchtert manche Namen durcheinanderbrachte, was freilich nicht als Ausdruck der Befragung, sondern als Wesenszug des
mononoke betrachtet wurde.
Im extrem hierarchischen Gefüge war die Äußerung einer Dienerin, die so tief unter einer Hofdame stand und sich automatenhaft zu benehmen hatte, nicht ernst zu nehmen. Und hätte das Medium unaufgeregt und in ganz klaren Worten über ursächliche die Krankheit betreffende Dinge gesprochen, niemand hätte dem Glauben geschenkt, wie seine Äußerungen ohnehin noch der Übersetzung und Deutung durch den Beschwörer bedurften. Gelang die Befragung, so hielt man es für nötig, das Medium von der Kranken zu trennen und in einen anderen Raum zu sperren. Kam die Kranke wieder zu sich, konnte sie sich an nichts mehr erinnern: „Als sie um sich blickte, erkannte sie keinen der Umgebenden. Ihr war zumute, als sei sie in ein völlig unbekanntes Land gekommen, und sie wurde von Traurigkeit überwältigt. Sie versuchte, sich zu entsinnen, was sich alles zugetragen hatte; doch sie wusste nicht einmal mehr, wo sie gewohnt hatte und wie sie hieß.“
Selbst dann, wenn eine Frau ganz offensichtlich verletzt wurde, erklärte man ihr Verhalten mit einem hartnäckigen
mononoke. Uns dagegen scheint es nur zu verständlich, dass das Gemüt einer Frau sich verdunkelte, sie in Klagen ausbrach, keine Nahrung mehr zu sich nahm, wenn ihr Mann drohte, sie nach langer Ehe wieder zu ihren Eltern zurückzuschicken. Nur in seltenen Fällen dürfte sich so eine Frau ihrem Mann, der sich eben in bester Kleidung und parfümiert auf den Weg zu seiner Geliebten machte, plötzlich von hinten genähert und den Inhalt eines Räucheröfchens über ihn gekippt haben, damit ihm Asche in Augen und Ohren dringe, alles um ihn herum verschwimme, sein feiner Überwurf Brandlöcher zeige und seine Untergewänder nach Asche röchen. Und geschah es dennoch, bedurfte es, um ihr wütendes Schreien und Kreischen zu übertönen, weiterer Beschwörungen. War diesen kein Erfolg beschieden, konnte es sein, dass die Kranke schließlich nur noch vor sich hinstarrte und nicht mehr viel von dem begriff, was um sie her geschah.
Wenn Frauen sich gekränkt fühlten, konnten sie auch in Ohnmacht, also in eine todähnliche Starre verfallen. Häufig zogen sie sich zurück oder verweigerten jede Nahrung: „Sie hat zwar nirgendwo Schmerzen, und die Krankheit selbst scheint nicht so schlimm zu sein, aber leider nimmt sie nicht die geringste Nahrung mehr zu sich.“ Immer wieder wird beschrieben, dass Hofdamen den Tod herbeisehnen: „Ich fühle mich allzu bedrückt. Vielleicht wäre es das beste, wenn ich schließlich sterbe! Mir ist, als steige das Fieber in meinen Beinen!“ Und dann blieb noch die Möglichkeit, in den Nonnenstand zu treten, was einem sozialen Tod gleichkam, war eine Nonne doch für jeden Mann, mochte er sie auch früher als Frau begehrt haben, „gestorben“. Ein Übertritt in den Nonnenstand konnte im übrigen durchaus im Interesse von Männern geschehen, da sie sich so einer Frau, derer sie überdrüssig geworden waren, entledigen konnten, ohne dass dies ein allgemeines Gerede zur Folge gehabt hätte.
