VON DANIEL PAUL SCHREBER ZU FRANCO BASAGLIA


"Wenn jemand zu 4 Jahren Gefängnis verurteilt wird, dann geht es theoretisch, in der Vorstellung des Richters, um 4 Jahre Absonderung in einer Zelle mit Verpflegung, und um nichts weiter sonst. In Wirklichkeit freilich handelt es sich um eine Verdammung. Der Eingesperrte wird psychisch und physisch destruiert und nicht selten mißhandelt. Das ist die Wirklichkeit, obschon niemand unterstellt, ein Richter, der eine Strafe von 4 Jahren Gefängnis verhängt, habe den Delinquenten dazu verurteilen wollen, 4 Jahre lang gequält zu werden."
Franco Basaglia, "Befriedungsverbrechen"

"Man hielt mich wochenlang unter Entziehung meiner Kleidungsstücke im Bette fest, um - wie ich glaubte - mich wollüstigen Empfindungen, die durch die bereits in meinen Körper nach und nach eindringenden weiblichen Nerven angeregt werden konnten, zugänglicher zu machen; man wendete auch Mittel (Medikamente) an, die nach meiner Überzeugung den gleichen Zweck verfolgten und die ich daher mich anzunehmen weigerte, oder wenn sie mir durch die Wärter mit Gewalt eingeflößt wurden, wieder ausspie. Man kann sich vorstellen, wie mein ganzes männliches Ehr- und Selbstgefühl, meine ganze sittliche Persönlichkeit gegen dieses schändliche Vorhaben, nachdem ich dasselbe einmal mit Sicherheit erkannt zu haben glaubte, sich aufbäumte [...]. Gänzlich abgeschnitten von der Außenwelt, ohne jeden Verkehr mit meiner Familie, nur in den Händen roher Wärter, mit denen mich ab und zu zu prügeln, mir von den inneren Stimmen als Probe meines männlichen Mutes sozusagen zur Pflicht gemacht wurde, konnte daher kein anderer Gedanke in mir entstehen, als daß jede noch so schreckliche Todesart einem so schmachvollen Ende vorzuziehen sei. Ich beschloß daher, durch den Hungertod meinem Leben ein Ende zu machen und wies jede Speise zurück, zumal die innern Stimmen mir immer vorredeten, daß es eigentlich meine Pflicht sei, Hungers zu sterben und mich dadurch gewissermaßen für Gott zu opfern, jeder Genuß einer Mahlzeit, nach der mein Körper doch wieder verlangte, also eine unwürdige Schwäche sei. Die Folge davon war, daß das sogenannte 'Fütterungssystem' eingerichtet wurde, d.h. daß die Wärter, deren in der Hauptsache immer dieselben um mich herum waren, [...] mir die Speisen in den Mund zwangen, was teilweise mit der größten Roheit geschah. Es ist wiederholt vorgekommen, daß der eine derselben meine Hände festhielt und der andere, während ich im Bette lag, auf mir kniete, um mir die Speisen in den Mund zu schütten oder das Bier in den Mund zu gießen. So war ferner jedes Bad, das ich nahm, mit Ertränkungsvorstellungen verknüpft. Man sprach - in der Nervensprache - von 'Reinigungsbädern' und 'heiligen Bädern'; die letzteren sollten eben die Bestimmung haben, mir Gelegenheit zum Selbstertränken zu geben; ich bestieg fast jedes Bad in der inneren Angst, daß dasselbe dazu dienen solle, meinem Leben ein Ende zu machen. Die inneren Stimmen [...] redeten fortwährend in diesem Sinne auf mich hinein und verhöhnten mich, daß es mir dazu an dem männlichen Mute fehle; ich machte daher auch wiederholt den Versuch, den Kopf unter das Wasser zu stecken, wobei dann die Wärter in einzelnen Fällen meine Füße über dem Wasser festhielten, also das Selbstmordvorhaben scheinbar begünstigten, meinen Kopf auch wohl wiederholt untertauchten, dann aber unter allerhand rohen Witzen mich zwangen, aus dem Wasser wieder aufzutauchen und das Bad schließlich zu verlassen."
Daniel Paul Schreber, "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken"

Mit den Büchern, die über Daniel Paul Schrebers "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken" geschrieben wurden oder in denen diese zitiert werden, ließe sich eine ganze Bibliothek füllen. Ohne Zweifel hat sich Schreber eine höchst seltsame Welt geschaffen. Man denke an das Rückenmark, das in kleinen Wölkchen verdampft, an den weggewunderten Magen, an die Vorstellung, als Weib von Gott begattet ein neues Menschengeschlecht hervorzubringen. Bis heute wird Schreber in entsprechende psychiatrische wie psychologische Kategorien gesteckt, die auffallenderweise weit voneinander abweichen können. Ich habe ihn früher auch nicht anders gelesen. Wie andere blieb ich am Oberflächlichen hängen.

