AUF DER SUCHE NACH SELMAS BLAU
„Meine Gedanken drifteten ab, zurück zu jenem Ostermontag, als Kaiser und
Polizeimeister Hartmann Sklaven aussuchten: ‚Du, du und du ...!’ Sie sollten
mit dem Gesicht in die Erde gedrückt eine tödliche Kugel in den Nacken
empfangen. Vielleicht gehörte es sich so für Kaiser, denn ein heimkehrender
Familienvater sollte seinen Geliebten Geschenke mitbringen; auch wenn sie
von todgeweihten Sklaven eines Vernichtungslagers stammten. Da konnte er nur
hoffen, seine Frau würde nicht nach der Herkunft der Mitbringsel fragen.
Wird sie je erfahren, daß er die Häftlinge durchsuchen ließ, bevor sie ins
Grab hinabsteigen mußten?“
Arnold Daghani, Tagebuch, 10. Juni 1943
Wie würden wir Kafkas Romane und Erzählungen lesen, wüssten wir nichts über
sein Leben, wären all seine Briefe und Tagebücher vernichtet worden?
Zweifellos anders. Unsere Kafka-Lektüre verdankt sich entscheidend einer
biografisch-auratischen Aufladung. Dies gilt noch mehr für Selma
Meerbaum-Eisinger, die 1942, sie war damals siebzehn Jahre alt, mit Arnold
Daghani und vielen anderen Juden aus Czernowitz in die Ukraine deportiert
wurde, um dort für die Organisation Todt an der Durchgangsstraße IV
Zwangsarbeit zu leisten. Selma starb am 16. Dezember 1942 im nahe Gaissin
gelegenen Zwangsarbeitslager Michailowka an Fleckfieber. Wüssten wir nicht
um Selmas schreckliche Geschichte, wohl kaum jemand würde ihre Gedichte
kennen.
Meine Beschäftigung mit Selma verdankt sich Nikolaus Hovorka. In einem
seiner Feldpostbriefe aus dem Oktober 1943 findet sich die Beschreibung
eines „Judenlagers“, bei dem es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um jenes
in Michailowka gehandelt hat: „Dort nun sah ich etwas, was ich nicht
vergessen werde. Da war um einen langen Stall oder Schupfen ein Drahtzaun
gezogen, und schon von weitem sah man darin Gestalten in bunten Kleidern
herumgehen und kauernd Arbeiten verrichten. Bettzeug, Wäsche- und
Kleidungsstücke waren aufgehängt und wurden von der Sonne beschienen, elende
Lumpen, wie man beim Näherkommen bemerkte. Es waren Frauen, vorwiegend
junge, hübsche Erscheinungen, die in Tongeschirr da und dort etwas kochten.
Auf dem Boden hatten sie da und dort dürre Äste und Holzscheite entzündet
und im Wind flackerte das Feuer rauchend und der Rauch vermischte sich mit
dem Staub und dem Wasserdampf. Einige Greisinnen kauerten am Boden, einige
halbwüchsige Knaben und Mädchen und auch einige Kinder liefen hin und her.
Alle waren in Zivilkleidung, die ganz zerschlissen war und wenn ein Windstoß
kam, einen Schenkel bis zu den Hüften enthüllte. Das waren keine Ukrainer,
das sah man gleich. Das waren städtische Kleider, denen man noch anmerken
konnte, daß sie einmal von einer Schneiderin nach Maß und Modejournal genäht
worden waren. Eine junge Frau z.B. war in einen Regenmantel gekleidet,
ziegelfarben mit großem Muster. Eine andere in ein Kleid, das mich an Dein
von mir so geliebtes, dalmatinisches Indanthrenkleid erinnerte, nur daß die
Grundfarbe nicht grün, sondern lila war. Eine andere wieder hatte einen
blauen, reich gefalteten Kasack; wieder eine andere hatte ein dunkles Kleid
an, über das sie von den Schultern an eine Art Dirndlschürze trug. Diese
Kleider waren alle nicht so weit, wie sie hier die Bäuerinnen tragen, und
hinderten beim Niederkauern, sodaß sie über die Knie hochgerafft werden
mußten, soweit die Kleider eben nicht so zerschlissen waren, daß sie bis zu
den Hüften offen hingen. Sessel, Bänke, Sitzgelegenheiten, Tische gab es
nicht. Es mußten also alle Arbeiten am Boden kauernd verrichtet werden. Eine
Latrine war da, von einem niedrigen Zaungeflecht kaum den Blicken entzogen.
