„Mein jetziges Leben ist Selbstmord, ich kann mich nicht länger der Tatsache
verschließen, dass ich selbst mich von der Gewohnheit des ,Träumens’ nicht
befreien kann; wie Schnapstrinken zehrt sie meine Lebenskraft auf. Nun habe
ich mich gänzlich gehen lassen. ... Mein Gott, was soll aus mir werden? ...
Mein einziges Verlangen ist, zu sterben. Es gibt keinen Abend, an dem ich
nicht mit dem Wunsch zu Bett gehe, nie mehr aufstehen zu müssen.
Bewusstlosigkeit ist alles, was ich ersehne. Ich bleibe im Bett, solange ich
kann; denn was erwartet mich?“
Florence Nightingale, 31. Dezember 1850
Denkt man an Simone Weils „Plan zu einer Gruppe von Krankenschwestern an
vorderster Front“, dann stellt sich die Frage, welchen Bildern sich dieser
Plan verdankte. Hat sie Bücher über Krankenschwestern gelesen, hatte sie
Vorbilder? Hat sie sich mit Florence Nightingale beschäftigt? Dies ist eher
nicht anzunehmen. Dabei hatten die beiden vieles gemeinsam. Wie Simone Weil
hatte auch Florence Nightingale mystische Erfahrungen. Auch sie glaubte, von
Gott in seinen Dienst berufen zu sein. Auch sie hoffte ein Zeit lang, ihr
Heil in der römisch-katholischen Kirche zu finden. Simone Weil und Florence
Nightingale engagierten sich in ähnlicher Weise für Arme und Deklassierte.
Auch Florence Nightingale verfasste politische Schriften, mochte sie in
ihrem politischen Handeln auch wesentlich pragmatischer gedacht haben. Beide
teilten die Leidenschaft für Mathematik. Beide schrieben gegen ihren Tod an,
stürzten sich von einem Projekt in das nächste, teilten einen beängstigenden
Erfahrungshunger, den Hang zum Extremen, zu einer maßlosen
Selbstüberforderung. Durchaus vergleichbar empfand es auch Florence
Nightingale als Missgeschick, als Mädchen auf die Welt gekommen zu sein.
Auch sie fühlte sich zum Soldatischen hingezogen. Ähnlich wie Simone Weil
litt sie ein Leben lang an Krankheiten und erlebte zahllose Zusammenbrüche.
Während sich Florence Nightingale oft genug vor fester Nahrung ekelte, war
sie gleichzeitig bemüht, ihre Besucher bestens zu verköstigen. Beide teilten
eine tiefe Todessehnsucht. Auch Florence Nightingale neigte dazu, ihre
Sünden „auszurotten“, letztlich sich selbst zu „zertreten“. Durchaus in
verwandter Weise dachte sie an die Spiritualisierung der Arbeit und verstand
unter Bildung mehr als nur die Vermittlung von instrumentellem Wissen. Wie
wir später sehen werden, gelang es Florence Nightingale allerdings, ganz im
Gegensatz zu Simone Weil, den Kippschalter ihres Selbstzerstörungsprogramms
umzulegen.
Zweifellos hätte Florence Nightingale höchst ablehnend auf Simone Weils
„Plan zu einer Gruppe von Krankenschwestern an vorderster Front“ reagiert.
Mochte sie sich auch mehrfach großen Risiken ausgesetzt haben, so etwa
während der Cholera-Epidemie des Jahres 1854, so sah sie ein persönliches
Opfer dennoch als sinnlose und dumme Verschwendung. Als erste Bedingung für
eine Krankenschwester nannte sie die Fähigkeit, sich in den Kranken
versetzen zu können, Pflege als eine Tätigkeit, in der nur das zu geschehen
habe, was dem eigenen Körper angemessen sei. Tatsächlich hielt sie die von
ihr betreuten und bemutterten Pflegerinnen stets zu einem sorgsamen Umgang
mit sich selbst an. Allein aus diesem Grund hätte sie Simone Weils „Plan zu
einer Gruppe von Krankenschwestern an vorderster Front“ wohl nie
unterstützt. Sie hätte nicht anders entschieden als jene, die diesen Plan zu
verhindern wussten. Florence Nightingales Erfolg verdankte sich nicht
zuletzt dem Umstand, dass sie die Pflege analog zu militärischen Strukturen
organisierte. Eine strikt hierarchische Ordnung hielt sie für umso
dringlicher, je schlechter die unteren Ränge der Pflegekräfte ausgebildet
waren. Simone Weil hätte sich als unausgebildete Pflegekraft also einem
strikten Reglement unterordnen müssen. Sie wollte zwar eine Uniform tragen,
in eine militärische Struktur hätte sie sich wohl nie eingefügt. Auf ein
persönlich motiviertes Projekt hätte Florence Nightingale aller
Wahrscheinlichkeit nach mit einer sofortigen Entlassung geantwortet.
Wurde während des Krimkrieges (1854 – 1856) in Skutari wieder ein
Transportschiff mit hunderten verletzten oder erkrankten britischen Soldaten
entladen, dann soll Florence Nightingale oft zwanzig Stunden ohne
Unterbrechung auf den Beinen gewesen sein. Bis zu acht Stunden habe sie auf
den Knien verbracht, um Wunden zu verbinden. Sie habe es sich zur Regel
gemacht, wenn nur möglich niemanden allein sterben zu lassen. In
landläufigen Vorstellungen gilt Florence Nightingale als aufopferungsvolle
Schwester, die während des Krimkrieges im Lazarett von Skutari nachts mit
einer Lampe in der Hand durch die Krankensäle huschte und sich unermüdlich
um die Kranken bemühte. Zweifellos hat sie zahllose Wunden versorgt,
Sterbende „begleitet“, Briefe an Hinterbliebene geschrieben. Aber hätte sie
nur das getan - so wie viele andere Krankenschwestern -, kaum jemand würde
heute ihren Namen kennen. Ihr Erfolg wäre undenkbar gewesen, hätte sie nur
an frische Luft, genügend Wärme, Ruhe, Sauberkeit, gelüftete Betten, an
angemessene Krankenkost, Blumenschmuck und Bilder oder an die
Zuverlässigkeit der Pflegenden gedacht. Florence Nightingales Bedeutung
verdankt sich anderen Leistungen. Aus einer begüterten Familie stammend,
bestens ausgebildet, von klein an vertraut im Umgang mit gesellschaftlichen
Eliten, wusste sie in Strukturen zu denken. So hingebungsvoll sie sich auch
um einzelne Kranke gekümmert haben mag, Einzelfälle waren ihre Sache nicht.