Auffallenderweise wird in der Sekundärliteratur manchen Aspekten kaum Beachtung geschenkt, so etwa dem Umstand, dass in Schrebers Wahnvorstellungen konkrete Anstaltserfahrungen ihren unmittelbaren Niederschlag gefunden haben. Man muss nur am Objektiv etwas drehen, um das zu sehen. Schreber schreibt selbst, dass es sich bei seinen Visionen "wenigstens zum Teil um wirkliche Erlebnisse" handle, die "ohne irgendwelchen realen Hintergrund" nicht zu denken seien. In den Anstalten fand sich Schreber tatsächlich in "weltordnungswidrigen Verhältnissen", erlebte er doch eine Welt, in der ihm nahezu alles auf den Kopf gestellt erschien. Statt sich, wie er es bei Gericht gewohnt gewesen war, mit Fällen zu beschäftigen, die andere betrafen, war er nun selbst zu einem Fall geworden. Andere bestimmten über sein Leben. Zwar hatte er sich, um von seiner Schlaflosigkeit und seinen Ängsten befreit zu werden, aus eigenem Antrieb in die Flechsig'sche Anstalt begeben, fortan sollten aber andere über sein Leben entscheiden, oft genug durch eigene oder fremde Interessen geleitet. Man sprach ihm die Wahrheit seiner Erfahrungen ab und betrachtete diese als Halluzinationen oder Sinnestäuschungen, eben als "pathologisch zu beurteilende Ausgeburt [s]einer Phantasie". Die "Menschenspielerei", die Schreber als Wunder betrachtete, erlebte er unmittelbar. Die Behandlung, die er erfuhr, war durchaus gewaltsam. Um ihn endlich in Schlaf zu versetzen, wurden ihm gegen seinen Willen Medikamente in hohen Dosen verabreicht. Lange Zeit wurde er nachts, all seiner Habseligkeiten beraubt, in einer Dementenzelle eingesperrt. Er hatte "mit Ausnahme einiger weniger Nächte volle 2 ½ Jahre lang in für Tobsüchtige eingerichteten Zellen [zu schlafen], in denen [er] außer einer eisernen Bettstelle, einem Nachtgeschirr und den Bettstücken nicht das Mindeste vorfand und die obendrein während des größeren Teils der Zeit durch schwere hölzerne Läden total verfinstert wurden". Musste man ihn füttern, konnte er auch mit Gewalt festgehalten werden. Dazu fügte sich mittelbare Gewalt, die allein schon durch die Ordnung und Funktion der Anstalt gegeben war. Mit Fug und Recht konnte er rückblickend schreiben, er habe eine grausige Zeit durchlebt und eine bittere Schule der Leiden durchgemacht, er habe "eine Unsumme von Unwürdigkeiten in der Behandlung" zu erdulden gehabt.