Die schlanken, grazilen Gestalten, vielleicht vom Sport, vielleicht vom Tanz
geformt, jedenfalls jahrelang gepflegt, die, trotz der augenscheinlichen
Ungeschicklichkeit, eleganten und graziösen Bewegungen, der mit ihrer Lage
im Widerspruch stehende Scharm, der über allem lag, ließ es mich ahnen,
worum es sich hier handelt. Ich setzte mich in den verborgenen Winkel eines
Wagens – da ich mich nicht wohl fühlte, konnte ich mich ohnehin am Treiben
meiner Kameraden nicht beteiligen – und beobachtete das Treiben in diesem
Lager am Rande des Waldes in einer Partisanengegend. Der Obergefreite Frost,
der erst vor kurzem zu uns gestoßen ist und sich um mich bemüht, weil er in
mein Laboratorium möchte, sagte zu mir: ‚Die müssen einmal bessere Tage
gesehen haben. Man muß sich vorstellen, daß es uns allen so ergehen würde,
wenn wir den Krieg verlören. Auch unsere Frauen müßten dann so hinter
Gittern ein elendes Leben führen.’ Ich sagte natürlich nichts zu alldem.
Später machte ich mit Leipert einen Rundgang um zwei solche mit Draht
eingezäunte Ställe, allein wollte ich nicht gehen. Ein einziger ukrainischer
Milizsoldat, der Polizei zugehörig, hielt Wache. Das Gittertor war nicht
geschlossen und dann und wann ging auch eine von den Insassen aus der einen
Einzäunung in die andere, oder zum Brunnen, Wasser holen, ohne Begleitung.
Aber als Aufenthaltsraum war ihnen offenbar streng der Raum vor dem Stall
hinter dem Drahtgitter angewiesen. Dort hing eine Tafel: ‚Das Betreten des
Judenlagers ist jedem streng untersagt.’ Im Lager selbst war kein
Uniformierter zu sehen und offenbar niemand, der die Leute antrieb. Ich
erzählte Leipert, was Frost gesagt hatte, neugierig, was er, der süddeutsche
Bauer, dazu äußern würde. Und mein guter Leipert sagte: ‚Freilich, wenn man
bedenkt, daß dies ja auch Menschen sind.’ Ich dagegen: ‚Frost sagte, die
haben es verdient.’ Leipert: ‚Freilich haben sie es verdient.’ Leipert war
Ortsstellenleiter der Polizei in seinem Dorf. Wir kamen zu einem Misthaufen
außerhalb des Lagers, der zwischen dem Drahtzaun und einem kleinen Gebäude
lag. Dort arbeitete ein etwa fünfzehnjähriger, blonder Junge mit
sympathischem, klarem Gesicht, die Mistgabel nicht ohne Geschick führend.
Ich dachte an die Hakoah. Als wir hin gekommen waren, zog er höflich seine
Kappe und beugte demütig und freundlich sein Haupt. Ich erinnerte mich an
Mauthausen. Ich hätte eine stolze oder haßerfüllte Abwehr erwartet. Leipert
sagte zu einer Bemerkung meinerseits: ‚So sind eben diese Juden. Sie haben
die Fähigkeit, ihre wahren Gedanken und Gefühle zu verbergen und ein ganz
anderes Gesicht zu zeigen.’ Ich denke anders darüber und war in Gedanken
sehr in Mauthausen. Ich kam dann zu einer Gruppe Hiwi, die zum Lager hinüber
schauten. Am meisten redete der sogenannte Leutnant, der uns so viel zu
schaffen macht durch seine Frechheit und Unverfrorenheit. Er gab seinem
Unwillen Ausdruck und, daß er es nicht verstehe, daß man die Juden in Lager
sperre. Inzwischen näherte sich ein Zug von Männern, begleitet von einigen
ukrainischen Schutzpolizisten. Es waren die Judenmänner, die von irgend
einer Arbeit kamen. Die Frauen hatten wohl mit Rücksicht auf den Sonntag
‚frei’ und nur zwei oder drei alte Männer waren im Lager zu sehen gewesen.
