Die hundertsechs Augen Gottes. Ein blaues Auge. Das Auge eines Zyklopen.
Noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen. Als erstes gilt es, das
Auge aus dem endlosen Raum zu holen. Als Ort sei ihm der Winkel zugewiesen,
ein Winkel in einem Haus, eine Ecke in einem Zimmer, in dem man sich gern
verkriecht, sich in sich selbst zusammenzieht. Der Winkel ist eine Art
Kastenhälfte, halb Wand, halb Tür. Hier soll das Auge sicher sein, vor allem
sehen. Der Winkel als letzter Fluchtpunkt, um sich vor Schlägen zu schützen.
Sich in einem Winkel verbergen, sich unsichtbar machen. Und dann das Kind,
zur Strafe in einen Winkel gestellt, mit dem Gesicht zur Wand. Beginnt das
Kind die Mauer zu lesen, die Spuren, die kleine Fingernägel in der Wand
hinterlassen haben, wirkt der Winkel wie ein Vergrößerungsglas. Der Winkel
hat seine Sogkraft wie das Auge eines Zyklopen, das Gottesauge. Wein gegen
Essen tauschen. Die Höhle des Polyphem, gefüllt mit Lämmern und Käse. Das
Auge des Zyklopen, ein zweiter Mund, eine verschlingende gefräßige Höhle.
Auge und Mund sind nicht voneinander geschieden. Mit offenem Auge schlafen.
Eine mächtige Keule aus grünem Olivenholz. Tief in das Auge bohrt sich der
brennende Pfahl. Es prasselt, das erlöschende Auge zischt wie heißes Eisen
im Wasser. Tränen rollen an den Wangen herab und mit beiden Händen drückt er
sich den Purpurmantel fest vor die Augen. Augen machen wie ein gestochenes
Kalb. Die schwarzen samtenen Augen des Kälbchens sind plötzlich sehr groß,
stehen still, sind weiß umrandet, jetzt drehen sie sich zur Seite. Ja, so
blicken die Tiere, aber wir haben heute noch so viel zu tun. Der Kopf
zittert am Fell. Der Körper auf der Bank wirft sich. Die Beine zucken,
stoßen, kindlich dünne, knotige Beine. Aber die Augen sind ganz starr,
blind. Es sind tote Augen. Das ist ein gestorbenes Tier. Betrübt dich mein
ausgebranntes Auge? Dann leih mir dein Auge, sage mir, in welchem Winkel
sich der Frevler verbirgt. Spritzt sein Gehirn von der Höhlenwand, so wird
mein Herz wieder froh. Namen sind gleichgültig. Der Herr von Pappe. Eines
Tages verliert er sein eines Auge, und es ist blau, weil er blaue Augen hat.
Und wie er es auch überall sucht, er findet es nicht wieder. Könnte man doch
die Augen, um sie zu schonen, wie Glasaugen herausnehmen. Wer wieder sehen
will, braucht sich die aufbewahrten Augen einfach nur wieder einzusetzen.
Verliert jemand seine Augen, so bedient er sich geliehener. Das blaue Auge
aber hat ein bildschönes Mädchen gefunden. Sie betrachtet es heimlich, und
da es blau ist, gefällt es ihr zu gut. Darum nimmt sie ihr eigenes, ein
braunes Auge, heraus und setzt dafür das gefundene blaue ein. Und Sie
glauben es gar nicht, was sie da plötzlich alles sieht mit dem blauen Auge:
dass zum Beispiel die jungen Mädchen Kleider anhaben, aber sie möchte mehr
sehen, denn es ist ein Männerauge. Darum ärgert sie sich mit ihrem einen
blauen Auge, dass die Mädchen Kleider anhaben; aber mit dem anderen braunen
Auge schämt sie sich, solch ein Mädchen zu sein. Das ist zu komisch. Endlich
hat sie sich sattgesehen und sich sattgewundert und will das blaue Augen
wieder herausnehmen, um ihr eigenes braunes wieder einzusetzen; aber es geht
nicht, denn das blaue Auge ist zu groß und hat sich festgeklemmt. Das ist
ins Auge gegangen. Die Welt mit den Augen eines Stieres sehen. Das Grün der
Wiese rot wie Blut. Was gelb war, hat sich zu einem Violett gewandelt, mit
einem Stich wie ins Zinnoberische. Die Kühe auf der Weide sind lieblich
anzusehen. Das machen die Stieraugen. Wer versucht, den Verlust seines Auges
durch ein auf Pappe gemaltes Auge zu kaschieren, sollte nicht vergessen, ein
Glanzlicht darauf zu setzen. Sonst kommt der Betrug ans Tageslicht. Herr von
Pappe ist im Besitz des braunen Mädchenauges. Kaum hat er es eingesetzt,
schwärmt er für Schauspieler, Tenöre und Zahnärzte, und weil es ein
Mädchenauge ist, blickt er schamhaft an jedem Mädchenkleid herunter, wird
mit seinem braunen Auge alle Augenblicke rot. Mit seinem blauen empfindet er
gänzlich anders. Und da möchte Herr Pappe sein blaues Auge gar nicht gern
zurück tauschen, sondern lieber das braune zu Studienzwecken behalten.