Über Schreber wurden Akten geführt, ohne dass er Einsicht hätte nehmen können: "Man unterhält Bücher oder sonstige Aufzeichnungen, in denen nun schon seit Jahren alle meine Gedanken, alle meine Redewendungen, alle meine Gebrauchsgegenstände, alle sonst in meinem Besitze oder meiner Nähe befindlichen Sachen, alle Personen, mit denen ich verkehre usw. aufgeschrieben werden." Was die Genauigkeit der Aufschreibesysteme betrifft, hat sich Schreber geirrt. Während der Zeit seiner Unterbringung in der Leipziger Nervenklinik finden sich erstaunlich wenige Einträge in der Krankenakte. Aber es trifft zu, dass manche seiner Redewendungen und Äußerungen notiert wurden: "1. März [1894]: Hält sich für ein junges Mädchen, fürchtet unsittliche Attentate." Dokumentiert wurden vor allem Absonderlichkeiten: "15. März [1894]: Verspricht dem Wärter 500 Mk., wenn er ihm ein Grab zurechtmache." Schwerer wiegt, dass sich das einmal Dokumentierte in den Akten wurmartig fort- und einschrieb, sei es in Überstellungsschreiben oder Gutachten: "Er hielt sich für todt u. angefault, er sei schon nicht mehr in 'bestattungsfähigem Zustand'." Das Aufschreiben wird in Schrebers Wahrnehmung von "Wesen" besorgt, denen "nach Art der flüchtig hingemachten Männer menschliche Gestalt gegeben ist, die aber ihrerseits des Geistes völlig entbehren und denen von den vorübergehenden Strahlen die Feder zu dem ganz mechanisch von ihnen besorgten Geschäfte des Aufschreibens sozusagen in die Hand gedrückt wird, dergestalt, daß später hervorziehende Strahlen das Aufgeschriebene wieder einsehen können". Ironischerweise erwiesen sich Schrebers "Denkwürdigkeiten" ganz gegen ihre eigentliche Intention als Teil der Aufschreibesysteme, machten sie doch nur zu deutlich, dass es sich bei ihm um einen Verrückten handeln müsse.
Zu den Aufschreibesystemen fügt sich der "Denkzwang", der sich Fragen verdankte, die ihm gestellt werden konnten: "Die Form des Examinierens ist eine höchst eigentümliche und für jemand, der mit der Menschennatur vertraut ist, kaum verständliche. Man läßt die Personen meiner Umgebung, deren Nerven man hierzu anregt, gewisse Worte, und zwar die Verrückten mit Vorliebe irgendwelche gelehrte Brocken (womöglich fremden Sprachen angehörige), die ihnen aus ihren früher erlangten Kenntnissen noch zur Verfügung stehen, sprechen und legt sich nun bei mir sozusagen aufs Ohr, indem man die Worte in meine Nerven hineinspricht: 'Fand Aufnahme'." Da solche Fragen der Diagnostik dienten, hatte er ständig zu beweisen, nicht verrückt oder verblödet zu sein, Ängste, die Schreber während seines ganzen Aufenthalts in den Nervenanstalten plagten: "Woran denken Sie denn jetzt?" Da solche Fragen schon an und für sich völlig unsinnig seien, da der Mensch manchmal nichts, dann wieder tausenderlei auf einmal denken könne, habe man in einem "System von Gedankenfälschungen seine Zuflucht" genommen, sich also selbst die Antwort gegeben, um es mit Schrebers Worten zu sagen, seine Nerven "durch Strahlenwirkung [genötigt], diejenigen Schwingungen zu machen, die dem Gebrauch dieser Worte entsprechen". Das bedeutet nichts anderes, als dass Schreber mit ihm in den Mund gelegten Worten zu antworten hatte.

Schrebers "Denkwürdigkeiten" sind, was das Anstaltsleben betrifft, vor allem wegen seiner vielen Sprachbeobachtungen höchst aufschlussreich. In den Stimmen, die unaufhörlich auf ihn einreden, bricht sich unüberhörbar die Sprache der Anstalt. Das ist die eigentliche "Grundsprache", die Schreber den Seelen zuschreibt. Sie zeichne sich durch "einen großen Reichtum an Euphemismen" aus. Ständig würden dieselben Phrasen wiederholt. Auch habe man es zumeist mit unvollständigen Sätzen zu tun, die stets einer Ergänzung bedürften, mit einem "System des Nichtausredens". Oft genug würden Worte in ihrer gegenteiligen Bedeutung gebraucht. Lohn meint denn auch bei Schreber Strafe, Gift Speise, Saft wiederum Gift, unheilig heilig. Ihm war es, als bewegte er sich "unter lauter wandelnden Leichen", "amongst the fossils". Es fehlte an wirklichen Fragen, an Antworten. Sprechakte geschehen bei ihm zumeist durch vermittelnde Instanzen, so durch "sprechende Vögel", die unschwer als Pfleger zu dechiffrieren sind. In der Sprache des Verrückten bricht sich also die Sprache der Anstalt, der Absonderung und Verwaltung, wie auch Schrebers Gewaltphantasien weniger mit ihm als mit der Anstalt zu tun haben.

Schreber starb 1911. Abertausende, die, aus welchen Gründen auch immer, in psychiatrischen Anstalten untergebracht waren, haben ähnliche Gewalterfahrungen gemacht, wobei heute zumeist vergessen wird, dass sich die Zustände in den Anstalten erst sehr viel später zu bessern begannen. Mein erstes Praktikum, das liegt nun bald fünfzig Jahre zurück, machte ich in einer Außenstelle einer Landesnervenklinik, die in vielem an die Anstalt Sonnenstein ("Teufelsschloß") denken ließ, in der Schreber untergebracht war. Diese befand sich etwa ebenso in einem schlossartigen Bauwerk. Sehe ich einmal von Aluminiumtellern und Plastikbechern ab, so war das Anstaltsleben der Insassen nicht viel anders organisiert, als es um 1900 üblich war. Das Gehege, in dem sich bei Schönwetter die Kranken tagsüber aufhielten, unterschied sich nicht im Geringsten von dem von Schreber beschriebenen "Pferch": "Nach jenem einzigen Spaziergang in den eigentlichen Garten fand ein Aufenthalt im Freien - wohl jeden Vor- und Nachmittag auf ein bis zwei Stunden - nur noch in dem oben erwähnten Hofraum oder 'Pferche' statt, einem etwa 50 Meter im Geviert haltenden, von Mauern eingeschlossenen, öden Sandplatz ohne jeden Busch oder Strauch und ohne jede Sitzgelegenheiten bis auf ein oder zwei Holzbänke der allerprimitivsten Art. In diesen Pferch wurden jedesmal zugleich mit mir 40 - 50 Menschengestalten getrieben." Nur muss man sich statt einer Umfassungsmauer einen hohen Maschendrahtzaun vorstellen, statt eines Sandplatzes eine mit Kies bestreute Fläche.