Sieht man von solchen Fällen von Besessenheit ab, dürfte wohl nur selten jemand gegen die starre und oft genug absurd anmutende höfische Etikette verstoßen haben. Als Beispiel sei der buddhistische Mönch
Zōga (917–1003) genannt. Mochte er sich auch der Armut verpflichtet fühlen, sich oft gebärden, als wäre er von Sinnen, so war er doch so berühmt, dass die Mutter eines Kaisers nach ihm schicken ließ, damit er an ihr die für den Eintritt in den Nonnenstand nötige Weihe vornehme. In Anwesenheit zahlreicher weltlicher und geistlicher Würdenträger begab sich
Zōga zum Vorhangständer, um die Ordinationsriten zu vollziehen. Als er damit begann, ihr prächtiges Haar, das über den Vorhangständer herabhing, abzuscheiden, da sollen, so wird erzählt, sämtliche Hofdamen in ein haltloses Schluchzen ausgebrochen sein. Nach vollzogener Tonsur, bereits im Gehen begriffen, wandte sich
Zōga um und ließ mit lauter Stimme vernehmen: „Was war eigentlich der Grund, dass Ihr mich zu Euch rufen ließet? Ich kann es nicht verstehen. Habt Ihr vielleicht gehört, dass mein schmutziges Ding besonders groß ist? Es ist in der Tat größer als andere, doch jetzt hängt es nur noch herab, schlaff wie ein Stück Seide.“ Angefangen von der kaiserlichen Hoheit über die hinter Wandschirmen verborgenen Hofdamen bis hin zu all den versammelten Höflingen und Mönchen wären alle am liebsten im Boden versunken. Dies bemerkend, faltete
Zōga seine Hände und sprach: „Vom Alter gebeugt und schwer verkühlt, bin ich außerdem vom Durchfall geplagt. Ich hätte nicht kommen sollen, doch nachdem man mich eigens rief, gesellte ich mich zu Euch. Jetzt aber kann ich mich nicht mehr halten und muss mich eiligst zurückziehen.“ Kaum auf die westliche Veranda hinausgetreten, soll er seinen Hintern entblößt und sich entleert haben, und zwar solche Mengen, dass es schien, als ob man Wasser aus einem Zuber gösse. Die dabei verursachten Geräusche und der Gestank hätten auch die kaiserliche Hoheit in Mitleidenschaft gezogen. In dieser Legende werden alle Regeln der feinen Gesellschaft gründlich auf den Kopf gestellt. Zur Erzählung wurde sie allerdings erst im 13. Jahrhundert, zu einer Zeit also, in der die höfische Welt der Heian-Zeit bereits in Trümmern lag.
Eine groteske Umkehrung des um Vorhangständer organisierten Liebeswerbens, gleichsam eine Demokratisierung höfischer Sitten, fand sich Jahrhunderte später in
yoshiwaras „Gesellschaften der Weiden und Blumen“, in denen sich Frauen hinter Bambusgittern sitzend Männern anzubieten hatten. Mochte sich die Haartracht auch geändert haben – das Haar wurde nun mit Hilfe von Schildpattkämmen üppig aufgesteckt –,so blieb doch vieles aus der höfischen Gesellschaft erhalten: die geschminkten, maskenhaft wirkenden Gesichter, der große Aufwand, der für die kostbare Kleidung der Frauen betrieben wurde, oder auch die Rangordnung. Die Kurtisanen pflegten sich an Habitus und Gewandung adliger Damen zu orientieren, was nicht zuletzt in der Bezeichnung
jōrō zum Ausdruck kommt, womit ursprünglich adelige Damen gemeint waren. Um ihren künstlerischen Rang zu unterstreichen, nannten sich in der Edo-Zeit die im höchsten Rang stehenden Kurtisanen
tayū, also nach einem Titel, der in der höfischen Gesellschaft der Heian-Zeit hochrangigen Adeligen zustand. Auch auf eine entsprechende Ausbildung wurde geachtet, sollten doch die Mädchen oder Frauen, zumindest jene in den höheren Rängen, Instrumente beherrschen, kluge Gespräche führen können und in der gebotenen Etikette sicher sein. Pagenmädchen zählten zum Hofstaat einer