(Runde Kugeln innen glatten Schleim sprangen aus die Augen sanfte Hände ...)
Und werden die beiden zum Paar, so sieht der eine immer mit dem Auge des
anderen. Augen in fremden Körpern, Augen am falschen Ort. Ein drittes Auge
im Nacken, zwischen zerbrechlichen Wirbeln, ein weit geöffnetes wahnsinniges
Auge mit einer sich weitenden Pupille und einem rosa Geäder auf dem
glänzenden Apfel. Auge nennt man auch den Triebansatz beim Propfen:
Oculieren. Seine Augen aus den Augenhöhlen herausnehmen und einige
Zentimeter vom Kopf entfernen. Da gehöre nur eine gewisse Willenskraft dazu,
Überwindung des unangenehmen Gefühls beim Berühren des Augapfels. Doch
drücke man nicht zu stark, könnte doch das Auge mit dem Fingernagel verletzt
werden. Man umwickle den Zeigefinger mit einem weichen Tuchlappen und setzte
ihn an der Nasenecke an, den ebenfalls umwickelten Daumen von der Schläfe
aus, drücke energisch, und "kllltsch" ... Der Sehnerv und die verschiedenen
Muskeln geben wie Gummi nach. Mag sich zu Beginn auch ein unbehagliches
Kältegefühl bemerkbar machen, so ist die Operation doch völlig schmerzlos.
Das Auge um den Kopf herum führen, Nacken und Ohr betrachten, sich aus der
Vogelperspektive beschauen, die Mundhöhle ein wenig inspizieren, das Auge in
den weit geöffneten Mund stecken, da wird das Zäpfchen sichtbar, Gott, wie
nett!, etwas weiter vorgeschoben, da ist der Kehlkopf zu sehen: "flitsch"
... Die Augen werden auf einem Teller mit Messer und Gabel serviert. Die
Speiseröhre, ein trautes, rötliches Halbdunkel. Das Auge, weitergeschoben
von leichten, wiegenden Bewegungen. Das stampfende Ding links muss das Herz
sein, die große rasselnde und pustende Sache, die fast den ganzen Brustkorb
anfüllt, wohl die Lunge. Ein gewaltiges Toben und Arbeiten hier drinnen, wie
in der Halle eines modernen Fabrikbetriebes. Da gibt es viel zu staunen.