Es gab zwar eine wöchentliche Visite, aber keine eigentliche Behandlung. Dabei findet immer eine Behandlung statt, werden doch Ausgestoßene ständig behandelt, wenn auch nicht wohlwollend. Nicht einmal an simple, monotone Beschäftigungen, etwa das Zusammenstecken von Plastikteilen oder das Kuvertieren von Massenaussendungen, hatte man gedacht, verständlich, diente die Anstalt doch als Endstation. Es gab keinen Grund, an ein anderes Leben zu denken. Da wirksame Medikamente damals erst auf den Markt kamen, war es nicht ungewöhnlich, erregte oder tobende Kranke in eine Zwangsjacke zu stecken, während des Praktikums auch immer wieder mit meiner Hilfe. "Gummizellen" oder "Dementenzellen" waren weder vorhanden noch nötig, ließ sich doch der auf solche Art Ruhiggestellte an einem schweren Stuhl oder an einem eisernen Bettgestell fixieren. Gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Insassen, auch das lässt an Schreber denken, waren keinesfalls ungewöhnlich, schon allein des engen Raumes wegen, auf dem sich die Kranken drängten, ohne wirkliche Möglichkeit, einander auszuweichen. Es gab zahllose Anlässe für Konflikte, und sei es die absichtliche oder mehr oder weniger zufällige Verletzung eines Privilegs, das sich einer der Insassen nach langen Jahren erworben hatte. Höchstes Prestige genoss der Schlüsselträger, dessen Aufgabe es war, die Insassen in den Pferch zu leiten und hinter dem letzten das Tor abzuschließen. Dass es einen Pferch für Personen männlichen Geschlechts, es befanden sich auch Kinder unter ihnen, und einen für Personen weiblichen Geschlechts gab, dass die beiden voneinander getrennten Gehege symmetrisch angelegt waren, dass Mädchen und Frauen an Sonn- und Feiertagen, freilich nur an kirchlichen, alle im selben gelbfarbenen Dirndl gekleidet waren, sei hier nur nebenbei erwähnt. Bei Insassen männlichen Geschlechts gab man sich weniger Mühe. Da genügte bei einem ein Hut, bei einem anderen ein Sakko aus der Effektenkammer. Etwas unter dem Schlüsselträger stand der Tellerwäscher, eine verwachsene, aber muskelbepackte Person. Er war Herrscher über die Abspülbecken, wobei es Aufgabe Niedriggestellter war, ihm das schmutzige Geschirr zu bringen. Es ging nicht um Löffel, Teller, Becher oder Töpfe, sondern um den Raum, nicht zuletzt um das mit einer Klappe verschließbare Loch neben den Abspülbecken, in dem die von Kot und Erbrochenem starrende Schmutzwäsche gesammelt wurde. In einer Welt, die keinen Rückzugsort kennt, war es gewiss ein großes Privileg, sich als einziger darin verkriechen zu dürfen. Diesem Loch durften sich andere Insassen bestenfalls auf zwei Schritte nähern. Eine Missachtung hatte wütendes Geschrei, oft genug Tätlichkeiten zur Folge. Andere wiederum hatten ihre unversperrten Kästen zu verteidigen, in denen sie manches horteten. Dabei verfügten nur wenige über einen Kasten oder ein Fach. Die allgemeine Trägheit, die über dem Ganzen lag, wie auch fehlende Abwechslung verlockten immer wieder dazu, sich über die wenigen Habseligkeiten anderer herzumachen. Das Leben der Insassen kannte, sieht man von jenen ab, die wie der Tellerwäscher eine Aufgabe hatten, nichts anderes als Warten, Warten auf das Essen, darauf, dass sich das Tor endlich öffnete und sich der Zug in den Pferch in Bewegung setzen konnte, Warten auf das Schlafengehen, auf den Tod. Im Übrigen sei nicht unerwähnt, dass selbst jene, die in Zwangsjacken gesteckt wurden, solche Maßnahmen alles andere als ungewöhnlich fanden. Es war Teil ihres Lebens. In der Regel bedurfte es nicht einmal eines Gewaltaktes. Mehrfach konnte ich beobachten, wie ein Tobender, kaum sah er die für die Station zuständige Nonne ("Hostienbäckerin") auf ihn zutreten, seine Arme selbst in die Zwangsjacke schob und sich ohne ernsthaften Widerstand verschnüren ließ, bestenfalls aufgeregt vor sich hin schimpfte oder Grimassen schnitt. Das sollte ich erst lange später verstehen. Aber selbst düsterste Orte kennen so etwas wie Liebesregungen.

