Eine Fotodokumentation von Ansgar Gerstner
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Zu meinen täglichen Ritualen zählt seit langen Jahren der morgendliche
Kaffeehausbesuch. Stets bin ich einer der ersten Gäste. Ich trinke einen
Espresso und lese den Standard. Dies zählt seit Jahren zu meinen
Gewohnheiten. All das ist so ritualisiert, dass es nahezu keiner Sprache
bedarf. Der Höflichkeit halber sagt man ein "Hallo", beim Verlassen des
Lokals ein "Ciao". Das Personal weiß, dass ich einen Espresso haben will,
ein großes Glas Wasser dazu, keine Milch. Es weiß, dass ich nur den Standard
lese. Es weiß, dass ich nie Trinkgeld gebe und so fort. Wie sehr das alles
ritualisiert ist, wird einem bewusst, wird von einem auf den anderen Tag das
gesamte Bedienungspersonal gekündigt, hat man es mit völlig neuen, sehr
rasch angeworbenen Kellnern und Kellnerinnen zu tun. Rituale haben eine
entlastende Funktion. Kaffee könnte ich mir auch zu Hause machen. Es wäre
billiger, den Standard zu abonnieren. Wer aber wie ich den ganzen Tag in der
Wohnung arbeitet, muss einfach zuerst einmal in die Stadt. Rituale geben
Struktur vor, Struktur in einem Alltag, der wenig Struktur kennt
beziehungsweise dessen Struktur man sich oft genug selbst abringen muss.
Irgendwann wird man aller Gewohnheiten und Rituale überdrüssig. Der Kaffee
hat seinen Duft verloren, und lese ich den Standard, dann scheint es mir
zunehmend, als hätte ich all das schon hunderte Male gelesen. Zweifellos
gibt es bessere Formen, den Tag zu beginnen, vielleicht sollte ich, wie es
zahllose Menschen in Shanghai tun, am frühen Morgen in einen Park gehen und
es mit einigen Körperübungen versuchen.
Der Sinologe Ansgar Gerstner dokumentiert seit Jahren Menschen, die in den
Parkanlagen von Shanghai den Tag mit Körperübungen beginnen. Im Gegensatz zu
unseren Städten wird der öffentliche Raum völlig anders, vor allem
wesentlich intensiver genutzt. Nach chinesischen Vorstellungen ist der frühe
Morgen die beste Zeit für Übungen, nicht zuletzt auch deshalb, weil um diese
Zeit die Luft noch besser ist. Ansgar Gerstners Aufnahmen sind gegen 7 Uhr
morgens entstanden.
Auffallend das Durch- und Nebeneinander von Menschen. Viele Gruppen treffen
sich regelmäßig am Morgen, manche mit, andere ohne Lehrer. Neben größeren
oder kleineren Gruppen, die gemeinsam Taiji Quan oder andere Stile
praktizieren, machen viele andere allein die unterschiedlichsten Übungen.
Alles nebeneinander auf engstem Raum. Jeder für sich und alle miteinander.
Ein Durcheinander auch, was die vielen chinesischen Kampfkunststile
betrifft. Dilettanten finden sich neben solchen, die es zu großer
Meisterschaft gebracht haben. Während manche ihre Übungen als sportliche
Betätigung verstehen, sehen andere diese in enger Verbindung zu chinesischer
Philosophie und Medizin. Bilder von Menschen, die in chinesischen Parks am
Morgen etwa Taiji Quan betreiben, sind uns vertraut. Ansgar Gerstner, er
beschäftigt sich seit langem mit chinesischer Kampfkunst, dokumentiert ein
wesentlich breiteres Spektrum. Dazu zählen auch die vielen bunt lackierten
Turngeräte, die in Shanghai nicht nur in Wohnanlagen oder auf Grünstreifen
zwischen großen Straßen, sondern auch in den Parks herumstehen. Diese
greifen zumeist traditionelle Balance- und Dehnübungen auf, betonen die
Ganzkörperkoordination, die auch in traditionellen Übungen von großer
Bedeutung ist. Mit vielen dieser Geräte wüsste im Westen kaum ein Mensch
etwas anzufangen. Etwas Ähnliches gilt für die Baumübungen. Wer käme bei uns
auf die Idee, sich den Rücken an Bäumen zu reiben, in Ermangelung eines
Partners einen Baum als Gegenüber zu nutzen. Die Stämme solcher Bäume können
vom vielen Üben ganz glatt poliert sein. Traditionellen chinesischen
Vorstellungen entsprechend teilt die Natur, etwa ein Baum, seine Energie
mit. Balancegeräte werden auch von alten, sogar von gebrechlichen Menschen
frequentiert. Für Dehn- und Streckübungen werden neben Bäumen und eigens
dafür aufgestellten Geräten auch Mauern, Mauervorsprünge oder Eisengitter
von Zäunen genutzt. Es wird auch getanzt, neben traditionellen chinesischen
Tänzen Tango und andere südamerikanische Tänze. Walzer und Märsche sind
beliebt. Das erwähnte Nebeneinander wird besonders offensichtlich, tanzt ein
verliebtes Pärchen durch eine Gruppe von Taiji Quan-Übenden.