oiran („schönste aller Blüten“), einer höherrangigen Kurtisane. Selbst die „Hochzeitsriten“ waren gar nicht so fern von jenen der höfischen Gesellschaft. Immerhin durfte sich eine
shinzō („neues Schiff“) ihren ersten Liebhaber selbst wählen, was freilich in der Realität nicht ganz zutraf, hatte sie sich doch für einen Freier zu entscheiden, der bereit war, für das Recht der ersten Nacht viel Geld zu bezahlen. Das Fest, an dem das ganze Hauspersonal und Vertreter der Nachbarhäuser teilnahmen, wurde wie eine Vermählung gefeiert. Die
shinzō wurde mit einer Aussteuer bedacht, zu der jeder vor dem Betreten des Hauses das Seine hinzulegte: Fächer, Schildpattkämme oder mit Blumen oder Vögeln bemalte
getas aus kostbarem Holz, Kimonos. Es wurde auch eine Art Hochzeitsmahl gehalten, zu dem die
shinzō in einem gelbseidenen Kleid, mit einer Frisur wie ein „junger Schmetterling“, erschien. Der Liebhaber und die
shinzō erwiderten jeden Trinkspruch und tranken, wenn die Reihe an ihnen war, drei Becher Sake. Auch reichte man den Liebenden zwei Pfeifen, deren Asche sie mischten. Schließlich folgte die Stunde der „ehrenvollen Heimführung“, die in ihrem Zimmer stattfand. Solche Feierlichkeiten nannten sich
mizuage, was soviel meint wie „Löschen einer Schiffsladung“.
Im Gegensatz zur höfischen Welt brauchte hier kein Mann mehr darauf zu hoffen, eine der Damen durch einen Schlitz in einem Vorhang oder durch ein Loch in einer Schiebewand erspähen zu können, waren die Mädchen doch hinter ihren Gittern ausgestellt wie interessante Tiere bei einer Tierschau und den Blicken der Masse preisgegeben. Dass sie sich zeigten, wurde nicht viel anders als in der Heian-Zeit als Einwilligung verstanden. Von all jenen, die in
yoshiwara davon befreit waren, sich in einen Käfig zu setzen, kursierten um 1900 in den Teehäusern täglich aktualisierte Kataloge, in denen die schönsten der Mädchen in der ganzen Pracht ihrer Festtagskleider abgebildet waren, mit Preisangaben für die Stunde oder die ganze Nacht.
Wie nahmen die Dirnen durch die Bambusgitter die Kunden wahr, aufgelöst in Quadrate und Rechtecke, durch all die senkrecht und quer gezogenen Linien? Wir wissen es nicht. Dabei finden sich genügend Beschreibungen, vor allem Japanreisender, der hinter den Gittern sitzenden Frauen. Unbeweglich, die Augen nach vorne gerichtet, wie Wachspuppen hätten sie gekniet, in viel Stoff, in bunte Kleider gehüllt. In ihren leeren Blicken hätte sich die sonderbare Starrheit von Menschen gezeigt, die nicht wahrnehmen, was sie sehen. Möglicherweise waren all diese Frauen gegen die taxierenden Blicke der Kunden abgestumpft, oder sie hatten gelernt, sich wie Ausstellungsstücke zu verhalten. Im zur Schau Gestellten muss sich allerdings keineswegs das Seelenleben spiegeln. Tatsächlich saßen die Dirnen nicht so steif in ihren Käfigen, waren sie doch gezwungen, und dies unter großem Konkurrenzdruck, den geforderten Tagesumsatz zu erbringen. Sie mussten, um nicht unverkauft zu bleiben, auf sich aufmerksam machen. Und so findet sich doch die eine oder andere Aufnahme, auf denen junge Frauen mit geschürztem Kimono zu sehen sind, ihr Geschlecht darbietend, und das mit lächelnden Gesichtern, aus denen alles Maskenhafte verschwunden scheint.