Alle Männer, die von der Arbeit kamen, waren in zivilen Kleidern. Auch ihre
Kleider entsprechend zerschlissen. Vergeblich bemühten sich wohl die alten
Frauen, die am Boden kauerten, sie zu flicken. Die meisten Elendsgestalten,
mit Haltung. Da ging einer in der Marschordnung, gut rasiert, die Mütze fest
auf dem Kopf, im Mund eine Pfeife, den Kopf hoch erhoben, selbstsicher
seinen Weg, wie einer, der glaubt, daß die Zukunft ihm gehöre. ‚Sie wissen
alle, daß ihr Schicksal besiegelt ist’, meinte Leipert. Ich dagegen: ‚Wenn
wir den Krieg verlören, dann würden diese Leute wohl als Helden und Märtyrer
gefeiert.’ Er: ‚Sie werden vorher wohl alle niedergemacht. Und das wissen
sie.’ – Jetzt erst erfuhr ich, daß Seeliger unseren Zug verlassen hat und
vorgefahren war. Ich hatte ihn lange gesucht, um von ihm, der den
Truppensanitätskasten verwaltet, ein Medikament zu holen. Mit ihm hätte ich
auch das Lager etwas eingehender studieren können. Es hätte mich natürlich
sehr interessiert. Es war ein Sonntag.“
Dank Daghanis Tagebuch und mehrerer Ermittlungsverfahren in den 1960er
Jahren wissen wir einiges über das Lager in Michailowka. Hier wurden
Gefangene willkürlich ermordet, mehrere Massenerschießungen sind
dokumentiert. Am 6. November 1942 wurden allein deshalb, weil im
Winterquartier zu wenig Platz war, 106 Häftlinge erschossen. Daghani erwähnt
auch eine Lagerbesichtigung durch Wehrmachtsangehörige: „Um die Mittagszeit
ging geräuschlos die Stalltür auf. Es waren Soldaten der Wehrmacht. [...]
Sie wollten wissen, wie es hier drin aussah. Feiste, fetthalsige
Oberwachtmeister der Wehrmacht mit rosigen Gesichtern und strotzender
Gesundheit glotzten uns an, als seien wir Wachsfiguren in Madame Tussaud’s
Ausstellung. [...] Was für ein Besuch! ...“ Zwei Monate bevor Hovorka das
Lager in Michailowka beschrieb, war Daghani und seiner Frau die Flucht
gelungen. Die beiden zählen zu den wenigen Überlebenden des Lagers. Hovorkas
Beschreibungen decken sich mehrfach mit Einträgen in Daghanis Tagebuch. Da
wie dort ist von einem mit Stacheldraht umschlossenen Stallgebäude die Rede.
Das von Hovorka erwähnte Schild über dem Tor wurde von Daghani gemalt, und
zwar am 12. Oktober 1942. Allerdings lautet bei ihm die Aufschrift: „Es ist
strengstens verboten, das Judenlager ohne Erlaubnis zu betreten.“ Was die
städtische Kleidung betrifft, irrte sich Hovorka nicht. Der Sonntag war
tatsächlich arbeitsfrei, aber nicht der Inhaftierten wegen.
Am 6. August 1943 wurde das Lager von Partisanen überfallen, worauf die noch
lebenden Juden nach Tarassiwka verlegt wurden. Die Angaben zum Zeitpunkt
dieser Verlegung sind widersprüchlich. Beim „Judenlager“, welches Hovorka am
4. Oktober 1943 beschreibt, kann es sich also auch um jenes in Tarassiwka
handeln, das ebenfalls in der Nähe von Gaissin lag. Da eine Kolchose als
Lager diente, ist anzunehmen, dass die Gefangenen auch hier in einem
Stallgebäude untergebracht waren. Am 10. Dezember 1943 wurden alle im Lager
Tarassiwka befindlichen Juden – die Zahlenangaben weichen etwas voneinander
ab, aber es dürften insgesamt etwa 500 gewesen sein – von SD-Angehörigen und
litauischen Hilfswilligen in der Nähe des Lagers erschossen, wobei die Opfer
zuvor wie üblich das Massengrab selbst auszuheben hatten. Die Juden hatten
in Viererreihen anzutreten, sich völlig zu entkleiden, Geld und
Wertgegenstände SD-Angehörigen auszuliefern, in die Grube zu steigen und
sich hinzulegen. Dann wurden sie erschossen, worauf die nächsten in die
Grube steigen, sich mit dem Gesicht nach unten auf die bereits im Massengrab
befindlichen Leichen legen mussten, um nun auch erschossen zu werden. Zwei
Mädchen gelang es, sich zu verstecken. Nach längerem Suchen wurden sie
entdeckt und wie die anderen erschossen. Mehrfach berichteten Zeugen, es
hätten sich noch Stunden nach der Massenerschießung Leiber bewegt, da viele
nicht tot gewesen seien, auch sei vereinzeltes Stöhnen und Röcheln zu hören
gewesen.