Stets verstand sie ihr Tun als öffentliche Angelegenheit, mochte sie zumeist
auch aus dem Hintergrund agieren.
Florence Nightingale hätte ein völlig sorgenfreies Leben führen können. Sie
hätte nur in die ihr zugedachte Rolle hineinwachsen und einen reichen und
angesehenen Mann heiraten müssen. Keinesfalls hätte sie irgendeiner Arbeit
nachgehen müssen, sieht man einmal von den Pflichten der Hauhaltsführung ab,
die einer begüterten Frau der Viktorianischen Zeit oblagen. Florence
Nightingale verstand ihr Interesse für die Krankenpflege als Folge einer
göttlichen Berufung. Tatsächlich dürfte sich dieses entscheidend dem Umstand
verdankt haben, dass sie gegen die ihr zugedachte Rolle aufbegehrte, ein
Konflikt übrigens, der über lange Zeit die Beziehungen zu ihrer Familie
prägte. Florence Nightingale machte genau das, was den an sie gerichteten
Erwartungen widersprach. Gegen den heftigsten Widerstand ihrer Eltern begann
sie, sich mit dem Elend in den umliegenden Dörfern zu beschäftigen, das die
Industrialisierung mit sich gebracht hatte. Anfangs verteilte sie Arzneien,
Nahrungsmittel, Bettzeug oder Kleider, später begann sie Kranke zu pflegen.
Für ihre Mutter war es unfassbar, dass sie sich mit dem „schwarzen Unrat“
der Hütten befasste, Kranke berührte oder gar deren Betten machte. Während
ihre Mutter eine „geheime Liebesgeschichte mit irgendeinem niederen,
gewöhnlichen Wundarzt“ fürchtete, hatte sich die Tochter längst entschieden,
keine Beziehung mit einem Mann einzugehen. Gegen heftigsten Widerstand ihrer
Familie eignete sie sich mathematische Kenntnisse an. Für ihre Eltern war
dies völlig unverständlich, fragten sie sich doch, welchen Nutzen Mathematik
für eine Tochter haben könne, deren Bestimmung in einer standesgemäßen
Heirat liege.
Das langweilige und sinnentleerte Leben jener Gesellschaftsschicht, in die
sie hineingeboren worden war, wurde der heranwachsenden Florence Nightingale
zunehmend unerträglich. Immer weniger konnte sie sich vorstellen, die Tage
auf dem Sofa zu verbringen und „einander zu bitten, sich doch ja nicht beim
Blumenordnen zu überanstrengen.“ Beim Anblick des besten Versailler Services
konnte sie sich fragen: „Können vernünftige Leute wirklich alles dies haben
wollen?“ Auf die Konflikte in ihrer Familie reagierte sie mit
Ohnmachtsanfällen oder tranceähnlichen Zuständen, in denen sie die
Herrschaft über sich verlor, sich wie ein Automat bewegte, sich nicht mehr
erinnern konnte, was sie getan oder was man ihr gesagt hatte. Ihre
Aufzeichnungen aus dieser Zeit sind voll von Todessehnsüchten: „Ich kann
nicht leben - verzeih mir, Herr, und lass mich sterben, lass mich noch heute
sterben!“ „Ich wünsche mir nichts mehr als den Tod.“ „Wer wird mich erlösen
von diesem Leib des Todes?“ „In meinem einunddreißigsten Lebensjahr wünsche
ich mir nichts als den Tod.“
Während dieser für sie sehr schwierigen Zeit verfasste Florence Nightingale
eine Erzählung mit dem Titel „Cassandra“, in der sie das Leben eines
Mädchens aus einer wohlhabenden Familie – also ihr eigenes Leben –
beschreibt. Den Vormittag verbringt man im Salon, sieht sich Bilder an,
macht Handarbeiten, liest ein wenig vor. Am Nachmittag unternimmt man eine
kleine Ausfahrt. Abends leiden die Frauen an einer nervösen Erschöpfung:
„Frauen tuscheln untereinander und predigen ihren Töchtern, dass Frauen
keine Leidenschaft kennen ... Wenn jedoch die jungen Mädchen der höheren
Stände, die niemals einen falschen Schritt tun, deren rechtmäßig erworbener
guter Ruf nicht einmal durch den Makel des Wissens befleckt ist, einmal den
Mund aufmachen müssten und sagen, womit sich ihre Gedanken beschäftigen, was
würde man da erfahren! Die eine malt sich aus, wie sie irgendeinen neuen
Freund in einer Krankheit pflegt, eine andere, wie sie romantische Gefahren
mit ihm besteht, eine dritte, wie sie vor den Augen ihres erwählten
Traumgefährten harten Prüfungen unterworfen wird.“ Da sie ihr Leben weder
ertragen noch ändern kann, lässt Florence Nightingale Cassandra sterben,
wobei klar ist, dass sie durch ihre eigene Familie getötet wird. Sie lässt
die Sterbende rufen: „Freiheit, Freiheit, o göttliche Freiheit, kommst du
endlich? Willkommen, freundlicher Tod!“
Angesichts ihrer konfliktreichen Kindheit schrieb sie später, würde sie
genug Einfluss haben, dann dürfte keine Mutter ihr Kind selbst erziehen; für
Arme wie Reiche sollte es Krippen geben. Selbst wenn sie Mutter von zwanzig
Kindern wäre, so würde sie alle in Krippen stecken, vorausgesetzt, diese
wären gut geführt. Später sprach sie von „geistiger Mutterschaft“, nicht
zuletzt an die von ihr betreuten Soldaten denkend: „Was ist Mutterschaft dem
Fleische nach? Ein hübsches Mädchen lernt einen Mann kennen, und sie
heiraten. Denken sie überhaupt an Kinder? Die Kinder kommen, ohne dass man
sie gefragt hat, weil es nun einmal nicht anders geht ... Für jedes meiner
achtzehntausend Kinder, für jedes dieser armen, lästigen Geschöpfe in
Harley-Street habe ich in einer Woche mehr mütterliches Gefühl gehegt und
mehr mütterliche Taten vollbracht als meine Mutter für mich in
zweiunddreißig Jahren.“
Um ihrem Elend, ihren Tagträumen zu entkommen, suchte sie Ablenkung in der
Pflege von Kranken. Da war das Elend größer. Dieses schrie nach konkretem
Tun: „Mrs. Spencer zum zweitenmal eingerieben. Ich bin so ein erbärmlicher
Wurm, dass ich, wenn ich dergleichen tun kann, die Ehe, geistigen oder
gesellschaftlichen Verkehr oder was es auch sei, wonach die Leute verlangen,
gut entbehren kann ... Meine Seele findet dabei ihren Frieden, und jeder
Wunsch des Herzens und des Geistes wird gestillt. Mein ganzes Leiden wird
geheilt. Meine Seele wird dadurch vor der Zerstörung bewahrt. Ich verlange
nach nichts anderem, mein Herz ist erfüllt. Ich bin zu Hause.“ Florence
Nightingale begann sich systematisch in die ihr verfügbare Literatur über
Spitäler einzuarbeiten, all dies verborgen vor ihrer Familie. Sie ordnete,
verglich, fasste zusammen, sammelte Erfahrungen in evangelischen und
katholischen Anstalten im Ausland. Für kurze Zeit übernahm sie die Leitung
eines Hospitals für „ehrbare Frauen“ in London. Dort konnte sie zum ersten
Mal ihr großes Organisationstalent unter Beweis stellen.