Ich erinnere mich noch gut an meine ersten Eindrücke von der Anstalt. Aus offenen Fenstern waren ständig Schreie zu hören, ganz unterschiedliche Schreie, sinnlose Reden, Schimpfereien, klagende Rufe, Schreie, die an Schmerz denken ließen. Diese Schreie machten mir Angst. Am liebsten hätte ich wieder umgedreht, um das Praktikum nicht antreten zu müssen. Heute erscheint es mir als glückliche Fügung, dass ich die dort gesammelten Erfahrungen machen durfte, habe ich doch damals während eines kurzen Sommers mehr gelernt als in zahllosen Lehrveranstaltungen.

Einige der Patienten habe ich heute noch deutlich vor Augen, so etwa einen zirka fünfzigjährigen Mann namens Baumann, der mich in vielem an Schreber denken lässt. Er war alles andere als dumm, galt aber als hoffnungsloser Fall, weshalb man ihn in der Pflegeanstalt untergebracht hatte, in der nicht wenige der Insassen tatsächlich schwachsinnig waren. Aus gut nachvollziehbaren Gründen war er, wie es so schön lautete, "fluchtgefährdet". Laut der nur notdürftig geführten Krankenakte litt er an Verfolgungswahn, fürchtete, seinem Essen oder seinen Getränken würde etwas beigemischt. Tatsächlich wurde zwar nicht seinem Essen, das ja vor seinen Augen aus großen Töpfen geschöpft wurde, aber seinen Getränken etwas beigemischt. Die Kunst bestand darin, ihn entsprechend zu täuschen. Das geschah mit Hilfe einer Limonadenflasche. Da Baumnann sehr misstrauisch war, durfte die Flasche nie an derselben Stelle in der Kiste stehen. Mochte sich das auch niemand eigens ausgedacht haben, so hatte sich doch ein System der Täuschung etabliert. In den Kisten befanden sich vier mal sechs Flaschen. Da an einem Vormittag mehrere Kisten verbraucht wurden, kam nur eine Kiste in Frage, die durch ein unscheinbares Merkmal, wie etwa eine abgebrochene Ecke, eindeutig zu identifizieren war. Ein solcher Fehler war Voraussetzung für die eindeutige Lektüre, konnte man sich doch nur so orientieren. War eine der Flaschen präpariert, so notierte man auf einem Zettelchen beispielweise "2/3". Wer immer dann Baumann die Flasche anzudrehen hatte, wusste, dass es sich um die dritte Flasche in der zweiten Zeile handeln musste. Die Täuschung konnte nur gelingen, wurde eine scheinbar beliebige Flasche der Kiste entnommen, schien der Kronverschluss unbeschädigt, wurde die Flasche unter Vortäuschung einer gewissen Anstrengung vor Baumann geöffnet. Mit der Dosierung nahm man es nicht so genau. Wenn ich mich recht erinnere, waren es bis zu 35 Tropfen Haldol. Baumann saß dann tagsüber ruhig in einer der Ecken. Er schien sich an eine so hohe Dosierung gewöhnt zu haben. Die enorme Wirkung des Medikaments wurde mir bewusst, als eines Tages das Putzmädchen versehentlich eine der präparierten Flaschen aus der Kiste nahm und trank. Erst zwei Tage später wurde sie gefunden, völlig apathisch und verwirrt. Wie Schreber hatte auch Baumann tatsächlich gute Gründe, sich verfolgt zu fühlen.

In der erwähnten Anstalt gab es mit Ausnahme der leitenden Oberschwester keine ausgebildeten Pflegekräfte. Das war alles andere als ungewöhnlich. Selbst in Landesnervenheilanstalten konnten Pfleger beschäftigt sein, die zuvor als Maler, Tischler oder Hilfsarbeiter ihren Lebensunterhalt verdient hatten. Oft genug potenzierten sie die Gewalt. Das lässt an die Pfleger denken, mit denen Schreber zu tun hatte ("Hundejungen"). Mochte der eine oder andere auch umgänglicher oder freundlicher sein, den Umgang mit den Kranken kann man sich nur ruppig vorstellen. Und wie bei Schreber war eine Umkehrung der zivilen Geltung keineswegs ungewöhnlich. Innerhalb der Anstalt konnte ein Pfleger ohne wirkliche Ausbildung im Machtgefüge weit über einem verwirrten Akademiker stehen, der in seinem Berufsleben jahrzehntelang Verantwortung getragen hatte, wie denn auch Schreber unter Pflegern litt, die seinen "Stand und die hohe amtliche Stellung, die [er] im Leben bekleidet hatte, vollständig vergessen" hatten. In der Regel hatten sie mehr mit Wärtern in einem Zoo als mit Krankenpflegern gemein. Die Kranken wurden in ihrem verschrobenen Verhalten wie Zootiere behandelt und betrachtet. Wie im Zoo fehlte es auch nicht an Ausflüglern, die sich vor den Gittern drängten, um sich am Leben der Verrückten zu erbauen. Schreibt Schreber von einem "Pferch", dann lässt sich das mit Tieren assoziieren. Menschen können zu Tieren degradiert werden.