Selmas letztes Gedicht, niedergeschrieben am 23. Dezember 1941, hat mich
besonders berührt:
Das ist das Schwerste. sich verschenken
und wissen, daß man überflüssig ist,
sich ganz zu geben und zu denken,
daß man wie Rauch ins Nichts verfließt.
Liest man das Gedicht, so fallen einem zwangsläufig Bilder ein, die wir mit
dem Holocaust verbinden, so der Rauch, der „ins Nichts verfließt“.
„Überflüssig“ sein, das lässt an Hannah Arendt denken, die schrieb, in den
Konzentrationslagern sei es darum gegangen, endgültig die Überflüssigkeit
des Menschen unter Beweis zu stellen, „Menschen so zu behandeln, als ob es
sie nie gegeben hätte“. Das gilt auch für die Lager an der DG IV, auch
„Rollbahn Süd“ oder „Straße der SS“ genannt, die der „Vernichtung durch
Arbeit“ diente. Wie dem Protokoll der Wannseekonferenz vom 20. Jänner 1942
zu entnehmen ist, sollte hier die „Endlösung der Judenfrage“ im Osten
praktisch umgesetzt werden: „Unter entsprechender Leitung sollen im Zuge der
Endlösung die Juden in geeigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen.
In großen Arbeitskolonnen, unter Trennung der Geschlechter, werden die
arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt, wobei
zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird. Der
allfällig endlich verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesem
zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt
werden müssen, da dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei
Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues anzusprechen ist.“
Warum machten sich SS-Angehörige im Dezember 1943, also zu einem Zeitpunkt,
an dem abzusehen war, dass die Rote Armee binnen Tagen, spätestens Wochen
Gaissin überrollen würde, die Mühe, bei großer Kälte in das zwölf Kilometer
entfernte Tarassiwka zu fahren, um die dort noch verbliebenen Juden zu
erschießen? Es gab keinen übergeordneten Befehl. Auch herrschte große
Benzinknappheit. Bei mehreren Fahrzeugen, die auch wieder zurückfahren
mussten, kam hier einiges an Treibstoff zusammen. Während Fahrzeuge der
Wehrmacht wegen Treibstoffmangels nicht mehr einsatzfähig waren, fuhr hier
ein SS-Kommando durch die Gegend, um Menschen zu erschießen, von denen nicht
die geringste Gefahr ausging. Wo es eine Motivation gibt, da sind Menschen
bereit, etwas zu investieren. Doch worin die Motivation für diese Tat
bestand, ist nicht so einfach zu beantworten. Mit Hannah Arendt lässt sich
die Motivation dadurch erklären, dass den SS-Leuten die eigene
Überflüssigkeit nur zu bewusst geworden war. Um dieser Bedrohung Herr zu
werden, musste die Überflüssigkeit anderer, hier eben die von 500 Juden,
buchstäblich bewiesen und exekutiert werden. In Gaissin gab es zwei
Kriegslazarette. Alle Schwerverwundeten mussten wohl – auch angesichts des
allgemeinen Treibstoffmangels – zurückgelassen werden, was ihren sicheren
Tod bedeutete. Auch sie waren Überflüssige. So lässt sich eine Verknüpfung
zwischen den erschossenen Juden und den ihrem Schicksal überlassenen
Verwundeten herstellen.
Selmas Gedicht ist zuerst als Liebesgedicht zu lesen. Mit rotem Stift fügte
sie hinzu: „Ich habe keine Zeit gehabt zu Ende zu schreiben. Schade, daß du
dich nicht von mir empfehlen wolltest. Alles Gute Selma.“ Das Gedicht war an
ihren Freund Leiser Fichmann aus der zionistischen Jugendgruppe Hashomer
Hazair gerichtet. Leiser entschloss sich zur Flucht nach Palästina. Das
Schiff wurde torpediert, Leiser zählte nicht zu den Überlebenden. In Selmas
Gedichten klingt an, was ihr drohte, was sie um sich an Gewalt erlebte, als
nach dem Überfall auf die Sowjetunion rumänische Truppen Czernowitz
besetzten und ihnen ein deutsches Einsatzkommando folgte, das mit der
Verhaftung und Ermordung der Juden begann.