Mit dem Krimkrieg begann jener Lebensabschnitt, der Florence Nightingales
Ruhm bis heute begründet. Im Auftrag des Kriegsministeriums übernahm sie als
„Superintendent of the Female Nursing Establishment of the English General
Hospitals in Turkey“ die Leitung einer Gruppe von 38 Krankenschwestern, die
verwundete und erkrankte englische Soldaten in Skutari, dem heutigen
Üsküdar, einem Vorort von Istanbul, pflegen sollten. Mochte sie sich während
dieser Zeit auch mit unermüdlichem Einsatz um Kranke gekümmert haben, so sah
sie ihre eigentliche Aufgabe von Beginn an als Verwaltungsauftrag, später
dann als Experiment, welches die Sinnhaftigkeit des Einsatzes von
Krankenpflegerinnen in Frontlazaretten zeigen sollte. Keineswegs sah sie
sich als Engel der Barmherzigkeit und tat sich deshalb schwer mit
„wohltätigen Damen“, „ausgezeichneten, aufopfernden Frauen“. Sie schrieb,
diese würden besser in den Himmel als ins Spital passen, sie schwebten wie
Engel ohne Hände zwischen den Patienten umher, besänftigten deren Seelen,
während sie ihre Körper schmutzig und vernachlässigt ließen. Das
„damenhafte“ Verfahren habe nur einen geistigen Flirt zwischen den
Pflegerinnen und den Soldaten zur Folge. Einzelne würden verhätschelt,
während für die Allgemeinheit nichts geschehe. Es führe nur zu
Streitigkeiten unter den „Damen“, während die Ärzte ein bisschen weibliche
Gesellschaft genießen würden, was zwar natürlich, aber nicht gerade das Ziel
sei.
Im Sinne einer straffen militärmedizinischen Organisation hatte sich jede
der ausgewählten Pflegerinnen vertraglich dem Kommando von Florence
Nightingale zu unterwerfen. Auf schlechtes Betragen stand die sofortige
Entlassung. Wer wegen schlechter Führung heimgeschickt wurde, hatte sich mit
der dritten Klasse abzufinden. Nur Ordensfrauen durften ihren Habit
behalten. Alle anderen mussten dieselbe Uniform tragen, ein weites, graues
Kleid mit grauer Strickjacke, eine einfache weiße Haube und einen kurzen
wollenen Mantel mit einem Kragen aus ungebleichter Leinwand, auf den in
roten Buchstaben die Worte „Skutari Hospital“ gestickt waren. Wie bei
Uniformen von Soldaten wurde diese Kleidung einfach in verschiedenen Größen
angefertigt. Während jede Pflegerin Unterwäsche, vier baumwollene
Nachthauben, einen baumwollenen Schirm und eine Reisetasche selbst
mitzubringen hatte, wurden die Uniformen gestellt. Bunte Bänder oder Blumen
waren verboten. Der Ausgang war strikt reglementiert. Die erlaubten Mengen
Alkohol waren festgelegt. Die Pflegerinnen bildeten eine höchst inhomogene
Gruppe, die wenigsten von ihnen hatten in Spitälern Erfahrung gesammelt.
Manche wollten sich mit ihrer Kleidung nicht abfinden, Ordensschwestern oder
Mitglieder anderer religiöser Vereinigungen widersetzten sich der
Befehlsgewalt von Florence Nightingale.
Die Zustände in Skutari waren erschreckend. Es fehlte an Verbandstoff, an
Schienen, an Arzneien, Chloroform und Morphium. In Sälen lagen die
Verwundeten und Kranken zusammengepfercht auf dem Boden. Soldaten waren in
von Blut und Dreck steife Mäntel gewickelt. Es mangelte selbst an Decken.
Amputationen wurden in den Krankenzimmern vor aller Augen vollzogen und
zumeist ohne Narkose durchgeführt. Als Operationstische dienten ausgehängte
Türen. Dazu kamen zahllose Cholerafälle.
Als Florence Nightingale in Skutari eintraf, begegneten ihr die Ärzte mit
großer Ablehnung. Da sie erkannte, dass sie gegen den Widerstand der
offiziellen Stellen nichts erreichen könnte, entschloss sie sich, so lange
zu warten, bis die Ärzte um ihre Hilfe bitten würden. Mochten noch so viele
Soldaten leiden, ohne offizielle Anweisung wollte sie nichts tun. Sie nutzte
diese Zeit für organisatorische Tätigkeiten. Ihre Pflegerinnen wies sie
gegen deren Widerstand an, altes Leinen zu sortieren, Wäsche zu zählen oder
zu flicken. Sie verbot den Pflegerinnen, Krankenzimmer ohne Geheiß eines
Arztes zu betreten, mochte der Zustand der Verwundeten noch so beklagenswert
sein. Erst nach einer Woche konnten die Pflegerinnen mit ihrer Arbeit
beginnen.
In der Folge sorgte sie vor allem für eine verbesserte Hygiene, bessere
Ernährung, für ausreichende Verfügbarkeit und Zuteilung sauberer Wäsche. Die
Kranken und Verwundeten, die von der Krim nach Skutari kamen, besaßen
zumeist weder Essbestecke noch Hemden. Ihr Gepäck hatten sie oft genug auf
Befehl ihrer Offiziere zurückgelassen. Da jedoch laut einer Dienstvorschrift
der britischen Armee jeder Soldat sein Gepäck ins Lazarett mitzunehmen
hatte, wurden dort weder Essbestecke noch Kleidungsstücke ausgegeben.