Fanden die Höflinge in
heian-kyō Pflaumenblüten, Chrysanthemen, den Mond, das taunasse Gras oder das verfärbte Laub im Herbst wirklich schön, oder zählte es nur zum guten Geschmack, sich in Naturbildern zu ergehen? Ohne Zweifel hat die sinnliche Wahrnehmung in der Heian-Zeit eine besondere Verfeinerung erfahren, wobei festzuhalten ist, dass diese vor allem der Stellung des Einzelnen im sozialen Gefüge galt, nicht aber der Natur oder der von Konventionen, Vorschriften, Gewohnheiten und Tabus beherrschten Gesellschaft. Die starre gesellschaftliche Ordnung erlaubte kein wirkliches Nachdenken, keine Antizipation. Der Kreativität einzelner waren engste Grenzen gesetzt, Bildung beschränkte sich weitgehend darauf, die schwerfällige chinesische Schrift zu beherrschen, zahllose Gedichte auswendig zu lernen oder in Fragen des Benehmens und der Etikette sicher zu sein. Wissenschaftliche Neugier war so gut wie unbekannt, wie denn auch technische Innovationen, so es sie gab, keinesfalls von der höfischen Gesellschaft ausgingen.
Mochten in
heian-kyō auch viele Menschen leben, eine Stadt vermochten sie nicht zu bilden. Auffallend ist das Fehlen eines zentralen Fest-, Versammlungs- oder Marktplatzes, also einer Agora, um die sich das öffentliche Leben organisieren hätte können. Und folglich, so Kurt Singer, habe es an all dem gefehlt, was sich solchen Einrichtungen verdankt habe: „die Freude am öffentlichen Gespräch und an eigener Verantwortung, am gesprochenen Wort und öffentlichen Wesen überhaupt, am friedlichen Wettkampf unter einzelnen, die doch auf Gedeih und Verderb zusammengeschmiedet sind, der Wille zur Unabhängigkeit unter selbstgefundenem Gesetz, die Ersetzung persönlicher Dienst- und Treuebande durch sachlichere, gelöstere, also gefährlichere, aber neue Horizonte öffnende Pflichten und Rechte, zuhöchst der Kult des Gesetzes selbst als einer überpersönlichen Macht und der unbefangenen Sicht über die Welt der Menschen und Dinge als vornehmstes Vorrecht des einzelnen, schließlich die Entstehung einer neuen Lebensform, die sich auf die kreativen und kritischen Geisteskräfte stützt und das Vermächtnis der Vergangenheit nach der Stimme des
forum internum gestaltet und umbildet.“ All das fehlte in
heian-kyō, eine wirkliche Durchmischung der Menschen war unmöglich, undenkbar in einer Gesellschaft, die jedem einen fixen Platz zuwies, in der unterschiedlichste Meinungen nicht aufeinanderprallen, Meinungen anderer eigene Sichtweisen nicht in Frage stellen oder erweitern konnten.
