Je reicher wir in einer Konsumgesellschaft werden, desto mehr wird uns
bewußt, wie viele Wertstufen – der Muße und der Arbeit – wir erklommen
haben. Je weiter oben auf der Pyramide wir uns befinden, desto weniger
wahrscheinlich ist es, daß wir für einfache Muße Zeit opfern werden und für
scheinbar unproduktive Beschäftigungen. Die Freude daran, dem Finken in der
Nachbarschaft zu lauschen, wird schnell getrübt durch Stereoaufnahmen des
„Vogelgesangs dieser Welt“, der Spaziergang durch den Park verliert an Wert
angesichts der Vorbereitungen auf eine vogelkundliche Pauschalreise in dem
Dschungel.
Ivan Illich,Selbstbegrenzung, 1975
Kaum habe ich mit der Sammlung meiner langen Träume begonnen, so fühle ich
schon, daß sie bald zu Ende geht. Ein anderer Zeitvertreib löst sie ab,
beschäftigt mich ganz und gar und läßt mir nicht einmal mehr die Zeit zum
Träumen. Ich überlasse mich ihm mit einer Begeisterung, die etwas
Überspanntes hat und mich selbst zum Lachen bringt, wenn ich darüber
nachdenke; doch überlasse ich mich ihm deshalb nichtsdestoweniger, denn in
meiner gegenwärtigen Lage habe ich keine andere Richtschnur für mein
Betragen als die, in allem ungehindert meinen Neigungen nachzugehen. Ich
kann nichts für mein Schicksal, habe nur unschuldige Neigungen, und da mir
das Urteil der Menschen fortan nichts mehr gilt, so fordert es die Klugheit
selbst, daß ich in den Dingen, die in meiner Macht liegen, alles tue, was
mir gefällt, sowohl öffentlich als im stillen für mich, ohne mich einer
anderen Richtschnur als der meiner Einfälle und eines anderen Maßes als der
wenigen Kräfte zu bedienen, die mir übrig sind.
Jean-Jacques Rousseau, Siebenter Spaziergang
Die Mistel ist in unserer unmittelbaren Umgebung auf alten Bäumen sehr
häufig zu finden. Wir haben es mit einem kugelförmig gewachsenen,
immergrünen Strauch zu tun, der meist auf weichholzigen Laub- und
Nadelbäumen siedelt. Als Halbschmarotzer bezieht die Mistel durch ihre
Saugwurzeln von ihrem Wirtsbaum Wasser und Nährsalze. Misteln assimilieren
und können so selbst Kohlehydrate aufbauen. Wird ein Baum von Misteln
übermäßig befallen, so wird ihn dies über kurz oder lang schwächen. Da die
Mistel nur im Astwerk von Bäumen gedeiht und verglichen mit anderen Pflanzen
jährlich nur eine vergleichsweise geringe Anzahl von Samen produziert,
bedarf sie einer ausgeklügelten Verbreitungsstrategie. Die weißen Beeren,
sie enthalten einen oder zwei von schleimig-klebrigem Fruchtfleisch umgebene
Samenkerne, reifen erst im Winter. Sie zählen zum Futterangebot mancher
Vögel. Fressen Misteldrosseln die Beeren, passiert der Samenkern unbeschadet
den Verdauungstrakt. Dieser bleibt bei der Ausscheidung am After des Vogels
hängen und muss abgestreift werden. Andere Vögel fressen nur das
Fruchtfleisch der Beere. Sie versuchen sich durch Schnabelwetzen des
klebrigen Samens zu entledigen. In beiden Fällen bleibt der Kern mit großer
Wahrscheinlichkeit an einem Ast haften.