Ich kann mich noch an die eine oder andere Badesituation erinnern, die sich nicht viel anders abspielte als von Schreber beschrieben. Da nur an Samstagen Badetag war, waren innerhalb kurzer Zeit nicht wenige Patienten zu baden. Ohne Druck war das nicht möglich und es konnte durchaus vorkommen, dass man einem Patienten, um ihm auch die Haare zu waschen, den Kopf unter Wasser drückte. Das konnte durchaus unterhaltend sein und mit gewissen Scherzen einhergehen. Es fehlte nicht an komischen Situationen. Mundendorf, einer der Patienten, neigte etwa dazu, sobald er in der Badewanne saß, seinen Darm zu entleeren, um die auf der Oberfläche des Badewassers schwimmenden harten Kotballen zu bestaunen und damit zu spielen, so als hätte er es mit Spielzeug zu tun, das man Kindern in die Badewanne gibt. Er war dann der erste Tote, dem ich das Gesicht rasierte und den ich in einen Sarg betten half. Der Sarg stand in Ermangelung eines Abstellraumes im Gang und wurde von Insassen als Sitzbank benutzt, verständlich, fehlte es doch an Sitzbänken, von Sesseln ganz zu schweigen, hätten Sessel doch Unordnung, wenn nicht gar manche Tätlichkeiten zur Folge gehabt. Über die Todesursache hat sich niemand Gedanken gemacht. Dabei war Mundendorf in erstaunlich guter Verfassung. Er war weder altersschwach, noch litt er an irgendeiner akuten Krankheit. Eines morgens lag er einfach tot im Bett. Warum hätte man sich Gedanken machen sollen? Der physische Tod bestätigte nur den längst stattgefundenen sozialen Tod. Der Tod war ja, wurde dies auch nie ausgesprochen, das Ziel und letztlich das eigentliche Produkt der Einrichtung.

Einmal wöchentlich kam ein Oberarzt aus der Landesnervenklinik zur Visite. Es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, man habe ihm stets einen roten Teppich ausgerollt. Tatsächlich wurde er wie ein Würdenträger behandelt. Und wie ein Würdenträger war er von einem kleinen Hofstaat, einigen Medizinstudenten, umgeben. Diesen wie den Schaulustigen, die sich vor dem Pferch versammelt hatten, führte er die Insassen als Reizreaktionsmaschinen vor. Da er solche Visiten schon oft gemacht hatte, wusste er, wer von den Insassen sich als Opfer anbieten würde und welche Stichworte er geben musste. Einige der Insassen waren durch den Krieg traumatisiert. Manchen mochte ein Geschoß ins Gehirn gedrungen sein, andere hatte der Krieg einfach aus der Bahn geworfen. Die einen wie die anderen bewegten sich in einer Endlosschleife, die weder eine wirkliche Vergangenheit noch eine Zukunft kannte. Einem dieser Patienten, er sah sich als deutscher General in Stalingrad, erstattete der Oberarzt in militärischer Stellung Meldung, was sich dann stets in einem allgemeinen Gelächter auflöste. Auch der General lachte. Auf solche Weise ging der Oberarzt seine Fälle durch, um dann nach kürzester Zeit mit seinem kleinen Gefolge das eigens für ihn gekochte Essen einzunehmen. Die Breinahrung, die zur Fütterung der Verlorenen diente, hätte er angewidert von sich gestoßen. Das Leben der Insassen, all ihre Leiden, das interessierte ihn nicht. Es wurde zwar gesprochen, aber es wurden weder wirkliche Fragen gestellt, noch wurde etwas mitgeteilt oder gar beantwortet. Nicht zufällig hat Schreber in seinen "Denkwürdigkeiten" solcher Sprachlosigkeit so viel Aufmerksamkeit geschenkt.