Wenn eine Leistung zu nennen ist, die zumindest einen Keim der Veränderung in sich trug, dann die literarische Produktion von Frauen. Es waren nicht Männer, sondern die „Schönheiten der inneren Räume“, die am Ende der Heian-Zeit um die Möglichkeiten von Sprache wussten. In der von ihnen verfassten Literatur finden sich immer wieder das Schreiben reflektierende Bemerkungen, von Murasaki Shikibu besonders schön am Verhältnis von Original und Abbild durchgespielt. Ein Höfling leidet unter dem Verlust der von ihm begehrten Frau. Zuerst sucht er sie mit Hilfe eines Abbildes zu neuem Leben zu erwecken, soll es doch Künstler geben, die Blüten regnen lassen können. Da klingt bereits der Tod an, lässt doch das Abbild an jene aus Papier gefertigten Puppen denken, auf die durch Reiben am eigenen Körper alle Schuld übergehen sollte und die dann in den Reinigungsfluss geworfen wurden. Als sich eine Frau findet, die der einst Geliebten zum Verwechseln ähnlich sieht, meint er im Abbild das Original vor sich zu haben. In der Folge sucht das Abbild im Wasser den Tod und er muss sich sagen, es sei ihm, als habe er sie mit eigenen Händen in den Fluss gestoßen. Wir haben es also mit einem Bild zu tun, das die ganze Ambivalenz des Schreibens zum Ausdruck bringt. Dass wirkliches Schreiben zwangsläufig ein Antizipieren zur Folge hat, das ahnten die schreibenden Hofdamen sehr wohl, blieben aber dann doch, mochten sie noch so viel schreiben, in ihrer Welt gefangen. Verständlich deshalb Klagen wie: „Es ist doch furchtbar! Die Frauen werden auf dieser Welt geboren, um immer wieder auf die gleiche Weise, und ohne dass es sie bekümmerte, getäuscht zu werden. Obgleich sie wissen, dass die Geschehnisse in den vielen bebilderten Erzählungen nur zum geringsten Teile wahr sind, lassen sie sich doch von diesem Unsinn bezaubern und betrügen.“
Dreihundert Jahre hatte sie Bestand, die höfische Welt der Heian-Zeit. Dreihundert Jahre, in denen sich fast nichts zu ändern schien, in denen Adelige in Künsten wetteiferten, größte Aufmerksamkeit ihrer Kleidung schenkten oder sich Naturbetrachtungen hingaben, eine Zeit, in der eine Festlichkeit auf die andere folgte, in der sich alles ständig zu wiederholen schien, aber kaum jemand fähig war, über das eng begrenzte Feld hinauszublicken. Da es als verpönt galt, sich mit dem tatsächlichen Leben zu beschäftigen, hatte die höfische Gesellschaft trotz all der Gedichte ihrem Untergang nichts entgegenzusetzen. Das besteuerbare Land schrumpfte. Immer mehr landbestellende Bauern überließen die von ihnen bewirtschafteten Grundstücke adeligen Lehnsherrn oder Klöstern, die von Steuern befreit waren. Die Pacht, die sie fortan zu entrichten hatten, war niedriger als die vormals drückenden Steuern. Auch waren sie als nichterfasste Landlose fortan von Fron- oder Kriegsdiensten befreit. Das auf der Vergabe von Privilegien durch den Kaiser basierende System konnte nicht länger funktionieren. Auch hatten sich inzwischen aus dem niederen Adel, auf den die höfische Gesellschaft mit Verachtung herabsah, Provinzbarone etabliert, die wenig mit den parfümierten und kulturbeflissenen Höflingen in der kaiserlichen Hauptstadt verband. Um sich zu schützen oder anderen Land abzunehmen, stellten sie eigene Heere auf. Die gottgegebene Ordnung implodierte. Die Wirren, die ihren Ausgang in den Provinzen nahmen, erreichten schließlich die „Hauptstadt des Friedens und der Stille“. Räuber, unter ihnen bewaffnete Mönche aus den Bergklöstern, plünderten die Häuser der Adligen oder setzten die hölzernen Gebäude in Brand. Ein Großteil der Stadt brannte bis auf den Boden nieder und wurde nicht wieder aufgebaut.
Dabei lag all das lange zuvor in der Luft, durchzieht doch die Literatur der späten Heian-Zeit ein Gefühl der Düsterkeit und Melancholie, eine Endzeitstimmung: „Im Palast kam es zu merkwürdigen Erscheinungen, die man als Warnungen deutete. Eine seltsame Unruhe ergriff jedermann, am Himmel erglänzte von Sonne, Mond und Sternen ein ganz wunderliches Licht und die Wolken besaßen die bizarrsten Formen. Allerorts erhoben sich darüber bestürzende Gerüchte; man fühlte sich tief bedrückt, und die Gelehrten der verschiedenen Wissenschaften schrieben an den Hof, dass es sich hier, ihrer Meinung nach, um erstaunliche und ungewöhnliche Geschehnisse handle.“ Was zählte schon die sprachliche Kunstfertigkeit, vermochte sie nicht abzubilden, was geschah und sich unübersehbar abzeichnete?