Im Gegensatz zu Tieren sind Pflanzen in unserem Bewusstsein zutiefst als
sesshaft verankert, verwurzelt, nicht zur Fortbewegung befähigt. Tatsächlich
sind auch Pflanzen höchst nomadisch, wenngleich sie sich nur mit Hilfe von
Samen oder Ablegern fortbewegen können. Die botanische Bezeichnung für Samen
lautet Diasporen. Dies bringt ihre diesbezügliche Fähigkeit besser zum
Ausdruck. Der Begriff leitet sich aus dem griechischen diaspeírein ab, was
so viel wie „zerstreuen, ausstreuen“ bedeutet. Vermöchten wir einen Garten
oder eine Landschaft im Zeitraffertempo zu betrachten, so würden wir
erkennen, dass Pflanzen höchst mobil sind, keineswegs an den Standort
gebunden. Unsere irrige Einstellung mag auch damit zu tun haben, dass wir
ihnen Identitäten unterstellen, die sie so nicht haben. Wir sprechen von
dieser oder jener Pflanze, bemessen ihre Existenz als Zwischenstadium von
keimendem Samen und ihrem offensichtlichen Absterben, ohne zu sehen, dass
wir es nur mit einem Ausschnitt einer Daseinsform zu tun haben.
Die Samen einer Vielzahl von Pflanzen werden durch Tiere verbreitet. Eine
der einfachsten Formen findet sich dort, wo Vögel Samen aus Früchten oder
Fruchtkapseln picken und so in der unmittelbaren Umgebung verstreuen.
Freilich ist hier die Ausbreitungsdistanz gering. Wesentlich größer ist
diese, werden die Samen gefressen und Stunden später an oft weit entfernten
Stellen ausgeschieden. Allerdings müssen dabei die Samen die Passage durch
den Magen-Darm-Trakt unbeschadet überstehen. Dies gilt nicht nur für
Steinobst, sondern auch für viele andere Samen, die von weidenden Tieren mit
dem Futter aufgenommen und so verbreitet werden. Manche Samen müssen
Tiermägen durchwandern, um keimen zu können. Erst wenn die Magensäure die
Samenschale durchlässig gemacht hat, kann Wasser eindringen, was eine
Voraussetzung einer Keimung ist. Freilich können die Kerne auf völlig
unfruchtbarem Boden landen, etwa auf einer geteerten Straße. Während manche
Pflanzen zufällig von Tieren verbreitet werden, machen andere geradezu
Werbung für ihre Samen, etwa durch ein süßes Fruchtfleisch mit einer
auffallenden Oberfläche. Vögel reagieren auf auffällige Farben wie ein
kräftiges Rot oder ein glänzendes Schwarz; Säugetiere werden über den Geruch
angelockt. Das Fruchtfleisch dient dabei als Lockmittel.
Die Ausbreitungsökologie der Pflanzen kennt eine Vielzahl höchst
spezialisierter Techniken. Zu Pflanzen wie der Mistel, deren Samen von einer
klebrigen Substanz umgeben sind, fügen sich andere Hafttechniker. Samen oder
Samenkapseln von Kletthaftern sind mit Haken ausgestattet. Bleiben sie am
Fell eines Tier haften, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, in weiterer
Entfernung wieder abgestreift zu werden. Als bekanntes Beispiel sei die
Klette genannt. Die Herbstzeitlose verwelkt nach der Bestäubung rasch. Der
Fruchtknoten überwintert im Boden, um dann im Frühjahr eine auffallend große
Fruchtkapsel zu bilden. Ihre klebrigen Samen bleiben an den Hufen oder
anderen Stellen verschiedener Tiere haften und werden an anderen Orten
abgestreift. Als besonders reizvolle Beispiele ausgeklügelter
Verbreitungstechniken sind Spreng- und Flugkünstler zu nennen. Trocknen die
Fruchtkapseln der kreuzblättrigen Wolfsmilch in der Sonne, so platzen sie
plötzlich mit einem gut vernehmbaren Knall und verstreuen ihre Samen im
näheren Umfeld. Viele Pflanzen setzen auf den Wind. Ihre Samen kennen
Anhängsel, die an Propellor, Fallschirme oder Flügel erinnern. Der Ahorn ist
den Dreh- und Schraubenfliegern zuzuordnen, die Birke den Scheiben- und
Segelfliegern, der Löwenzahn den Schirmchenfliegern. Es finden sich auch
Ballonflieger. Zum Wind fügt sich das Wasser. Manche Samen sind zu diesem
Zweck mit einer Art Schwimmballon ausgestattet. Als besonders primitive Form
einer Ausbreitungsstrategie seien Plumpsfrüchte genannt. Sie fallen wie die
Rosskastanie einfach zu Boden, kollern im besten Fall einen Abhang hinab
oder werden bei einem Unwetter durch Regenwasser oder andere Einwirkungen
zumindest eine geringe Distanz fortgetragen.