Erst später sollte ich begreifen, dass der Arzt, der zu den Visiten kam, in früheren Jahren dem Euthanasie-Programm zugearbeitet hatte, dem damals nicht wenige der Insassen der Anstalt, in der er nun seine Visiten durchführte, zum Opfer gefallen waren. Baumann mied er. Da hätte er sich seine Klagen anhören müssen. Und hätte er es getan, nichts hätte sich in Lachen aufgelöst, im Gegenteil. Dafür mahnte er wiederholt, die Dosierung zu erhöhen. Diesen Arzt, er war keine Ausnahme, interessierte nicht einer der Patienten. Er sah sich keinen Furunkel, keines der vielen Geschwüre an. Er sah keinem Patienten in den Mund - warum sollten die Zähne denn nicht einfach ausfallen. Er bemerkte nicht einmal Raimund, einen hübschen Jungen, der sich nur deshalb in der Anstalt befand, weil man ihn als Kind eines Schwarzen ausgestoßen hatte. Niemand wollte ihn haben, hatte er doch Schande über seine Mutter gebracht. Aus ärztlicher Sicht hätte sich der Oberarzt um ihn kümmern müssen, fielen doch manche der Insassen in Ermangelung weiblicher Gesellschaft oft genug über ihn her, was sich nur schwer vermeiden ließ, zumal die Aufsichtsperson, so eine solche überhaupt anwesend war, oft genug durch ein Geschehen in einer anderen Ecke abgelenkt war.

Wie in anderen Anstalten der Zeit war Gewalt im Umgang mit den Kranken allgegenwärtig. Das begann bereits damit, dass gottähnliche Instanzen über das Leben der Insassen entschieden, vor allem dann, ging es um eine endgültige Unterbringung in einer Pflegeeinrichtung, was, wie von Schreber erwähnt, einem "Lebendig-begraben-werden" gleichkam. War einer einmal in einer solchen Endstation gelandet, wurde an eine mögliche Entlassung nicht mehr gedacht. Es gab gegen ärztliche Entscheidungen keine wirkliche Einspruchsmöglichkeit, bestenfalls Angehörige, die ihr Kind, ihren Bruder, ihre Schwester, ihren Vater oder ihre Mutter nicht vergessen hatten, zu Besuch kamen oder vorstellig wurden.

In einem der nachfolgenden Sommer machte ich ein Praktikum in der Landesnervenklinik. Auch da gab es noch einen "Pferch", und zwar auf der Rückseite des letzten Pavillons. Um jedes Entkommen unmöglich zu machen, war das Geviert nicht nur seitlich von einem hohen Maschendrahtzaun umschlossen, sondern auch noch mit Maschendraht überdacht. Dieser Käfig ließ an einen Hühnerauslauf denken. Der Boden bestand nur aus nackter Erde. Es war, als hätten Hühner selbst das kleinste Gräschen abgepickt. Übrigens befand sich in Sichtweite dieses Käfigs, zwischen hohen Bäumen stehend, ein kleines kappellenartiges, gelb gestrichenes Sektionsgebäude. Zwar wurden hier schon lange keine Sektionen mehr durchgeführt, aber der Raum mit seiner Ausstattung war erhalten geblieben. Nicht anders als Flechsig suchten auch hier Mediziner, dem Wahn durch Gehirnschnitte auf die Spur zu kommen.

Ich entschied mich damals, da ich mich für David Cooper, Ronald D. Laing und Franco Basaglia interessierte, für die sozialpsychiatrische Fachabteilung. In einem der Hörsäle gab es sogar so etwas wie eine wöchentliche Patientenkonferenz. Patienten konnten Anliegen vortragen. Aber letztlich wurden die Patienten nicht viel anders vorgeführt wie in früheren Jahrzehnten. Das Reglement wie den Ablauf bestimmte der Primar. Es war eine Lehrveranstaltung, die der Ausbildung der Studenten diente. Die modernste seiner Abteilungen war verhaltenstherapeutisch orientiert. In der wöchentlichen Fortbildung ging es ähnlich zu wie in der Patientenkonferenz, nur dass hier Praktikanten vorgeführt wurden. Ich hatte nach wenigen Tagen auf Anweisung des Primars, der sich während der Patientenkonferenzen väterlich gab, dabei aber wie ein großer Schauspieler selbst im Mittelpunkt stand, zu seiner und zur Unterhaltung anderer Ärzte und Psychologen einen Vortrag über die Behandlung Homosexueller mittels Aversionstherapie zu halten. Durch Bilder wachgerufenes Begehren sollte mit leichten Stromstößen begegnet werden. Was für ein Fortschritt, möchte man sagen, waren doch Elektroschockbehandlungen an der Tagesordnung. In einem der Zimmer war eine magersüchtige Schauspielerin untergebracht. Während normalerweise Menschen ihren Lebensunterhalt durch Arbeit verdienen, war es ihre Aufgabe, Nahrung und Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Da Tür und Fenster fest verschlossen, Waschbecken und Toilette abmontiert waren (Kübel!), war es in dem nahezu leeren Zimmer so gut wie unmöglich, Nahrung oder Erbrochenes zum Verschwinden zu bringen. Die Aufnahme von Nahrung bzw. Flüssigkeit wurde mit Plastikmünzen (Token) belohnt, mit denen sich die Patientin Besuchszeiten, "Sozialkontakte" oder Zeitkontingente für das Lesen von Büchern kaufen konnte. Nahm sie zu wenig Nahrung zu sich, blieb sie oft tagelang allein in ihrem Zimmer eingesperrt. Psychologische Mathematik, in der Ausscheidungen des menschlichen Körpers mit Gesprächen oder Berührungen verrechnet wurden. Heute wären solche Formen der Behandlung, die nicht weit von Folter entfernt waren, undenkbar. Ärzten und Psychologen drohte eine strafrechtliche Verfolgung. Aber vor fünfzig Jahren waren solche Behandlungen noch weitgehend normal. Nicht einer der Ärzte oder Psychologen nahm daran Anstoß.