Eine erste Bilanz ihres Erfolges beschrieb Florence Nightingale so: „Was wir
als erreicht ansehen können: 1. Die Küche für Sonderkost ist nun voll in
Betrieb. 2. Wir haben noch mehr Krankenzimmer gereinigt und die
Scheuertücher, Scheuerbürsten, Besen und Schrubber dafür selbst gestellt. 3.
Dreitausend Hemden aus Baumwolle und Flanell ausgegeben und ihr Waschen
organisiert. 4. Ein Wöchnerinnenheim aufgezogen. 5. Den Witwen und Frauen
der Soldaten geholfen und sie versorgt. 6. Unsere geschicktesten
Pflegerinnen haben täglich viele Verbände angelegt und komplizierte Brüche
behandelt. 7. Wir haben den ganzen Betrieb hier in die Hand bekommen und ins
Rollen gebracht, im allgemeinen in Zusammenarbeit mit den Chefärzten. 8. Wir
haben Krankensäle für neunhundert Verwundete in Ordnung bringen lassen, die
sonst unbewohnbar geblieben wären. [Und dies scheint mir das Wichtigste.]“
Einige Monate später berichtete sie von der ersten ihrer Ansicht nach
zufriedenstellend abgewickelten Aufnahme eines Krankentransportes.
Zweihundert Soldaten wurden gebadet, ihre Haare wurden geschnitten und
gewaschen. Eingekleidet in saubere Lazarettanzüge wurden sie in frische
Betten gelegt und mit einem gut zubereiteten, kräftigenden Essen verköstigt.
Der Erfolg des Unternehmens verdankte sich weniger der Einzelbetreuung als
durchgreifenden hygienischen Maßnahmen, vor allem aber Florence Nightingales
Organisationstalent. Sich um Kleider, Essen, Besteck und ähnliches zu
kümmern, sei freilich nicht so vergnüglich wie „herumzutändeln und ab und zu
eine Fleischbrühe für die armen Helden persönlich zu kochen.“ Aber gerade
solch unvergnüglichen Maßnahmen sollten viele Soldaten ihr Leben verdanken.
Wie sich herausstellen sollte, waren die enormen Verluste des britischen
Heeres während des Krimkrieges nicht auf Kampfhandlungen, sondern auf
schlechte Versorgung und sanitäre Missstände und dadurch bedingte
Infektionserkrankungen zurückzuführen. Von 97.800 britischen Soldaten wurden
2.700 im Gefecht getötet, 1.800 erlagen später ihren Verwundungen. Dagegen
starben 17.600 an Erkrankungen. Dank entsprechender Maßnahmen ließ sich die
enorm hohe Sterblichkeitsquote in Skutari innerhalb weniger Wochen um fast
zwei Drittel senken. Obwohl Florence Nightingale mehrfach selbst erkrankte –
einmal wurde sie von den Ärzten schon aufgegeben – und sich neben der
Betreuung der Kranken mit endlosem bürokratischem Kleinkram zu befassen
hatte, dachte sie, selbst „bis zum Hals im Blut“ steckend, in größeren
Zusammenhängen. Selbst in Skutari sammelte sie systematisch Material, das
sie für ihre hygienepolitischen Argumentationen benötigte.
Nach ihrer Rückkehr aus Skutari erlitt sie einen Zusammenbruch. Sie war
schwach und ausgezehrt, krank. Sie litt an Gliederzittern, beim bloßen
Anblick von Speisen wurde ihr übel. Wochenlang nahm sie keine feste Nahrung
zu sich und lebte praktisch nur von Tee. Sie war dem Tode nahe. Man
versuchte es mit Kaltwasserumschlägen. Fortan führte Florence Nightingale
das zurückgezogene Leben einer Kranken. Und doch begann sie schon bald
damit, sich intensiv mit Reformen im Sanitätswesen zu beschäftigen. Die
Erinnerung an die Soldaten, die aufgrund von Inkompetenz,
Verantwortungslosigkeit und organisatorischen Fehlern zugrunde gegangen
waren, trieb sie zu weiterem Einsatz an: „Wir können nichts mehr tun für
jene, die für ihr Land gelitten haben und gestorben sind. Sie brauchen
unsere Hilfe nicht mehr. Ihre Seelen sind bei Gott, der sie erschuf. Es ist
an uns, danach zu trachten, dass sie nicht vergeblich gelitten haben -
danach zu trachten, aus der Erfahrung zu lernen, solche Leiden in der
Zukunft zu verringern durch Vorsorge und gute Einrichtungen.“
In der Folge beschäftigte sie sich mit der Reform der Lazarette, mit der
Reform des Heeres-Sanitätswesens, mit Gemeindekrankenpflege,
Krankenabteilungen in Armenhäusern, der Verbesserung der sanitären
Bedingungen in den Lazaretten der indischen Kronkolonie, mit der Ausbildung
von Krankenpflegerinnen und Hebammen, der Errichtung von Krankenhäusern und
Kasernen, der Einrichtung von Militärlazaretten, mit Plänen zum Bau von
Spitälern für Soldatenfrauen, Vorschlägen zur Verbesserung der
Heeresrationen, mit Vollmachten und Anweisungen für Stabsärzte, Verordnungen
zur Behandlung von Gelbfieber, mit dem Fouragierungs- und Verpflegungswesen
in den Kolonien, mit Verpflegungsplänen für Truppentransporte oder
Anweisungen zur Behandlung der Cholera. Florence Nightingale war geradezu
besessen von Details. So berechnete sie etwa ausgehend von der
Durchschnittsgeschwindigkeit von Schlittenhunden, wie viel Zeit nötig wäre,
um in Kanada Kranke über weite Strecken transportieren zu können.