Manche Pflanzen verbreiten sich auch auf ungeschlechtlichem Weg mit Hilfe
von Ablegern oder Ausläufern. Ackerschachtelhalme etwa bilden ein weit
verzweigtes Wurzelgeflecht, welches an anderen Stellen wieder austreibt. Wer
Schachtelhalm in seinem Garten hat, weiß, dass es sich dabei um ein sehr
effizientes System der Ausbreitung handelt. Eine Vielzahl von Pflanzen
bilden Wurzelsprosse, Brutknöllchen oder Zwiebeln. Die
Ausbreitungsgeschwindigkeit eines Schachtelhalms, dessen Wurzeln sich durch
einen festen Lehmboden arbeiten müssen, hält sich zwangsläufig in Grenzen.
Diese ist etwas höher, bilden sich Ableger wie bei der Brombeere aus
oberirdischen Trieben. Liegt der Trieb am Boden auf, schlägt er Wurzeln.
In der Ausbreitungsökologie spielen Zufälle eine Große Rolle. Als
diesbezüglich gutes Beispiel sei die „Speicherverbreitung“ genannt. Wie
Mäuse legen auch Eichhörnchen oder andere Tiere Futtervorräte an. Manche
dieser Depots werden nicht mehr gefunden. In solchen Depots können sich
Eicheln, Nüsse oder unterschiedliche Kerne finden. Wir haben es unter den
Verbreitungstechniken mit einer höchst unspezialisierten Variante zu tun,
mit einer relativ „teuren“ Ausbreitungsart, wird doch der größte Teil der
Samen gefressen. Andererseits finden Samen, werden sie unter lichtem Astwerk
oder Blättern deponiert, ideale Bedingungen, um im Frühjahr auszutreiben.
Mögen viele Pflanzen noch so ausgeklügelte Verbreitungsmechanismen kennen,
so haben wir es doch oft mit einem Mix an Strategien zu tun. So spielt für
die Verbreitung des Veilchens nicht nur ein Schleudermechanismus eine Rolle.
Auch Ameisen sind an dessen Verbreitung beteiligt. Die Samen sind mit einem
fetthaltigen Anhängsel ausgestattet, welches von Ameisen, die die Samen
verschleppen, verzehrt wird. In Europa gibt es 130 verschiedene Arten von
Pflanzen, die wie das Schneeglöckchen oder das Veilchen durch Ameisen
verbreitet werden. Ist der Fruchtknoten des Schneeglöckchens ausgereift,
senkt sich der Blütenstängel nach unten, der Fruchtknoten platzt auf und die
Ameisen machen sich über die Samen her und verteilen sie im Umfeld. Der
Erfolg der all hier genannten Ausbreitungstechniken verdankt sich in den
meisten Fällen einer geradezu verschwenderischen Produktion von Früchten und
Samen, von denen der Mensch viele seit Jahrtausenden für eigene Bedürfnisse
zu nutzen weiß. Ob wir Brot oder Nudeln essen, den Salat mit Oliovenöl
anmachen oder ein biospritbetriebenes Fahrzeug benutzen, trotz aller
Kultivierungstechniken verdankt sich dies einer verschwenderischen
Diasporenproduktion.