Nun, da die Seuche abzuklingen scheint, hebt der Fluglärm wieder an und alle, die hofften, es käme zu einem Innehalten oder einem Umdenken, werden eines Besseren belehrt. Politiker verkünden Wachstumsoffensiven aller Art, sprechen von (Wieder-)Aufbau oder wirtschaftlichen Entfesselungen, von einem Abbau hemmender Bürokratien und Vorschriften: „Wir brauchen einen digitalen Aufbau, um in fünf Jahren an der Spitze zu sein“, „Wir wollen die Wirtschaft nach oben bringen“, „Wir brauchen eine neue Exportoffensive“, „eine Digitalisierungsoffensive“, „eine Ankurbelung des privaten Konsums“ usw. Schneller, schneller, noch mehr Wachstum, andere möglichst aus dem Feld drängen, das eigene Feld behaupten. Das gilt auch für die Kunst, und dies selbst dann, geben Künstler vor, der Nachhaltigkeit verpflichtet zu sein, nicht anders als die Österreichische Post AG, Diskonter wie Hofer oder andere Unternehmen, die alle von sich behaupten, in absehbarer Zeit CO2-neutral zu werden.
Wie die höfische Gesellschaft der Heian-Zeit streben wir dem Untergang entgegen, allerdings ohne uns mit Naturgedichten zu bescheiden, mit Stoffschichten zu begnügen, sondern, ganz im Gegenteil, beseelt von einer geradezu hektischen Betriebsamkeit, jeder oder jede auf seine oder ihre Weise. Stellen wir uns einen Künstler vor, lange Jahre damit beschäftigt, Linien zueinander in Beziehung zu setzen oder so zu verschieben, dass nur ein aufmerksamer Betrachter in der Lage ist, den fast unmerklichen, aber doch großen Unterschied zu erkennen. Zweifellos eine ernstzunehmende Beschäftigung, wirft sie doch vielfältigste Fragen auf. Aber er wird nicht existieren und seine Arbeit bedeutungslos, tritt er nicht als Akquisiteur seiner selbst auf, ist er nicht auf Social Media vertreten, ständig bemüht, sich als Kunstfigur ins Gedächtnis zu rufen, der eigenen Arbeit eine besondere Bedeutung zuzulegen, sie auratisch aufzuladen. Wer sich solchem verweigert, dem bricht über kurz oder lang selbst das unmittelbare Umfeld weg, wird doch nur noch das wahrgenommen, was als bedeutsam erkannt ist, wird doch Erfolg an medialer Verbreitung gemessen, an der Menge von Interneteinträgen oder Abrufdaten. Der Markt fordert Positionierung, Wiedererkennung. Es beginnt schon mit der Fabrikation der richtigen Biographie, die beträchtliche Abweichungen von der tatsächlichen Lebensgeschichte aufweisen kann. Auch würde ein Künstler, der sich lange Jahre damit beschäftigt, Linien zueinander in Beziehung zu setzen, und sei es durch kleinste, kaum wahrnehmbare Verschiebungen, in unserer Medienwelt durch alle Reusen fallen, da kleine Nuancen, die sich nicht sofort erschließen, das gerade noch Wahrnehmbare, in ihr keinen Platz haben können – undenkbar ein Text über ein Geräusch, das gerade noch, gerade nicht mehr zu hören ist oder kaum wahrnehmbar anklingt. Es gibt kein Entrinnen aus den Zwängen der Ökonomie.