All diese Arbeiten basierten auf genauen Recherchen, zumeist statistischen
Erhebungen, wobei sie nicht nur bestens darüber Bescheid wusste, was sich
aus Statistiken herauslesen lässt und was nicht, sondern auch empirisch
gewonnene Daten in politische Diskurse und Entscheidungsprozesse
einzubringen verstand. Florence Nightingale zählt zu den ersten, die
Statistiken graphisch gestalteten. Das ihr zugeschriebene
Polar-Area-Diagramm weist sie nicht nur als Statistikerin aus, sondern als
eine Frau, die wusste, mit welcher Darstellungsweise die größte Wirkung zu
erzielen war: „Man führt keine Statistiken darüber, in welchem Alter die
meisten Kranken sterben, keine Statistik über Behandlungsmethoden, über das
Aussehen der Leichen usw. usw. Unsere Registratur ist so kläglich und
mangelhaft, dass die einzige Eintragung häufig lautet: der Mann starb am
Soundsovielten.“
Auffallenderweise wandte sich Florence Nightingale nicht gegen den Krieg;
sie glaubte, dass sich bestenfalls seine Schrecken mildern ließen.
Tatsächlich hielt sie sich gern in der Gesellschaft einfacher Soldaten auf.
Während eines kurzen Aufenthaltes auf der Krim ließ sie es sich nicht
nehmen, die Mörserbatterien vor Sewastopol zu besichtigen und auf einem
Mörser Platz zu nehmen. Sie entwickelte eine auffallende Zuneigung gegenüber
einfachen Soldaten. Ganz im Gegensatz zu den militärischen Eliten
betrachtete sie die einfachen Soldaten als anstellige und brauchbare
Menschen, freilich vorausgesetzt, deren Wesen würde durch disziplinäre
Maßnahmen oder Bildungsangebote zur Geltung gebracht. Auf ihr Betreiben hin
wurden in Skutari die Schnapsbuden geschlossen, wurden Betrunkene wegen
„Entehrung des Regiments“ dem Kriegsgericht vorgeführt. Andererseits ließ
sie Lesezimmer für Kranke einrichten, Erholungsräume mit Spielen, Zeitungen
und Schreibmaterial. Sie dachte auch an Unterricht, an ein Theater.
Ihre Begeisterung für die britische Armee verdankte sich nicht zuletzt dem
Umstand, dass sie Mühe mit ihrer Geschlechtsidentität hatte. Florence
Nightingale wäre wohl lieber als Sohn zur Welt gekommen. In einem fiktiven
Dialog mit ihrer Mutter notierte sie, dass sie nicht ihr Leben lang in ihrem
Salon herumflattern wolle. Ihre Mutter solle sie doch als einen etwas
unsteten Sohn betrachten. Während des Krimkrieges schrieb sie, sie habe
alles durchgemacht, Krimfieber, Dysenterie und Rheumatismus, und sei deshalb
bereit, den Krieg auszuhalten wie ein Soldat. Nicht zufällig lehnte Florence
Nightingale die Frauenbewegung ab und sprach etwa abfällig von
„Frauen-Aposteln“. Ob ihrem Geschlecht Recht oder Unrecht geschehe, das sei
ihr „bis zum Stumpfsinn gleichgültig.“ Frauen hätten „nie lernen gelernt“,
sie wüssten nicht einmal die Namen der Kabinettsmitglieder. Ihre Einstellung
der Frauenbewegung gegenüber wurde entscheidend durch ihre Erfahrungen mit
ihrer Mutter und ihrer Schwester geprägt, mit denen sie sich erst spät
versöhnen konnte, zu einem Zeitpunkt, als ihre Mutter bereits gebrechlich
und ihre Schwester krank war: „Ich habe nie eine Frau gefunden, die ihr
Leben um meinetwillen oder um meiner Ansichten willen auch nur um ein Jota
geändert hätte. Schau Dir dagegen meine Erfahrungen mit Männern an! [...]
Ich habe mit englischen Gräfinnen und preußischen Bäuerinnen gelebt, mit
ihnen im gleichen Bett geschlafen und so engen Umgang mit ihnen gepflogen
wie niemand sonst. Ich habe dreißig Jahre mit einer Schwester
zusammengelebt, vier oder fünf mit einer Tante, mit einer Base zwei oder
drei. Nicht eine von ihnen hat nur für eine Stunde ihre Existenz um
meinetwillen geändert.“ Dass einige Frauen ihretwillen all ihre Interessen
hintangestellt hatten, schien ihr nicht der Rede wert.
Obwohl Florence Nightingale als Nationalheldin aus dem Krimkrieg
zurückgekehrt war, fiel es ihr schwer, als Frau ihre Anliegen öffentlich zu
vertreten. Deshalb scharte sie eine Reihe von Experten und einflussreichen
Persönlichkeiten um sich, die ihr gleichermaßen als Zuträger wie als
„Sprachrohr“ dienten. Sie verstand es, deren Triebenergie umzuleiten,
Bewunderung in fruchtbringende Arbeitsleistung zu verwandeln. Diese Männer
begegneten ihr geradezu jungenhaft. Florence Nightingale, von ihrer Mission
überzeugt, erwartete von ihnen denselben Einsatz. Andere hatten ihre
Bedürfnisse oder ihr Privat- und Familienleben ihrer Berufung unterzuordnen.
Als ihr über lange Zeit engster Mitarbeiter Sidney Herbert, der verschiedene
hohe Ämter bekleidete, ernsthaft erkrankte und die Ärzte ihm absolute Ruhe
verordneten, pochte sie darauf, dass er Kriegsminister bleiben müsse. Mit
seiner Hilfe wollte sie ihren Einfluss behalten. Da Florence Nightingale
während dieser Zeit davon überzeugt war, selbst dem Tod nahe zu sein, immer
wieder gegen Erschöpfung und Zusammenbrüche ankämpfte, konnte sie Herberts
Klagen nur als „Einbildungen“ abtun. Sie selbst sah sich in einem
erbärmlichen Zustand und verglich sich mit jener Eule, die sie von einer
Europareise aus Athen mitgebracht hatte und die später in ihrem Käfig
verendete: „Ich bin sehr bekümmert gewesen, neulich meine arme Eule leblos,
ohne Kopf und ohne Klauen, in dem Käfig Ihres Kanarienvogels liegen zu sehen
... und der kleine Schurke pickte an ihr herum. Das bin ich; ich liege da
ohne Kopf und ohne Krallen, und ihr alle hackt auf mir herum.“ Florence
Nightingale trieb Sidney Herbert selbst kurz vor seinem Tod noch an. Als er
zusammenbrach und deshalb von seinen Ämtern zurücktrat, reagierte sie mit
Verachtung und brach jeden Kontakt zu ihm ab. Er besuchte sie zu einer
letzten Aussprache. Doch sie war unfähig zu sehen, dass sie einen Todkranken
vor sich hatte. Erst lange später wurde sie sich dessen bewusst. Auch andere
ihrer engsten Mitarbeiter starben. Später sollte sie schreiben, sie komme
sich wie ein Vampir vor, der nicht nur Sidney Herbert das Blut ausgesaugt
habe.