Aber dann ein heftiges Sauggefühl und eine stechende Schärfe. Glatt
schleimen Austern Augen senken Magen ... Und schließlich hat das Auge eine
neue Wohnstatt gefunden. Gerahmt von Hämorrhoiden hängt es am After. Das
prädestiniert zum Schausteller. So lässt sich gute Münze machen. Augen, die
sich flüchtig gemacht haben, die in den Kronen hoher Bäume sitzen,
herausgeschnittene Augen, nicht nur von Tieren, auch von Menschen. (Kurt
Schwitters / Gaston Bachelard / Alfred Döblin / Hermann Harry Schmitz /
Georges Bataille / Maurice Renard / Laurence Manning / Wladimir Odojewski /
... und andere.) Stich der Katze doch die Augen aus, ich habe meine
verloren. Eine Schale mit kleinen runden Früchten gefüllt, mit Kugeln,
Menschenaugen, abgetrennt vom Sehnerv. - Siehst du das Auge? - Ja, und? - Es
ist ein Ei. - Worauf willst du hinaus? - Ich will mich damit amüsieren. Das
Auge eines toten Priesters. Man hat doch in seiner Brieftasche eine kleine
Schere. Die kleine weiße Kugel in ihrer Hand. Das Auge in der Spalte ihrer
Hinterbacken, dann tief hineingeschoben in den Hintern. Das blassblaue Auge
starrt aus der behaarten Vulva, Tränen von Urin vergießend. Machtlos blickt
es aus jenen Körperstellen, die zu betrachten Gott verbot. Eine radikalere
Verwerfung des alles sehenden göttlichen Auges ist nicht zu denken. Eine
Schachtel öffnen, ein Auge sorgfältig herausnehmen, um zu sehen, ob es noch
ganz sei. Ein Auge aus Wachs und Glas, das sich zerlegen lässt, um den Bau
des menschlichen Auges zu erklären: "Das ist das wahre Auge Gottes!" Das
Auge als Schatulle. Eine goldene Busennadel, ein paar Ringe, eine Haarlocke,
Liebesbriefe. Sehen als eine Abfolge von Fotografien. Das Auge als
Dunkelkammer, die Netzhaut als lichtempfindliche Platte. Und die Sehnerven
eine Schicht von Salzen, die das Licht zersetzen. Begeht man die
Unvorsichtigkeit, einen leuchtenden Punkt allzu lange anzuschauen, so ist's
geschehen: Das Sehnetz stellt sich nur langsam wieder um und manchmal bleibt
das Bild unzerstörbar eingebrannt. Nach dem Bild des Mörders in der Netzhaut
des Opfers suchen. Dann das Auge als Röntgenapparat. Durch das Zellgewebe
sehen, als wäre es nur ein Schleier. Das zuckende Herz im Körper der
Geliebten. Die Gallenblase, die Bewegungen der Därme. So wird die lebende
Geliebte zum anatomischen Präparat. Ihre einst bewunderten Augen, nichts als
ein optischer Apparat, einer camera obscura. Ihr anmutiger Gang, nun nichts
weiter als ein Mechanismus von Hebeln. Vor solchem Auge zerlegt sich alles
in der Natur, nichts mag sich in der Seele zu vereinigen: er sieht alles,
begreift alles, doch zwischen ihm und den Menschen, zwischen ihm und der
Natur ist ein ewiger Abgrund; nichts in der Welt fühlt mit ihm. Die Augen
haben ihren Glanz vollkommen und auch etwas von ihrer Wölbung verloren, sind
matt und trübe; die Pupille ist gegen alle Reize unempfindlich. "Wo bleiben
meine Augen?" - "Hier bringe ich sie: Sie sehen aus wie Mottenkugeln." -
"Das sind meine Augen." Wüsste man nur, welches auf die eine und welches auf
die andere Seite gehört. Mit einem sanften Ruck werden zuerst die Augen in
ihre Höhlen gedrückt. Ziehen und Zerren, bis sie wieder richtig an ihrer
Stelle liegen. Dabei kommt einem die Kenntnis des inneren Menschen sehr zu
gute. Ein Auge zudrücken. Meine verpflanzten Augen, was stürzt auf euch ein?
Hitchcock: Vertigo. In der Spirale des Vorspanns sieht er die Zeit, die, je
mehr sie sich entfernt, ein umso breiteres Feld bedeckt, ein Zyklon, der in
diesem Augenblick das regungslose Auge ist ... Madeleine vor dem Porträt
einer Verstorbenen, die sie nicht hätte kennen dürfen. Und auf dem Porträt
wie im Haar Madeleines: die Spirale der Zeit. All seine Versuche, Faustine
seine Liebe zu gestehen, scheitern. Kein Blinzeln, nicht einmal ein leichtes
Zucken der Augen. Ihm scheint, als posierte sie für einen unsichtbaren
Fotografen, als dienten ihre Augen nicht zum Sehen, ihre Ohren nicht zum
Hören, als gehorchte sie einer vorgegebenen, sinnlosen Choreographie.
