Erinnern und Durcharbeiten: Friedbert Scharfetters Sakralraum
Es hat mich unlängst sehr berührt, als ich eine größere Gruppe von
Flüchtlingen, unter ihnen nicht wenige Kinder, auf die Notunterkunft in der
Nachbarschaft zustreben sah. Insbesondere die Gesichter der Kinder schienen
mir glücklich, was sich wohl der Vorstellung verdankte, nach langen
Irrfahrten und vielen Gefahren, endlich am Ziel, an einem sicheren Ort
angekommen zu sein. Ich kenne das Gebäude. Es gibt da nur einen sehr
schmalen, hermetisch abgegrenzten Auslaufbereich. Keine Grünfläche, nicht
einen einzigen Baum. Wer immer in diesem Gebäude landet, wird
bewirtschaftet, separiert, da oder dorthin dirigiert. Was wird aus diesen
Kindern werden? Wird es ihnen gelingen, ihre Erfahrungen symbolisch zu
verarbeiten? In diesem Zusammenhang lohnt sich die Betrachtung des von
Friedbert Scharfetter gestalteten Kellerraumes im Haus Boznerplatz 4 in
Innsbruck.
Zwischen dem 15. Dezember 1943 und dem 20. April 1945 fanden insgesamt 22
Luftangriffe auf Innsbruck statt. Die Bombardements galten vor allem dem
Bahnhof, richteten aber auch in den umliegenden Bereichen große Zerstörungen
an. Das Haus Bozner Platz 4, es liegt in der Nähe des Bahnhofs, wurde
bereits beim 1. Luftangriff stark beschädigt. Scharfetter, er war damals
sieben Jahre alt, erlebte den Angriff gemeinsam mit seiner Mutter und zwei
Geschwistern im Luftschutzkeller dieses Hauses. Nach der Entwarnung konnten
sie zwar den Luftschutzraum verlassen, aber nicht mehr in die Wohnung
zurückkehren. Um diese wohl traumatische Erfahrung zu verarbeiten, begann
Scharfetter zehn Jahre später den Bunkervorraum künstlerisch zu gestalten,
Wand- und Deckenflächen auszumalen. Von 1953 bis 1958 arbeitete er an diesem
Raum.
Der Raum ist nicht sehr groß. Seine Fläche beträgt gerade einmal 9,9m². Den
Abbildungen liegt eine komplexe Theologie zugrunde, die hier nur angedeutet
werden soll. An der Hauptwand ist die Kreuzigung Christi dargestellt. Im
Hintergrund sind die vier Paradiesflüsse zu erkennen. Ein Löwe, ein Stier,
ein Adler und ein Mensch verweisen auf die vier Evangelisten. Unter dem
Kreuz, beide in roten Gewändern, die Muttergottes und Johannes. Über dem
Gekreuzigten die Dreifaltigkeit. An der gegenüberliegenden Wand Adam und Eva
im Paradies, darüber das himmlische Jerusalem, daneben die Auferstehung
Christi. An der Decke zwischen der schützenden Hand Gottes und den
himmlischen Heerscharen, die die Bedrohungen des Krieges, dargestellt als
wilde Jagd, abwehren, die Familie des Künstlers. Alles andere als eine
beliebige Abfolge biblischer Motive. Diese sind nicht nur theologisch
stimmig, sondern auch, was den erlebten Schrecken betrifft. Bomben schlugen
in unmittelbarer Nähe ein. Man muss sich einmal vorstellen, wie ein Kind mit
sieben Jahren die dabei verursachten Erschütterungen, den Lärm wahrnimmt,
oder auch die Angst der Erwachsenen.
Da sich die Darstellungen in die gegebene Raumstruktur fügen, lässt der Raum
an eine Art Kapelle, auf jeden Fall an einen Sakralraum denken. Gleichzeitig
fehlt dem Raum architektonisch all das, was Sakralräume üblicherweise
ausmacht. Der Eingang zum eigentlichen Luftschutzkeller lässt sich gleichsam
als Pforte zur Hölle begreifen. So gesehen macht es Sinn, dass Scharfetter
den Vorraum und nicht den Bunker selbst gestaltet hat. Unübersehbar hat er
sich dabei an Max Weiler orientiert, den er kannte und von dem er mit der
Technik der Keimschen Mineralfarben vertraut gemacht wurde. Das gilt sowohl
für die Komposition selbst wie die Ausführung der Figuren, die Darstellung
von Pflanzen, Bergen, oder Landschaften. Trotz aller Anleihen bei Weiler hat
Scharfetter ein einzigartiges Kunstwerk geschaffen. Und das nicht nur in
konzeptioneller Hinsicht. Während Künstler üblicherweise repräsentative
Räume suchen, hat hier jemand ganz allein für sich in einem Kellerloch,
gewissermaßen in der Unterwelt gearbeitet, in einem fensterlosen, engen
Durchgangsraum, der drückend wirkt, auch heute noch klaustrophobe Gefühle
wecken kann, zumal die beiden Schutztüren mit den Türverschlusshebeln
unverändert erhalten geblieben sind.
Macht man einen Spaziergang durch die Stadt und schaut sich die Kunst auf
den vielen damals neu errichteten Wohnbauten an - der Bedarf an Wohnraum war
groß, nicht nur Kriegsschäden, sondern der vielen Flüchtlinge wegen -, dann
fällt vor allem eines auf, nämlich die Harmlosigkeit der Motive.
Landschaften, Blumen, Tiere, Kinder, Eltern mit Kind oder Kindern. Sieht man
einmal von Max Weilers bedeutsamen Fresken in der Theresienkirche auf der
Hungerburg ab, so wurde der nur wenige Jahre zurückliegende Krieg nahezu
vollkommen ausgeblendet. Scharfetter schuf dagegen seinen Raum dezidiert
bezugnehmend auf eine Kriegserfahrung, ohne dabei, und das ist entscheidend,
der pathetischen, letztlich kaschierenden Zeichensprache damals errichteter
Denkmale zu verfallen. Dem von ihm geschaffenen Raum fehlt jede
Geschwätzigkeit. Er zeugt von einer großen Demut.
Heute wird der Raum als Abstellraum genutzt. Die Wandmalereien sind
inzwischen sehr verschmutzt und lassen die ursprüngliche Wirkung der Farben
nur noch bedingt erahnen. Brachiale Eingriffe wie unsensible
Leitungsführungen belegen, dass kaum jemand die Einzigartigkeit dieses
Raumes wahrzunehmen vermochte.
Handelt es sich um einen persönlichen Erinnerungsort? Nur insofern, als hier
jemand eine persönliche Erfahrung verarbeitet hat. Ich würde gerne wissen,
ob Scharfetter in späteren Jahren den Raum noch öfters angeschaut hat? Die
Betonung liegt nicht auf Erinnerung, sondern auf Verarbeitung. Und diese
scheint geglückt zu sein. Scharfetter entschied sich dann auch gegen eine
Künstlerlaufbahn und für ein Medizinstudium. Später machte er Karriere als
Neurochirurg.
Wie kann es heutigen Kindern, die durch Kriegserfahrungen traumatisiert
sind, gelingen, diese zu verarbeiten? Wir sollten mehr Geld für
Flüchtlingskinder ausgeben.
© Bernhard Kathan, 2016