In vielerlei Hinsicht lesen sich die Texte der Florence Nightingale heute
antiquiert. Sie dachte noch an Miasmen, krankmachende Ausdünstungen, ein
Grund, warum bei ihr die Krankenzimmer so häufig gelüftet werden mussten.
Bakterien und Viren waren ihr noch fremd. Louis Pasteur hatte seine ersten
Gärungsversuche durchgeführt, doch der Nachweis der Übertragung des
Milzbrands durch Robert Koch im Jahr 1875 stand noch aus. An „Ansteckung“ im
heutigen Sinn dachte sie nicht, nur bei wenigen Erkrankungen, bei den Pocken
etwa, vermutete sie ein „spezifisches Gift“, das sich von einem Körper auf
andere übertrage. Andererseits sind zahllose Neuerungen mit ihrem Namen
verbunden. Da damalige Krankenhäuser keine einheitlichen Klassifikationen
von Krankheiten kannten, entwickelte sie „Musterblätter für Spitäler“, um
die Sterberaten in den unterschiedlichen Krankenhäusern miteinander
vergleichen zu können, dabei den Krankheitsverlauf in den einzelnen
Altersstufen, die Häufigkeit von Erkrankungen und Verletzungen in
unterschiedlichen sozialen Schichten und anderes mit bedenkend.
Die Schriften der Florence Nightingale bestechen nicht zuletzt durch viele
praktische Überlegungen. Sie dachte an Warmwasserleitungen, an Hebewinden,
um das Essen in die einzelnen Stockwerke zu befördern. Die Krankenglocke
geht auf sie zurück. Mit dem Klingelzeichen sollte auf dem Gang eine Klappe
herunterfallen, damit die Pflegerin sehen konnte, wer geschellt hatte. Sie
hielt nichts von planloser Hingabe und Selbstaufopferung. Sie war davon
überzeugt, dass mit der Einrichtung einer Klingelanlage mehr gewonnen sei
als mit einer aufopferungsvollen Pflegerin, die endlos die Treppen auf und
ab rennt, nur weil es eine solche Vorrichtung nicht gibt. Fehlten
Warmwasserleitungen oder Hebewinden, so würde die Pflegerin zu einem „Paar
Beine“ gemacht, also unsinnig eingesetzt. Sinnvoller erschien es ihr, für
saubere Bettwäsche und gute Nahrung zu sorgen, als die Nacht am Bett eines
Sterbenden zu verbringen, der stirbt, weil er schlecht gebettet und falsch
ernährt wurde. Obwohl sie sich ihr ganzes Leben nie um ihren Lebensunterhalt
sorgen musste, achtete sie stets – so als würde sie einen Haushalt führen –
auf den effizientesten Einsatz der verfügbaren Mittel, ganz gleich, ob es
sich um die anfallende Arbeit oder um Geld handelte. Sie beschäftigte sich
auch mit Fragen des Einkaufs und kam zum Schluss, dass Einzeleinkäufe durch
Lieferverträge mit den bestbietenden Firmen ersetzt werden müssten. Als sie
für kurze Zeit das Hospital für „ehrbare Frauen“ leitete, machte sie es zur
Vorschrift, dass niemand länger als zwei Monate in der Anstalt bleiben
dürfe, es sei denn, er wäre sterbenskrank. Sonst, so dachte sie, fehle jeder
Anreiz, um gesund zu werden.
Pflegerinnen seien nach ihrer Eignung und nicht nach ihrem Bekenntnis
auszuwählen. Gegen heftigste Widerstände insistierte sie auf einer
konfessionsunabhängigen Pflege: „Mein Komitee verlangte von mir, keine
katholischen Patientinnen aufzunehmen, worauf ich ihnen guten Morgen
wünschte, wenn ich nicht berechtigt wäre, Jüdinnen aufzunehmen mitsamt ihren
Rabbinern, um sie geistlich zu betreuen. Nun ist es festgelegt - und zwar
gedruckt -, dass wir Patientinnen jeder beliebigen Konfession aufnehmen und
auch erlauben, dass sie von ihren jeweiligen Priestern und Muftis besucht
werden. Vorausgesetzt, dass ich in jedem Fall, der nicht ,Hochkirche’ ist,
das anstößige Tier an der Tür empfange, den Armen selbst nach oben geleite,
dabei bleibe, wenn er sich mit seinem Patienten unterhält, mich dafür
verantwortlich erkläre, dass er niemand anders anspricht oder ansieht, ihn
mit gebundenen Händen wieder die Treppe hinunterbringe bis vor die Türe. Und
dem habe ich zugestimmt. Und zwar Schwarz auf Weiß! Amen.“
Florence Nightingale war eine begnadete Wissenschaftlerin. In vielen
Bereichen betrat sie Neuland. Da sie aber all ihre Studien als Teil ihrer
Reformbemühungen sah, wurde sie durch jede Fragestellung auf tiefer liegende
Probleme verwiesen. Als sie nach Möglichkeiten suchte, die widrigen Zustände
in den Krankenabteilungen der Armenhäuser zu verbessern, wurde ihr nur zu
schnell klar, dass es dafür zunächst einer Reform der Armenhausverwaltung
bedurfte: „Solange ein Kranker, sei es nun Mann, Frau oder Kind,
verwaltungsmäßig als Almosenempfänger angesehen wird, der in Schranken
gehalten, und nicht als ein Mitmensch, der gesundgepflegt werden soll, so
lange wird man immer diese beschämenden Erfahrungen machen.“ Sie forderte
nicht nur eine zentrale Verwaltungsstelle als Voraussetzung dafür,
vorhandene Einrichtungen möglichst wirtschaftlich nutzen zu können, sondern
auch eine Ausgleichskasse. So lange nämlich die Gemeinden für die
Unterbringung in Armenhäusern zahlen müssten, komme es für einen Armen einer
schrecklichen Strafe gleich, in einer unbemittelten Gemeinde krank zu werden.