In einer Stadt wie
heian-kyō mit ihren breiten und von Bäumen gesäumten Straßen, die mehr Parks als Durchfahrten glichen, ließe sich ganz gut leben. Statt unser Leben mit sinnlosem Tun zu verbringen, immer Neuem hinterherzujagen oder Abfallberge aufzutürmen, könnte all unser Streben der Kunst, der Differenzierung unserer Sinne und großartigen Vergnügungen gelten. Die technologischen Mittel, die uns heute zur Verfügung stehen, erlaubten es uns, ein ähnlich luxuriöses Leben zu führen wie die höfische Gesellschaft der Heian-Zeit, und dies ohne anderen abgepresste Arbeit. Es bedürfte nur weniger Arbeitsstunden in der Woche, um sich in einem weit behaglicheren Leben einzurichten. Womöglich könnte es uns sogar noch gelingen, all die Ängste abzustreifen, die die damalige Zeit so prägten, uns von all den damals geltenden Zwängen zu befreien, die der Entfaltung dessen, was in einem Menschen angelegt ist, so sehr entgegenstanden, und schlussendlich die Verletzlichkeit als Teil des Lebens anzuerkennen, um Kranke und Sterbende nicht wie Aussätzige in ein Kloster oder andere abgeschiedene Räume zu verbannen. Aber das wäre unmöglich, hat uns doch die Pandemie gelehrt, dass Nichtstun noch lange nicht Muße bedeutet, schon gar nicht als Entlastung, nicht als Erweiterung unserer Möglichkeiten, sondern als Belastung erlebt wird. Depressionen und Schlafstörungen sollen zugenommen haben, Kinder fettleibiger geworden sein. Konsum ist gefragt, was orgiastisches Einkaufen und vieles andere deutlich belegen.
Ohne jeden Zweifel bedürfte es eines mythologisch-kultischen Überbaus, Praktiken, die jeden einzelnen in die Pflicht nähmen und abverlangte Beschränkungen mit Sinn erfüllten. Betrachten wir die höfische Gesellschaft der Heian-Zeit, dann ordnen wir das Metaphysische dem Irrationalen zu, ohne zu sehen, dass unsere Welt trotz Aufklärung, Wissenschaft und Technik nicht weniger irrationale Triebfedern kennt. Man betrachte etwa ein Fußballspiel mit all den Ritualen und Opfern, allein die Erregung, die ein solches, ob nach Sieg oder Niederlage, zur Folge haben kann. Man beschäftige sich mit dem Gesundheitswesen, mit Werbung, mache Spaziergänge durch ein Kaufhaus, als sei man von ganz weit weg in unsere Zeit gefallen. Und würden wir das tun, so müssten wir feststellen, dass wir uns, zumindest was unsere Gläubigkeit betrifft, nur wenig von den „in den Wolken Lebenden“ unterscheiden. Wie die höfische Gesellschaft der Heian-Zeit scheinen wir unfähig, all den sich abzeichnenden Bedrohungen zu begegnen oder Gesellschaft und Welt neu zu denken, mag sich auch nun eine Endzeitstimmung breit machen.
Ich sitze in einem Lokal. Auf einem Bildschirm eine Abfolge von bekannten Gemälden der Kunstgeschichte, deren Auswahl sich einem Computerprogramm verdankt. Im Idealfall, so ließ ich mir sagen, sollten die einzelnen Bilder den Bildschirm ausfüllen und farblich auf den Hintergrund abgestimmt sein. Inhalte und Anliegen sind abhanden gekommen. Niemand schaut sich die Bilder an. Wie Fische in einem Aquarium gleiten sie vorüber. Alles wird vermarktet. Austausch oder wie ein immer geartetes Nachdenken über die Welt hat kaum noch Platz. Das Vermögen von Jeff Bezos soll 200 Milliarden Dollar betragen. Eine 1€-Münze hat eine Stärke von 2,33 mm. Würde man dem Vermögen des Milliardärs entsprechend Euromünzen aufeinanderstapeln, so ergäbe sich ein Turm von etwa 4.660 Kilometern Höhe. Erstaunlicherweise findet kaum jemand ein solches Vermögen obszön, ganz im Gegenteil, verlangt es doch den meisten Menschen Respekt ab.