Die Titel von Selmas Gedichten: Lied / Farben / Kristall / Den gelben Astern
ein Lied / Kastanien / Welke Blätter / Stille / Spaziergang / Welkes Blatt /
Der Kelch / Frühling / Nachmittag / Spätnachmittag / Regen / Abend I / Abend
II / Trauer / Sehnsuchtslied / Schlaflied für mich / Du, weißt du ... /
Märchen / Ich bin der Regen / Ja / Poem / August / Herbst / Lied /
Herbstregen / Hände / Haar / Ich bin die Nacht / Rote Nelken / Schlaflied /
Wiegenlied / Gilu / Lied der Freude / Der Sturm / Ich bin der Weg gen
Untergang / Schlaflied / Herbstlied / Es weint der Regen in mir / Dämmerung
/ Vormittag / Regenlied / Bleistiftskizze / Stefan Zweig / Das Glück /
Sonett / Sonne im August / Tränenhalsband / Es ist so viel Buntes geschehen
/ Schlaflied für dich / Träume / Schlaflied für die Sehnsucht / Müdes Lied /
Spürst du es nicht, wenn ich um dich weine / Tragik
Wie Selmas Gedichten, wie ihrer Geschichte gerecht werden? Ich nahm mir vor,
jeden Tag damit zu beginnen, in ein Café zu gehen, dort eines ihrer 57
Gedichte zu lesen, dann, wieder in die Wohnung zurückgekehrt, jeweils ein
und denselben Pinsel in eine Schellacklösung zu tauchen und ohne viel
nachzudenken, ohne Absicht etwas auszudrücken, eine Bewegung über das Blatt
zu machen und mit einem hellblauen Buntstift eben diese Bewegung graphisch
zur Wirkung zu bringen. Illustrationen der Gedichte haben sich von
vornherein verboten, auch alles Symbolische, das etwa auf Hoffnung oder Tod
verweisen könnte. Also blau: „Selma erwähnt in ihren Gedichten auffallend
oft Farbtöne, am häufigsten Blau: nicht wie Azur, blau jedoch / so blau /
der Himmel ist sehr blau / eine blaue Schnur / die blauen Lerchen / der
Himmel ist vom hellsten Blau / in einem Fenster zittert aus dem Blau / eine
Linie dunkelblauen Schweigens / sanft und blau verträumt / blaues Kleid /
seidig-blau und glatt / Silber im Blau / die Sehnsucht blaut / verrückt ins
Blau hinein / blaue Trän’ / mein ewig blauer Schmerz / blau wie
Sehnsuchtsweh.“
Selmas Gedichte sind mehrfach vertont worden. Manche dieser Vertonungen
bewegen sich am Rande des Kitsches. Mit großem Orchester lässt sich
pathetisch auftragen. Einer der Komponisten meinte, Selmas Gedichte seien
ein Glück, da sie es möglich machten, sich mit dem Holocaust ohne
Schuldgefühl zu beschäftigen. Ohne Schuldgefühl? Vielleicht. Aber ohne
Schrecken, ohne Schrecken über uns selbst? Über die Darstellbarkeit all
dessen, was in Lagern geschah, gab und gibt es lange Diskussionen. Daghani
zählt zu jenen, die die Darstellbarkeit in Abrede stellen. In seinem
Lagertagebuch notierte er am 6. Dezember 1942, also kurz vor Selmas Tod:
„Auf dem Rückweg von der Baustelle hörte ich einmal, wie Selma, vertieft in
eine Diskussion über Kunst, den Standpunkt vertrat, der Künstler müsse
voreingenommen sein, wolle er die Unmenschlichkeit im Lager überzeugend
darstellen. Das empfand ich als Kritik an meinem Camaieu. Wäre es ihr lieber
gewesen, wenn ich Hinrichtungen auf Papier verewigt hätte. Was brächte es,
wenn ich die Häftlinge darstellte, wie sie auf dem Weg zum Grab verdroschen
und dann erschossen wurden? Es würde nie die fast übermenschliche Würde
vermitteln können, die die Häftlinge bis zu ihrem Ende wahrten. [...] Warum
Gräueltaten durch Malen und Zeichnen verharmlosen? Vielleicht wollten die
Häftlinge, daß die Welt auf den Bleistiftstrich genau erfahre, was sich hier
im Lager abgespielt hatte, denn wer würde unseren Worten glauben, wenn wir