Als nachhaltigste Wirkung ist wohl die Gründung der Krankenpflegeschule im
St.-Thomas-Spital in London zu sehen. In der Mitte des neunzehnten
Jahrhunderts nahm man allgemein an, dass es genüge, eine Frau zu sein, um
Kranke versorgen zu können. Florence Nightingales praktische Erfahrungen im
Umgang mit Kranken machten ihr deutlich, dass es nicht genügt, nur
zartfühlend, mitleidig, gütig und geduldig zu sein, dass Krankenpflege einer
gewissen Schulung bedarf: „Kein Mann jedoch, nicht einmal ein Arzt, gibt je
eine andere Definition von dem, was eine Krankenschwester sein sollte, als
die folgende – ‚hingebungsvoll und gehorsam’. Diese Definition würde genauso
für einen Pförtner zutreffen. Sie könnte sogar für ein Pferd gelten. Sie
würde nicht für einen Polizisten zutreffen.“ Die von ihr initiierte Schule
sollte Pflegerinnen hervorbringen, die befähigt sind, andere auszubilden. Da
die Gründung der Schule nicht zuletzt auf heftigen Widerstand von Ärzten
stieß und ein Fehlverhalten einer einzigen Pflegerin das gesamte
Schulprojekt diskreditiert hätte, mussten sich die Bewerberinnen, die in
diese Schule eintreten wollten, einer strengen Prüfung unterziehen. Anfangs
dauerte die Ausbildung ein Jahr. Die Zöglinge lebten in einem
Pflegerinnenheim. Jede Schülerin verfügte über einen eigenen Schlafraum und
teilte mit den anderen einen Wohnraum. Dass Florence Nightingale an mehr als
an die Vermittlung instrumentellen Wissens dachte, macht allein der Umstand
deutlich, dass sie das Heim mit Büchern, Landkarten und Stichen ausstatten
ließ und die Schülerinnen ermunterte, Bücher zu lesen oder Musik zu hören.
Unterbringung und Verpflegung waren kostenlos; selbst Wäsche und Kleidung
wurden gestellt. Jede Schülerin erhielt einen gewissen Betrag für
persönliche Ausgaben während der Ausbildungszeit. Im Gegensatz zu ihren
Kritikern sah Florence Nightingale in den Krankenpflegerinnen keine
Dienstmädchen: „Ich will keinen religiösen Orden gründen, sondern möchte
eine hochbezahlte Karriere eröffnen. Mein Prinzip ist immer gewesen, dass
wir jeder Frau, von welcher Klasse oder Sekte sie auch sei, bezahlt oder
unbezahlt, die bestmögliche Ausbildung geben müssen, wenn sie sittlich,
geistig, körperlich die notwendigen Voraussetzungen für den Beruf einer
Pflegerin hat. Fraglos werden die Gebildeten eher auf den Posten einer
Oberin gelangen, aber nicht, weil sie ,Damen’ sind, sondern weil sie
gebildet sind.“
Die Ausbildung bestand zum einen in praktischer Arbeit am Krankenbett, zum
anderen im täglichen Besuch von Vorlesungen. Jederzeit mussten die
Schülerinnen bereit sein, ihre Hefte zur Durchsicht vorzulegen und sich
einer schriftlichen und mündlichen Prüfung zu unterziehen. Monatlich
verfasste die Leiterin der Schule einen Bericht über jede einzelne
Schülerin, ein „moralisches Protokoll“ wie ein „Fertigkeits-Protokoll“.
Dieser Bericht war bis in die kleinsten Einzelheiten festgelegt. Später
hatten die Schülerinnen noch ein Tagebuch zu führen, welches Florence
Nightingale am Ende eines jeden Monats las. Eine allfällige Liebschaft hatte
die sofortige Entlassung zur Folge. Andererseits wurden die Schülerinnen
ermuntert, sich kritisch zu äußern. Da Florence Nightingale die
Krankenpflege nicht als Beruf, sondern als religiös motivierte Tätigkeit
betrachtete, die eine Berufung voraussetzt, wandte sie sich entschieden
gegen eine unabhängige Prüfungskommission. Die Eignung einer Pflegerin lasse
sich nicht wie etwa bei Ingenieuren durch ein öffentliches Examen
feststellen. Was würde Florence Nightingale heute zu Plastikwörtern wie
„Ausbildungsstandards“ oder „Qualitätsmanagement“, was zu einer Ausbildung
sagen, die nur noch der Vermittlung instrumenteller Kenntnisse gilt, Bildung
im eigentlichen Sinn aber negiert?
Die enorme Produktivität Florence Nightingales nach dem Krimkrieg erstreckt
sich über einen Zeitraum von etwa sechzehn Jahren. Vom Bett aus dirigierte
sie zahllose Projekte. Statt Kranke zu pflegen, war sie selbst krank,
zweifellos eine schwierige Patientin. Die Masseuse, von der sie dreimal
wöchentlich behandelt wurde, musste geräuschlos das Zimmer betreten und sich
ebenso zurückziehen. Unter keinen Umständen durfte sie mit der Kranken
sprechen. Während dieser Zeit diente ihr die Krankheit oft genug als
Vorwand, Kontakte mit ihrer Familie zurückzuweisen. Kündigte sich jemand
auch nur an, so reagierte sie mit einem „Anfall“.
Überzeugt, bald sterben zu müssen, legte sie alle Einzelheiten für ihre
Bestattung fest und schrieb zahllose Briefe, die nach ihrem Tod verschickt
werden sollten. In einem Testament aus dieser Zeit bestimmte sie, dass das
Vermögen, das sie eines Tages von ihren Eltern erben würde, für den Bau
einer Musterkaserne mit Tagesräumen, Schlafsälen, Waschräumen, Turnhallen
und Lesezimmern verwendet werden solle. Für verheiratete Soldaten sah sie
Musterwohnungen vor. Sie selbst wollte, sollte sie nicht mehr arbeiten
können, den Rest ihres Lebens in einem allgemeinen Krankensaal des
St.-Thomas-Spitals verbringen: „Ich werde ein ganz zahmes Biest, von einer
Dame zu lenken und zu reiten, wie die Rosshändler von ihren boshaftesten
Tieren sagen.“ Die damals nicht einmal fünfzigjährige Florence Nightingale
sollte noch mehrere Jahrzehnte leben. Nach der Aussöhnung mit ihrer Familie
verlor sie ihre Bitterkeit, die sie über so viele Jahre geprägt hatte. Ihr
Gesundheitszustand besserte sich. Sie wurde umgänglicher. Ihre äußere
Erscheinung änderte sich auffallend. Die ausgezehrte, magere und früh
gealterte Frau wandelte sich zu einer gut genährten stattlichen alten Dame
mit einem breiten, gut gelaunten Gesicht.