Auch der Mensch spielt in der Diasporenökologie eine große Rolle. Vielfach
verbreitet er Pflanzen bewusst, zum Beispiel durch Kultivierung. Im
Zeitalter der Kanalisation scheidet er für „Darmwanderer“ allerdings
weitgehend aus. Der moderne Mensch entleert sich nicht gerne in freier
Natur. Diesbezüglich wäre eine Untersuchung der Vegetation im Umfeld von
Rastplätzen stark befahrener Straßen nicht ohne Erkenntniswert. Auch für die
Verbreitung von Pflanzen, die sich in ihrer Verbreitung diverser
Hafttechniken bedienen, ist er von untergeordneter Bedeutung. Sollte der
heutige Mensch das Gebüsch nicht scheuen, so wird er seine Kleider an Orten
reinigen, die in der Regel als ungeeignete Habitate zu betrachten sind. Und
dennoch tragen wir unbewusst zur Verbreitung vieler Pflanzen bei. Dies
beginnt bereits dort, wo wir für unseren Garten in einer Gärtnerei Setzlinge
oder Stauden kaufen. Mit dem Erdreich, das den Wurzelballen umgibt,
transportieren wir zwangsläufig auch eine Vielzahl von Keimen, die sich
nicht selten als lästige Unkräuter erweisen.
Vom Flug-, Auto- bis hin zum Schienenverkehr finden sich zahllose
pflanzliche Trittbrettfahrer. In der globalisierten Welt von heute, in der
Äpfel und Trauben aus Südafrika oder anderen weit entfernten Ländern zu den
Selbstverständlichkeiten unserer Supermärkte zählen, erstaunt es nicht, dass
auch viele exotische Pflanzen bei uns heimisch werden. Von heimisch kann man
dann sprechen, gelingt es ihnen, der Obhut des Menschen und seiner Gärten zu
entkommen. Das Springkraut oder der Riesenbärenklau seien als Beispiele
genannt. Es gibt selbst Pflanzen, deren Verbreitung sich einzig dem Menschen
verdankt. So ist Mais außerhalb des kontrollierten Anbaus nicht vermehrungs-
und fortpflanzungsfähig. Mais gilt deshalb als „absolute“ Kulturpflanze.
Wir assoziieren Natur mit „unberührt“. Abseits menschlicher Eingriffe
gedeihe sie am besten. Allein ein Blick auf unterschiedliche
Kulturlandschaften genügt, um zu sehen wie unzutreffend dies ist. Werden
etwa Magerwiesen nicht mehr gemäht, wird manche Pflanze, die unter
Naturschutz steht, innerhalb weniger Jahre verdrängt. Kommen Fichten auf,
und sei es durch Anflug, dann wird etwa die Trollblume innerhalb kürzester
Zeit verschwunden sein. Andererseits können für manche Pflanzen selbst
Verkehrsinseln gute Standorte sein. Besonders gut dokumentiert ist die
Vegetation an Bahntrassen. Manche der hier siedelnden Pflanzen werden durch
den Fahrwind vorbeifahrender Züge weiterverbreitet. Ob es sich um
natürlichen oder künstlichen Wind handelt, Pflanzen fragen nicht danach.
Der Mensch der Zukunft, befreit von den Bindungen, die Ackerbau und
Viehzucht abverlangten, wird ein nomadisches Leben führen, zwischen den
Wasserlöchern möglichen Gewinns frequentieren. Dabei wird er nicht selten
die Erfahrung machen, dass manches Wasserloch bereits ausgetrocknet ist, ehe
er es erreicht hat. Im Gegensatz zu den nomadisierenden Pflanzen kann er
sich andere Wasserlöcher oder nährstoffreiche Wiesen suchen. Pflanzen sind
uns allerdings zweifellos dort überlegen, wo viele Samen erstaunlich lange
Perioden von Trockenheit oder auch extremer Kälte zu überdauern vermögen.
Mit großer Wahrscheinlichkeit wird es auch dann noch Pflanzen geben, wenn
der Mensch von der Erde verschwunden sein wird, und dies selbst dann, wenn
er diese verödet zurückgelassen hat. In unseren Vorstellungen scheinen Beton
und Teer sehr undurchlässig. Wir vergessen allerdings, dass wir in sehr
kurzen Zeiträumen denken. Es bedarf nur weniger Jahre, bis die ersten
Pflanzen asphaltierte Flächen aufgelassener Fabriken durchbrechen.