überleben sollten?“ Und doch beschäftigte sich Daghani in einer seiner
Lagerzeichnungen mit Selmas Tod. Er hielt jenen Augenblick fest, in dem
Selmas Leichnam von oben aus einem Stockwerkbett herunter gehoben wurde:
„Ich habe aus der Erinnerung auf ein liniertes Blatt Papier (6 cm x 15 cm)
mit Bleistift gezeichnet, wie Selma vor zwei Wochen auf einer Leiter
herausgetragen worden ist. Es erinnert mich an die ‚Kreuzabnahme’. Hier also
begegnen wir Geburt und Tod Christi. Aber das übersteigt unsere Phantasie.“
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Arnold Daghani, Der Tod von Selma Meerbaum-Eisinger |
Selmas „Sehnsuchtslied“ dreht sich um einen Klavierspieler – vielleicht hat
sie auch an eine Klavierspielerin gedacht –, dem es nicht gelingt, seinen
Empfindungen durch das Anschlagen von Tönen Ausdruck zu verleihen: „Du
suchst lange – Moll und Dur und Moll / Werden lebend unter deinen Händen. /
Und dann schlägst du plötzlich eine Taste an, / und – es kommt kein Ton. /
Und das Schweigen ist dir wie ein dumpfer Hohn, / denn du weißt es plötzlich
ganz genau: / Dieser fehlt dir. Wenn ihn deine Hände fänden, / fiele ab von
deinem Lied der Bann, / wär’ das Ende nicht mehr leer und grau. / Und du
rührst und rührst die Taste – fragst dich, wo hier wohl die Hemmung liegt, /
suchst, ob nicht doch deiner Hände Weiche siegt, / deine Augen betteln voll
Verlangen. / Kein Ton kommt ...“
Nach dem 47. Blatt, also nach dem 47. Tag, war mir klar, dass auch die
beiläufigste Zeichensetzung nur zu schnell als Zeichen gedeutet werden kann:
Selbst ein einfacher Klecks lässt sich als Rauch, Wolke, Körper und so fort
betrachten. Es ging mir also nicht anders als Selmas Klavierspieler. Also
galt es, wieder von Neuem zu beginnen. An den Grundüberlegungen konnte ich
festhalten, ebenso an den Blautönen. Aber das Zeichenhafte,
Bedeutungsschwangere, welches doch stets nur in die Irre führt, wollte ich
fortan meiden. Ich hätte die Flächen einfach mit einem Buntstift füllen, da
etwas Licht einfallen lassen, dort einen Schatten andeuten können. Aber auch
da hätte sich das oben beschriebene Problem gezeigt. All das ließe an
Hoffnung, Angst und Tod denken. Bliebe nur noch, die 57 Flächen
gleichbleibend, also ohne Hervorhebungen, vollkommen auf jede Tiefenwirkung
verzichtend, mit Blau zu füllen. Aber das wäre mir eitel erschienen. Die
jüngere Kunstgeschichte kennt zahllose ähnliche Beispiele, die sich nur dann
behaupten, wenn nicht der Darstellung, sondern dem Tun eine besondere
Bedeutung beigemessen wird. Schreibt ein Künstler tausendmal „Arbeit macht
frei“, dann verdankt sich die Bedeutung der berüchtigten Toraufschrift.
Würde er ebenso oft schreiben „Die Blüten der Glockenblumen sind blau“, kein
Mensch würde sich dafür interessieren, und dabei wäre es vermutlich
wahrhafter. Meinem Tun eine besondere Bedeutung beimessen, das wollte ich
nicht. Da kam mir die Naturmetaphorik in Selmas Gedichten entgegen. Ich bin
also ins Florale gewandert, freilich ohne an Blüten oder Bäume zu denken,
sondern an Strukturen, eben auf der Suche nach Selmas Blau. Um ehrlich zu
sein, drängten sich mir ständig auch irgendwelche Bilder auf, Schlamm,
Wasser (blau), Meer (blau), Himmel (blau), Engel (blau), Blut (in den
Gedichten dem Leben, dem Wein, dem Abend, Buchen, Nelken und Spitzen
zugeordnet), Föten im Mutterleib, Leitern und so fort. Das Meer oder etwa
den Himmel erwähnte Selma nicht.