Walter Benjamin betrachtete in Abgrenzung von Max Weber den Kapitalismus nicht als religiös bedingtes Gebilde, sondern als „essentiell religiöse Erscheinung“, mehr noch, als „reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben hat.“ Diese Religion kenne keine spezielle Dogmatik, keine Theologie. Sie sei von permanenter Dauer: „Der Kapitalismus ist die Zelebrierung eines Kultes sans trêve et sans merci [= ohne Waffenruhe und ohne Gnade]. Es gibt da keinen ‚Wochentag’, keinen Tag, der nicht Festtag in dem fürchterlichen Sinne der Entfaltung allen sakralen Pompes, der äußersten Anspannung des Verehrenden wäre.“ Es handle sich um einen nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus. Ein ungeheures Schuldbewusstsein, das sich nicht zu entsühnen wisse, greife zum Kultus, nicht um die Schuld zu sühnen, sondern um diese universal zu machen, sie „dem Bewusstsein einzuhämmern und endlich und vor allem den Gott selbst in diese Schuld einzubegreifen.“ Religion bedeute nicht länger Reform des Seins, sondern dessen Zertrümmerung. Sie betone nicht Umkehr, Sühne, Reinigung oder Buße, sondern eine scheinbar stetige, „in der letzten Spanne aber sprengende, diskontinuierliche Steigerung.“ Gottes Transzendenz sei gefallen. Aber er sei nicht tot, sondern ins Menschenschicksal einbezogen.
Nur noch im Konsum findet die Gesellschaft ihren Zusammenhalt. Dabei trennt Konsum die Menschen voneinander, in jedem größeren Supermarkt gut zu beobachten. Wir haben es mit einer Ansammlung zu tun, die Menschen verstummen lässt. Die ganze Anordnung ist auf Stummheit hin bedacht, nicht auf feierliches Stillhalten. Nur in Ausnahmefällen kommt man in ein Gespräch, mit einer Kassiererin etwa dann, wenn einer der Kunden an ihr seinen ganzen Zorn auslässt. Wechselseitiges Geben und Nehmen, das einmal zwischen den Menschen und ihrer Umwelt bestanden hat, ist schwierig und meist sogar unmöglich geworden, hat doch, um es mit Lewis Mumford zu sagen, „der ständige Dialog, der zur Selbsterkenntnis, zur sozialen Zusammenarbeit und zur moralischen Wertung und Berichtigung notwendig ist“, in einer so organisierten Welt keinen Platz mehr. Es steht also zu befürchten, dass wir den drohenden Katastrophen nichts entgegenzusetzen haben werden.
Nein, die Heian-Zeit können wir uns nicht zum Vorbild nehmen, wohl aber das eine oder andere. Deshalb möchte ich schließen mit einer Bemerkung Kurt Singers, der als Jude in den 1930er Jahren in Japan Zuflucht suchte: „Hat vielleicht der Brauch, das Kleinkind der mechanisch rollenden Bewegung eines Kinderwagens auszusetzen, den modernen Westländer darin bestärkt, an einen quasi-automatischen Fortschritt in eine vorgegebene Richtung zu glauben und diesen als die natürlichste Weise der Veränderung zu betrachten? Der Gang einer japanischen Frau, die ihr Kind auf dem Rücken trägt, drückt nichts von einer geradlinigen Fortbewegung aus: Sie hält des öfteren inne, scheint auf der Stelle zu wiegen, wirft zuweilen einen Blick über die Schulter und summt ein uraltes Lied in das Ohr des halb schlummernden Kindes. In jenen halbbewußten Zustand zurückzukehren, in dem man gefangengenommen war von einer Melodie und von einer Macht hin und hergetragen wurde, die größer war als man selbst ...“
© Bernhard Kathan, Innsbruck 2022
Verwendete Literatur
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