Man muss weder Botanik, noch Biologie studiert zu haben, um sich mit der
Ausbreitungsökologie der Pflanzen zu beschäftigen. Als technische Behelfe
dienen Lupe, Pinzette, eine Schere wie ein Botanisiermesser. Bei der
Berührung mancher Pflanzen sind Einmalhandschuhe zu empfehlen. Dann eine
Serie von Sieben mit unterschiedlicher Maschendichte, zum Aufbewahren
Gläser, Petrischalen oder auch Plastiktüten mit Verschlussstreifen. Dem
neugierigen Laienbotaniker sei empfohlen, biologisches Vokabular möglichst
zu meiden und statt dessen eigene Beobachtungen zu machen. Man kann etwa
Samen reifer Mistelbeeren an Ästen unterschiedlicher Bäume abstreifen und
beobachten, ob und wie sich diese in den nächsten Jahren entwickeln. Bei den
Flugkünstlern der Pflanzenwelt lohnen sich neben Flugversuchen Beobachtungen
unter der Lupe, um ihre oft erstaunlichen Konstruktionen zu betrachten. Es
lassen sich ausgefeilteste Konstruktionen bewundern, angesichts derer die
Fluggeräte moderner Technik reichlich plump erscheinen mögen. Es finden sich
allerdings auch so winzige Samen, dass man eines feineren Instrumentariums
als einer Lupe bedarf, um sich an ihrer Schönheit und Perfektion zu erfreuen.
Es lohnt sich, unterschiedlichste Sämereien zu sammeln und zu dokumentieren,
also Fundort, Jahreszeit oder anderes festzuhalten, Notizen mit Zeichnungen
und Skizzen zu ergänzen. Zeichnen zwingt zu einer genaueren Betrachtung. Der
ästhetische Reiz solcher Zeichnungen ist dabei von untergeordneter
Bedeutung. Samen sind enorm vielgestaltig, manchmal sind sie – wie die des
Tabaks – geradezu winzig. Hat man einen Teelöffel von kleinsten Samen
zusammengetragen, kann man von einem wirklichen Glücksgefühl überfallen
werden. Neugier und Geduld sollen den Laienbotaniker ausmachen. Verfügt er
darüber, wird mag er unterhaltsame und erstaunliche Entdeckungen machen, die
professionellen Botanikern zwar bekannt sind, in der Literatur aber kaum
Erwähnung finden, er kann Entdeckungen machen, die in der wissenschaftlichen
Botanik ohne jede Bedeutung sind und deshalb unbeobachtet bleiben.
Laienbotaniker sind schlecht beraten, sich in Konkurrenz mit universitär
ausgebildeten Biologen zu begeben, und dies auch dann, wenn einzelne zu
nennen sind, die diesbezüglich durchaus erfolgreich sind. Einzig Lust und
Neugier zählen, im besten Fall eine Begabung, in Strukturen zu denken, etwa
in Hasenkot mehr zu sehen als einfach eine tierische Ausscheidung. Es gilt,
vielfältigste Bezüge herzustellen, Verhaltensformen von Tieren ebenso
mitzudenken wie etwa Techniken von Pflanzen, sich auszubreiten. Die
Ausbreitungsökologie der Pflanzen kann dazu anregen, sich mit dem Verkehr,
der Globalisierung oder vielen anderen Phänomenen unserer Welt zu befassen.
Freilich darf man das gesellschaftliche Leben nicht biologistisch erklären.
Die Diasporenökologie lässt sich nicht auf die Mobilität von Menschen
übertragen.
