"Meine Pappkameraden"
Ein Projekt von Roland Albrecht.




Ich kann mich gut an den 9. Mai 1976 erinnern, also an jenen Tag, an dem bekannt wurde, dass Ulrike Meinhof sich erhängt hatte. Ich kann mich selbst an die WG erinnern, die ich damals besuchte, an die Leute, die damals in dieser Wohnung anwesend waren (längst habe ich sie alle aus den Augen verloren), an Meinhofs Bild auf der Titelseite. Es war eine schockierende Nachricht. Es war, als hätte sich jemand das Leben genommen, den wir alle gut kannten. Heute sind für mich die damaligen Gefühle unverständlich. Heute interessiert mich weniger die Person der Ulrike Meinhof (sie fungiert hier als Beispiel) als ihre mediales Konstrukt, welches ohne Projektionen und Erwartungshaltungen undenkbar gewesen wäre. Erstaunlich allein die unterschiedlichsten Rollen, die ihr zugedacht wurden, die der Täterin, der Terroristin, die des Opfers, die eines Ungeheuers, die einer Heiligen und so fort. Andreas Baader kannte diese Vielfalt nicht.

Rückblickend hat sich Roland Albrecht in seinem Projekt "Meine Pappkameraden" mit solcher Verhäuslichung beschäftigt. Durchgehend bezieht er sich dabei auf Personen, die für ihn in den späten 60er und frühen 70er Jahren wichtig waren. In dem von ihm zusammengestellten Kabinett treten etwa auf: Simone de Beauvoir, Thomas Bernhard, Che Guevara, Rudi Dutschke, Sergei Eisenstein, Robert Filliou, Sigmund Freud, Bernhard Grzimek, John F. Kennedy, Timothy Leary, John Lennon, Mao-Tsê-tung, Karl Marx, Sun Ra, Frank Zappa, andere. Ikonen zwar, aber sie schrumpfen auf Wohnzimmerformat, zugerichtet für den häuslichen Gebrauch, nichts als scherenschnittartige Figuren, Pappkameraden eben.

Roland Albrechts Pappkameraden sind buchstäblich aus Papier und Karton ausgeschnittene, aus der eigenen Geschichte herausgeschnittene Figuren: "Nun schaute ich in mich hinein und fand sie alle beisammen stehen, sah sie sich peinlich in die Ecken verdrücken, manche noch immer stolz ihr Haupt erheben. Bei einigen war es komisch, sie wieder zu treffen, aber auch die Peinlichkeit, der Fehlgriff, der Versuch gehören dazu. Was mich bei der ganzen Arbeit aber am meisten überraschte war, dass ich, bis auf eine Person, keine einzige persönlich kennen lernen möchte. Sollen sie doch bleiben, was sie sind, Pappkameraden, und sollen sie mich doch weiter belehren und mir dienen als Leinwand für die Projektionen."

Roland Albrecht nennt sein Projekt einen "biographischen Versuch". Mit biographischer Selbstanalyse haben seine Pappkameraden freilich wenig zu tun. Handelte es sich um eine solche, dann wäre etwa nach jenen zu fragen, die einmal wichtig waren, nun aber in seinem Kuriositätenkabinett der Versprechungen fehlen, Adorno etwa. Vielleicht sollte der Untertitel anders lauten, nämlich: Enttäuschungen. Denkt man an die damaligen gesellschaftspolitischen Hoffnungen, dann ist die Bilanz mehr als ernüchternd. Vorstellungen einer besseren Gesellschaft sind uns abhanden gekommen. Wir sind zu Kunden geworden, bestens durch den Kapitalismus sozialisiert. Und zu allem Überdruss wissen wir heute, dass wir bereits damals Konsumenten waren, als wir uns mit Büchern eindeckten, die eine bessere Welt versprachen. Wir mussten zur Kenntnis nehmen, dass sich all das, was heute als gesellschaftspolitischer Fortschritt gefeiert wird, sich nicht einer wie immer gearteten Politik, sondern dem Kapitalismus verdankt. Zweifellos hat Justus Liebig mit seinem Fleischextrakt die Welt nachhaltiger verändert als Karl Marx. Würde Ulrike Meinhof noch leben, sie wäre längst aus der Haft entlassen. Würde sie heute in Talkshows auftreten? Und wenn, was würde sie sagen?

Auch Ulrike Meinhof findet sich unter Roland Albrechts Pappkameraden: "Ulrike Marie Meinhof (1934 - 1976), Journalistin und Gründungsmitglied der Roten Armee Fraktion. Sie war anfangs so etwas wie der bewaffnete Arm der Opposition, selbst getrieben und getrieben worden. Sie machte mir auch Angst, wie weit einen die Verzweiflung an den gegebenen Umstände treiben kann. Sie war mit ihrem radikalen Schritt, den sie auch stellvertretend für mich machte, eine große Sympathieträgerin, auch wenn ich an dem Erfolg ihres Tuns zweifelte. Diese rigide Moral, die hinter ihr steckte, war meiner katholischen Seele fremd, bei aller Identifikation."

Bernhard Kathan, 2008


Nachtrag 1.:
Unter Pappkameraden versteht man aus Blech oder Holz ausgeschnittene Figuren mit menschenähnlichen Umrissen, auf die zu Übungszwecken geschossen wird. Roland Albrechts Pappkameraden sind zwar ausgeschnitten, aber diesem Zweck dienen sie nicht. Wir haben es mehr mit einer Requisitenkammer der Vergangenheit zu tun.

Nachtrag 2.:
Roland Albrechts Pappkameraden in die Sommerfrische, in eine Art groteske Zwangsgemeinschaft schicken, zudem noch an einen Ort im Gebirge, wo die Menschen in den 60er und 70er Jahren noch ganz andere Probleme hatten (zweifellos zählte jeder Kuhfladen mehr als jedes Buch), das ist schön. Vielleicht erleben sie hier eine Verjüngungskur, sei es dadurch, dass der eine oder andere Text wieder, und zwar auf ganz andere Weise gelesen wird.


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