„Das ist das Schwerste. sich verschenken / und wissen, daß man überflüssig
ist ...“: Der deutlichste Ausdruck von Überflüssigkeit findet sich dort, wo
Menschen liquidiert werden. Liquid/ieren, abgeleitet von liquidare:
verflüssigen, schmelzen; liquidus: flüssig, fließend, klar, rein; Liquor als
Körperflüssigkeit. Liquid sein und liquidieren, das eine verweist auf das
andere. Um es mit Gerburg Treusch-Dieter zu sagen: „Einer hat mit
Überflüssigkeit im Sinne von Reichtum und Verschwendung zu tun, ein anderer
mit Überflüssigkeit im Sinne von Abfall, der auch das Weggeschüttete oder
das Weggeworfene sein kann. Zu dieser grundsätzlichen Ambivalenz des
Flüssigen verhalten sich weitere, mit dem Flüssigen verbundene
Strukturmomente analog, da die Frage des Flüssigen nie aus dieser Ambivalenz
des Überflüssigen, sei es Reichtum oder Abfall, entlassen wird. Das Flüssige
ist also das Element des Ambivalenten, eines doppelwertigen Schwankens, was
sich nicht vereindeutigen läßt. Nimmt man die Extreme Reichtum und Abfall,
dann ergeben sich synonyme Signifikantenketten wie beispielsweise Reichtum,
fruchtbarer Boden, kanalisiertes Wasser und so fort, oder Abfall,
unfruchtbares Sumpfland, versickernde Kloake und so fort. Im Endeffekt
münden beide Extreme in eine gleichlautende Entgegensetzung, denn Reichtum
wird auch als Liquidität, Abfall als Liquidierung ausgedrückt. Ist jemand
liquide, blättert er die Scheine nur so hin, er demonstriert Überfluß; wird
jemand liquidiert, bleibt von ihm nicht einmal der Schein. Er ist
überflüssig und wird spurlos ausgelöscht. [...] Liquidiertwerden ist Abfall
im Extrem.“
Auf der Suche nach Selmas Blau: Ständig schiebt sich in meine Betrachtung
der Vergangenheit die Gegenwart. In der sogenannten Flüchtlingskrise kommen
zahlreiche Metaphern zur Geltung, die mit Wasser zu tun haben. Es ist von
„Flüchtlingswelle“, „Flüchtlingsströmen“ etc. die Rede. Fremdes drohe über
uns zu schwappen, uns zu ertränken. Oder umgekehrt: Angehäuftes, durch
fleißige Arbeit Erworbenes, drohe abzufließen. Von Verantwortungsethik ist
die Rede. Man müsse in Kauf nehmen, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken.
Aber was ist das für eine Verantwortungsethik, deren Behauptungen einzig der
Wählermaximierung dienen, indem diffuse Ängste geschürt und kanalisiert
werden?
In den Leserbriefen der KRONE finden sich viele Einträge zu Liquidität und
Liquidierung, zumindest auf metaphorischer Ebene. Ein Beispiel: „Nehmen wir
zwei Fässer und stellen sie nebeneinander auf den Tisch. Beide Fässer sind
auf Bodenhöhe mit einem Rohr, das über ein Absperrventil verfügt,
miteinander verbunden. Zu Beginn des Experiments ist dieses Ventil
geschlossen, das erste Fass ist mit Wasser voll gefüllt, das zweite
vollständig leer. Jetzt öffnen wir das Ventil und lassen Wasser vom vollen
ins leere Fass strömen. Im allerbesten Fall sind danach beide Fässer
halbvoll. Sollte das eingangs leere Fass jedoch löchrig sein, werden am
Schluss beide Fässer vollkommen leer dastehen.“
Der Kapitalismus hat den Austausch, die Zirkulation zur Voraussetzung, was
eine Entgrenzung auf allen Ebenen zur Folge hat, ob es nun Kapital, Waren,
Verkehrs- und Menschenströme oder anderes betrifft. Das Bild mit den beiden
Fässern ist insofern falsch, als sich der Reichtum eines Landes wie
Österreich einem kapitalistischen Wirtschaftssystem verdankt. Die Ventile
lassen sich nicht schließen, bestenfalls so einrichten, und ein solches
Bemühen kommt in der gegenwärtigen Politik deutlich zum Ausdruck, dass sie
für manches durchlässig, für anderes undurchlässig sind. Dass sich die
Überflüssigen der Globalisierung verdanken, wird dabei verschwiegen.