Wer immer sich mit Diasporenökologie beschäftigt, ist zu regelmäßigem und
langem Gehen angehalten. Die Sämereien sehr vieler Pflanzen lassen sich nur
innerhalb sehr kurzer Zeit sammeln. Man muss sich also mit dem
Reifungsprozess befassen, einzelne Pflanzen wiederholt aufsuchen. Versäumt
man den idealen Zeitpunkt, dann können die Samen bereits ausgefallen oder
auf andere Weise verloren sein. Auf jeden Fall wird man, kehrt man von einer
botanischen Wanderung, die einen an Wegränder, Ackerraine, Brachen oder auch
auf Deponien geführt hat, mit einer mit unterschiedlichen Pflanzen gefüllten
Tasche zurück, zahllose Kleinlebewesen mitbringen, Insekten in
unterschiedlichsten Entwicklungsstadien, kleine und große Spinnen,
Schnecken, Zecken und so fort. Man wird rasch die Erfahrung machen, dass
unabhängig vom Sammelort ein und dieselbe Pflanze oft genug von ein und
denselben Insekten besiedelt wird. Mit jeder Pflanze, mit der man sich über
mehrere Wochen beschäftigt, erschließt sich eine Welt höchst komplexer
Wechselwirkungen, die man freilich nur ausschnitthaft und in groben Zügen zu
erfassen vermag.
Die gesammelten Diasporen lassen sich auf höchst unterschiedliche Weise
ordnen: alphabetisch, nach ihrer Farbe, nach ihrer Größe, nach ihren
Verbreitungstechniken, nach Familien und Verwandtschaften, nach den Farben
der Blüten, nach ihren Standorten, nach der Reifezeit, nach der Häufigkeit
ihres Vorkommens, nach Insekten, von denen sie besiedelt werden, nach völlig
anderen Ordnungen, solchen, die der Architektur, der Kunst oder Literatur
entlehnt sein können.
Das Gelände im Umfeld des Museums ist für diese Beobachtungstätigkeit ideal.
Intensiv bewirtschaftete Wiesen, die mehrfach gemäht und reichlich gedüngt
werden, auf denen neben einigen Gräsern vor allem Klee,
Wiesenstorchenschnabel, Hahnenfuß, Spitzwegerich und Ampfer wachsen,
wechseln sich mit Wiesen, die als Schafweiden dienen. Etwas höher befinden
sich die ersten Magerwiesen, die nur einmal im Jahr gemäht werden und die
eine große Vielfalt von Pflanzen kennen. Dazu fügen sich Waldstücke mit
unterschiedlichem Baumbestand in Sonn- und Schattenlagen, Feuchtgebiete.
Auch eine Deponie mit Aushubmaterial ist vorhanden. Hier kommt manche
Pflanze auf, die sich üblicherweise in Ziergärten finden. Schließlich ein
Garten.
In seinen letzten Lebensjahren begann sich Jean-Jacques Rousseau wieder mit
Botanik zu beschäftigen. Da er seine diesbezügliche Literatur verkauft und
die von ihm angelegten Herbarien weggegeben hatte, musste er nahezu von
vorne beginnen. Sein Alter bedenkend, begann er mit den einfachsten
Pflanzen, mit dem Springkraut, dem Kerbel, dem Borretsch oder dem
Kreuzkraut. Rousseau, dessen Texte heftige Diskussionen ausgelöst hatten,
suchte am Ende seines Lebens wieder Trost in einfachen Beobachtungen. Das
Sammeln von Muscheln gefiel ihm ebensowenig wie die Mineralogie oder
Zoologie. Er verlegte sich auf das Botanisieren, um das Weltgebäude, welches
er umarmen wollte, in seinen Einzelteilen zu betrachten. Dem Nomadischen der
Pflanzen entsprechend, blickte er dennoch weit über die Ränder des
Botanisierens hinaus. Und so ist es denn auch nicht erstaunlich, dass er in
vermeintlicher Abgeschiedenheit, den Zahnwurz heptaphyllos, das
Alpenveilchen, die Orchidee nidus avis, das breitblättrige laserpitium oder
andere Pflanzen betrachtend, auf ein klapperndes Geräusch aufmerksam wurde
und, diesem Klappern folgend, unvermittelt in einer Strumpfmanufaktur stand.
Bernhard Kathan 2009