Wenige Jahre später fuhr ich anlässlich eines Antipsychiatriekongresses nach Triest. Zu diesem Zeitpunkt war die Anstalt San Giovanni bereits in Auflösung begriffen. Die meisten der Patienten waren bereits entlassen worden. Die Räume der großen Gebäude standen leer. In einem der Büros stand in der Mitte des Raumes ein schwerer Schreibtisch. Sessel fehlten. Nicht ein einziges Bild hing an der Wand. Es gab kein Regal, nicht ein einziger Aktenordner war zu sehen. Auf dem Schreibtisch saß mit wippenden Beinen Franco Basaglia und betrachtete mit traurigen Augen den Besucherstrom, der sich an ihm vorbei bewegte und die leeren Räume bestaunte. Ich war Teil dieser Masse. Ich hätte auf ihn zugehen und mich mit ihm über meine Erfahrungen unterhalten sollen, meinetwegen darüber, warum Tobsüchtige ihre Hände und Arme selbst in Zwangsjacken stecken. Ich tat es nicht. Basaglia sah sich als Psychiater, nicht als Künstler. Dabei hatte das, was er machte, sehr viel mit Kunst zu tun, zumindest mit dem, was ich unter Kunst verstehe. Das Arrangement (unter Kunstbedingungen ließe es sich nur spielen) war formal höchst stringent. Basaglias Exponiertheit auf dem Schreibtisch hatte nichts mit Eitelkeit zu tun und brachte eine Verletzlichkeit zum Ausdruck, in der sich eben auch die Verletzlichkeit von Patienten brach, Neugier und Zweifel.

Obwohl das Praktikum in der oben erwähnten Pflegeeinrichtung nur einen Sommer lang dauerte, hat sich diese Zeit lebendiger in mir eingegraben als meine ganze Schulzeit. Heute bedaure ich es, dass ich damals nicht mehr mit Baumann gesprochen habe. Trotz all der mir erinnerlichen Gewalt zwischen den Patienten, trotz der grundlegenden Missachtung all des Wollens wie all der Begabungen, die selbst Schwachsinnigen nicht fremd sind, trotz der institutionellen Gewalt habe ich den erwähnten Sommer in guter Erinnerung, nicht zuletzt deshalb, weil damals manches in Bewegung geriet. Selbst Raimund, der üblicherweise zwischen seinen Fingern lange Speichelfäden zog, um diese, sich um die eigene Achse drehend, gegen das Licht zu betrachten, machte die eine oder andere Zeichnung, mit Papier und Stiften, die ich selbst kaufen musste, da in der Anstalt selbst solche Tätigkeiten nicht vorgesehen waren. Wenige Jahre später war ich noch einmal dort. Die Insassen waren nun in einem Neubau untergebracht, dessen Architektur an ein Appartementhaus in Kitzbühel denken ließ. Lichtdurchflutete, saubere Krankenzimmer, jedes der Zimmer durch eine Glasscheibe vom Gang aus einsehbar. Geschrei war keines mehr zu hören, im Gegenteil, es herrschte eine geradezu gespenstische Ruhe. Die meisten der Patienten lagen apathisch im Bett. Zellen für Tobsüchtige, wie sie Schreber erlebt, oder Zwangsjacken, wie ich sie in Erinnerung hatte, waren hier nicht mehr nötig. Es war, als hätte ich lebende Mumien vor mir. Raimund erkannte mich nicht, an Baumann konnte sich niemand mehr erinnern.

© Bernhard Kathan, 2019
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