Mochte sie ihren früheren Eifer auch verloren haben, so galt sie nach wie
vor als Expertin und wurde von vielen um Rat gefragt. Sie unterhielt sich
mit ihren Besuchern, die stets nur nach Verabredung zu ihr vorgelassen
wurden, von ihrem Ruhebett aus. Auffallenderweise änderte sich ihre
Einstellung zum Essen. Während über lange Jahre allein der Anblick von
Speisen Übelkeit zur Folge hatte, widmete sie dem Essen nun entschieden
größere Aufmerksamkeit. Im März 1889 bestellte sie bei einem Metzger „ein
Vorderviertel Ihres besten kleinen Hammels. Am liebsten habe ich vier Jahre
alten Hammel.“ Eine Woche später bestellte sie „Hammel-Halsstück und Keule,
gut abgehangen, dreizehn bis vierzehn Pfund guter Rindslende zum Versuchen.“
Da sie eine sehr wählerische Esserin war, musste ihr täglich der
Speisezettel vorgelegt werden, worauf sie Vorschläge machte und die Gerichte
des Vortages kritisierte: „Ein paar Austernpasteten oder ein bisschen Brühe
und eine gebackene Seezunge, Soßen und Fleischsäfte dürfen nicht mit Mehl
eingedickt werden. Die Fleischknochen müssen mit Gemüsen gelinde gekocht
werden, um den Extrakt abzugeben, der dann eingedickt wird. Zum Würzen viel
Kräuter verwenden! Feine Rüben werden angerichtet, indem man alles Wasser
ausquetscht, sie durch ein Haarsieb streicht und ungefähr ein achtel Liter
Sahne dazugibt. Kalbsbrust sollte mit Kräutern, Zwiebeln, Möhren und
Sellerie in einer leichten Brühe auf der heißen Herdplatte elf Stunden lang
gekocht werden. Nur nicht zu schnell kochen! Gebratenen Fasan darf man nicht
zu nah an ein starkes Feuer hängen und muss ihn eine Stunde lang alle ein
bis zwei Minuten mit guter Butter begießen. Gebratenes Hähnchen muss rundum
gut eingefettet werden.“
Als besonderes Vergnügen empfand sie den Umgang mit jungen
Krankenpflegerinnen. Erkrankte eine von ihnen, so ließ sie dieser von ihrer
Köchin eigene Gerichte zubereiten. Verreiste eine, so schickte sie ihren
Diener mit einem Frühstückskorb zum Zug. Erschöpfte Pflegerinnen ließ sie
auf eigene Kosten wieder aufpäppeln. Überanstrengte Pflegerinnen lud sie
zuweilen zu sich auf ein „Wochenende im Bett“ ein. Besonders mit zwei jungen
Frauen verband sie ein enges freundschaftliches Verhältnis. Die eine nannte
sie „die Perle“, die andere wurde von ihr „Baby-Göttin“ getauft. Sie konnte
ihre jungen Freundinnen ansprechen mit: „Liebste kleine Schwester“,
„Außerordentliche kleine Schurkin“, „Liebste, Allerliebste“. Nahm Florence
Nightingale ihr Essen mit den beiden ein, so gab sie sich größte Mühe, ihnen
das Beste vorzusetzen: „Fleischpastete oder Seezungenfilet à la Maître
d’hôtel oder Huhnaspik mit Mayonnaise oder Kotelett à la Béchamelle; bestes
Stück von Lammschulter, sehr zart; oder gehacktes Kalbfleisch. Oder junges
Hähnchen.“ Und nahm eine das Essen nicht ein, so schickte sie es in einem
Wagen mit einem Briefchen und zärtlichen Vorwürfen hinterher.
Vergleicht man das von Florence Nightingale vor ihrem Tod verfasste
Testament mit jenem, welches sie Jahrzehnte zuvor geschrieben hatte, dann
wird ihre Veränderung offensichtlich. Nun dachte sie nicht mehr an die
Errichtung einer Musterkaserne, sondern an Menschen, die ihr nahe standen.
Florence Nightingales Leben kennt zwei markante Brüche. 31jährig brach sie
mit ihrer Familie: „Ich darf von ihnen kein Verständnis und keine Hilfe
erwarten. Manches muss ich mir einfach nehmen, so wenig wie möglich, nur
damit ich leben kann. Ich muss es mir nehmen, denn es wird mir nicht
gegeben.“ Der zweite Bruch ist dort zu sehen, wo sie ihre obsessive Arbeit
aufgab und ein geradezu alltägliches Leben zu führen begann. Sie fing wieder
an auszugehen, besuchte Truppenparaden oder andere Veranstaltungen. Nach wie
vor interessierte sie sich für vieles, aber die Welt musste sie nicht mehr
retten. Sie dachte daran, ein Buch über mittelalterliche Mystiker zu
schreiben. Aber schon bald brach sie diese Arbeit ab, um sie nie wieder
aufzunehmen.
Im Gegensatz zu Simone Weil wollte Florence Nightingale, mochte sie auch
Luxus verabscheuen, nie das Leben einer Armen führen. Stets war es ihr
selbstverständlich, von Dienstboten umgeben zu sein. Im Gegensatz zu Simone
Weil hatte Florence Nightingale ihr ganzes Leben nie das geringste Problem
damit, dass sie von ihrer Familie ausgehalten wurde. Ihr Haushalt wie ihre
zahlreichen Projekte verschlangen ein beträchtliches Vermögen. Viele ihrer
Denkschriften ließ sie auf eigene Kosten drucken. Sie kleidete sich nie
ärmlich, sondern achtete auf eine standesgemäße Kleidung. Empfing sie in
einem schwarzen Seidenkleid auf ihrem Ruhebett liegend Besucher, so trug sie
um den Kopf einen feinen weißen Schleier oder ein Stück echter Spitze. „Eine
Dame darf nur echte Spitze tragen.“ Simone Weil ist es dagegen nie gelungen,
aus der Berufung, aus der selbstbehaupteten Mission, „ihrem“ Programm,
auszusteigen. Von Florence Nightingale hätte sie nicht nur dies lernen
können. Womöglich ist der wesentlichste Unterschied darin zu sehen, dass
Florence Nightingale selbst während ihrer schlimmsten Zeiten immer noch über
Witz und Ironie verfügte, einen lebhaften Sinn für das Komische hatte.
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