(Valencia.) (Tea for Two.) Menschen, eingesponnen in einen Kokon aus
silbrigen Drähten, so fein gesponnen, dass sie fast unsichtbar sind. Die
Drähte entsprießen den Gesichtern wie Barthaare. Eine hellfarbige,
deckelartige Blende bedeckt die Augen. Endlos maschinell erzeugte
Traumgesichte. Mögen die Träume noch so lustvoll sein, so zehren sie doch an
der Substanz. Die Schläfer, nach Jahren nur noch Haut und Knochen. Die
Rippen stehen hervor wie bei einem halb verhungerten Hund. Zu nähren vermag
nur, gibt auch der Empfangende, das Kind sein Lächeln, der Fremde, zum Gast
geworden, seine Erzählung. Polyphem weiß um das Gastrecht nicht, sieht er
die Welt doch nur mit einem Auge. Polyphem hat nur ein Auge. Deshalb ist ihm
jede andere Sicht fremd. Gott dagegen ist ein einziges Auge. Er ist nur
Auge. Gott hat weder Hände, noch Beine. Vor allem verfügt er über keinen
Magen. Er bedarf keiner Nase, um die Welt zu riechen, keiner Zunge, um sie
zu schmecken, keines Mundes, um sie zu verschlingen. Wenn man sich jemand
beim Defäzieren vorstellen kann, dann Polyphem. Entlädt er sich, dann ist
es, als ginge ein Gewitter nieder. Und der Gestank, der sich breit macht,
ist nicht auf eine schlechte Verdauung zurückzuführen. Mag ich auch in einer
Höhle schlafen, so verberge ich mich doch nicht. Hört meine laute Stimme.
Wer kleiner ist als ich, zwei Augen hat, sei mir ein willkommenes Mahl. Der
Menschenfresser: "Guten Morgen!" - Der andere: "Guten Morgen!" - "Wo gehst
du hin?" "Ich bin auf dem Weg, meine Verwandten zu besuchen." Ein Mann ohne
Augen. Vielleicht hat er die Augen unter dem Schulterblatt, vielleicht am
Hinterkopf. "Lass das Beil! Ich sehe genau, du willst mich totschlagen!" Wo
es kein Gastrecht gibt, kann der Fremde keinen Namen haben. So nennt sich
denn Odysseus O?t??, also "Niemand". Polyphem, von diesem geblendet, ruft in
seinem Schmerz die anderen Zyklopen herbei. "Niemand" habe ihn geblendet. So
kommt ihm keiner zu Hilfe. Polyphem, allein gelassen, erblindet. Endgültig
erblindet auch, das Gottesauge. An die Stelle des alles sehenden Auges sind
technische Augen getreten. Diesen Augen ist alles Wohlwollen fremd. Es sind
kalte Augen. Sie sind blind, was den Menschen, seine Ängste, Hoffnungen,
Nöte, Obsessionen oder Schwächen betrifft. Diese kalten Augen wollen keine
leibliche Gemeinschaft - im Gegenteil, sie verabscheuen sie, als fürchteten
sie Ansteckung, Trübung ihrer kalten Klarheit. Kalte Augen schlagen dann
Alarm, zeigen sich Abweichungen im vorgegebenen Verhalten, fährt jemand zu
schnell, gegen die Einbahn, befindet sich jemand zur falschen Zeit am
falschen Ort, trägt jemand in Menschenansammlungen einen Rucksack, zeigt ein
Kleidungsstück verdächtige Ausbuchtungen, ist ein Mensch aufgrund seiner
äußeren Erscheinung einer Gruppe zuzuordnen, die mit Risiko assoziiert wird.
Auch all diesen Augen ist das Gastrecht fremd. Nur hilft es nicht länger,
sich
Outiz zu nennen. Vielgescholtener Polyphem, lass uns auftragen vom
Besten.