Pasolini schrieb, eine Gesellschaft, die überflüssige Dinge produziere,
produziere überflüssige Menschen. Er betrachtete den Kapitalismus als ein
totalitäres System, und das zu einer Zeit, als in Europa erstmals Werbung
für Jeans auftauchte. Heute werden Überflüssige en masse produziert. Dabei
denke ich nicht nur an die Verlierer der Globalisierung, nicht nur an
Flüchtlinge. Jeder Suizid ist als Selbstliquidierung, als
Selbstverflüssigung zu betrachten. Suizide älterer Menschen oder der Wunsch
nach Sterbehilfe haben oft genug mit dem Gefühl zu tun, überflüssig zu sein.
Eine Selbstverflüssigung findet buchstäblich statt, wenn jemand ins Wasser
geht, in der Hoffnung, das Wasser möge ihn fortschwemmen, ins Meer tragen,
ins Unendliche, verdünnen bis zur Nichtnachweisbarkeit.
Die Asylantenhetze eines Kurz oder Strache nahm es vorweg. Nun wird es zur
gesellschaftlichen und politischen Gewissheit: Überflüssige finden sich auch
unter uns. Sollen Asylwerbern Handys und Bargeld abgenommen werden, so deckt
sich dies mit der Absicht, Langzeitarbeitslose möglichst rasch in die
Mindestsicherung abzudrängen, um auf mögliche Ersparnisse zugreifen zu
können. Klaus Ottomeyer im Profil: „Ich glaube, es ist ein geheimer Wunsch,
dass Menschen, die ihre Arbeit verlieren, dann auch noch ihr Vermögen
verlieren sollen. Das hat einen sadistischen Aspekt.“ Den Betroffenen muss
ihre Überflüssigkeit eingeschrieben, eingebrannt werden. Es wird dabei nicht
reichen, sie ihrer letzten Ressourcen zu berauben, das Programm wird erst
dann wirklich erfolgreich sein, wenn die Überflüssigen sich selbst als
Abfall betrachten und die Kloake als ihren Lebens- und Sterberaum.
Es mag auf den ersten Blick etwas weit hergeholt sein, Selmas Schicksal mit
heutigen Problemen zu verknüpfen. Aber man sollte sich der Anfänge in den
1930er Jahren erinnern. Es begann mit einer Verrohung der Sprache, mit der
Erfindung von angeblichen Feinden und Schädlingen, mit dem Phantasma, die
durcheinander geratene Gesellschaft würde dann wieder heil, würde man sich
nur dieser oder jener Menschen entledigen. Wären die Überflüssigen nur
überflüssig! Sie dienen in der Regel der Befeuerung der Identität jener, von
denen sie als solche behandelt werden. Letzteren seien einige Zeilen aus
Selmas Gedicht „Poem“ entgegengeworfen. Sie schrieb es unmittelbar nach dem
Eintreffen der Deutschen in Czernowitz: „Ich möchte lachen und Lasten heben
/ und möchte kämpfen und lieben und hassen / und möchte den Himmel mit
Händen fassen / und möchte frei sein und atmen und schrein. / Ich will nicht
sterben. Nein!“
© Bernhard Kathan, 2018
Literatur:
Bernhard Kathan: Ist es nicht wie in Dachau und Mauthausen. Zu den
Wehrmachtserfahrungen des österreichischen Publizisten Nikolaus Hovorka;
wird demnächst in der Schriftenreihe des Mauthausen Archivs erscheinen.
Selma Meerbaum-Eisinger: Ich bin in Sehnsucht eingehüllt; Hoffmann und Campe
2016.
Pankaj Mishra: Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart; S.
Fischer 2017.
Felix Rieper / Mollie Brandl-Bowen (Hg.): „Lasst mich leben!“ Stationen im
Leben des Künstlers Arnold Daghani; zu Klampen 2002.
Marion Tauschwitz: Selma Meerbaum. Ich habe keine Zeit gehabt zu Ende zu
schreiben. Biografie und Gedichte; zu Klampen 2014.
Gerburg Treusch-Dieter: Blutsbande. Nachdenken über Flüssiges und Festes;
konkursbuch 33.