Manche tragen noch Pyjamas. Würde man sich bei uns rückwärts durch eine
Menschenmenge bewegen, man hielte einen wie bei vielem anderen, was in
Shanghai möglich ist, für verrückt. Zu all den Übenden sind noch zahllose
Passanten zu zählen. In der Regel scheinen die Passanten von all dem wenig
Notiz zu nehmen. Betrachtet man allerdings die als Serienbilder
aufgenommenen Fotos genauer, dann sieht man, dass die scheinbar
unbeteiligten Passanten sehr wohl hinschauen, und sei es nur einen Bruchteil
einer Sekunde. Wird wenig gelacht, so ist das auch Ausdruck der Besinnung
auf sich selbst. Und dann können sich doch da und dort, die Gründe sind für
den Außenstehenden nur schwer ersichtlich, Trauben von Zuschauern bilden.
Die Übungspraxis selbst ist wenig an Zuschauern orientiert. Und doch lässt
vieles an eine Vorführung denken, etwa die Fächertänze, die choreographisch
einstudiert sind. Aber nicht in einer Vorstellung, in der Übung liegt das
Anliegen.
Während wir an Kondition denken, unserem Körper Bewegungen abverlangen, geht
es hier um die Bewegung selbst, um bewusst wahrgenommene Bewegungen. Ganz
anders als wir scheinen die Menschen in Shanghai wenig Mühe mit festgelegten
Formen und Bewegungsabläufen zu haben. Sie scheinen diese nicht als
Einschränkung individueller Freiheit zu sehen. Ziel ist die größtmögliche
Entfaltung innerhalb vorgegebener Formen. Dies lässt an Dore Jacobs denken,
eine der frühen Körpertherapeutinnen, die davon überzeugt war, dass das
Individuelle nur in vorgegebenen Formen zur Geltung gebracht werden könne,
dass die Betonung des Individuellen nur Flachheit im Ausdruck zur Folge
habe, dass die Pflege der persönlichen Note nicht zur Entfaltung der
Individualität, sondern zu ihrer Verschüttung führe. Die Betonung des
Individuellen mache die Not zur Tugend, die Bewegungsstörung und die
Eingeschränktheit der Bewegungsphantasie auf bestimmte Darstellungsformen
zur produktiven Leistung. Entfaltung der Individualität sei nur möglich
durch Einordnung in objektive Gegebenheiten, durch Erleben des
Eingebettetseins, des Getragenwerdens. Individualität wachse ungesucht und
umso reiner, je weniger der Blick darauf gelenkt wird.
Es hat etwas für sich, den Tag damit zu beginnen, die Balance oder Mitte für
sich zu finden. Ein solches Einrenken in den Tag bedarf der Ritualisierung.
Erst in der bewusst wahrgenommenen Gewohnheit können sich Spielräume öffnen.
Lebte die Anthropologin Mary Douglas noch, in den Parks von Shanghai fände
sie ein breites Betätigungsfeld das Ritual betreffend. Hier begegnete sie
auf engstem Raum Ritualisten und Antiritualisten, hier fände sie eine Welt
mitten im Umbruch, eine Welt, in der das Traditionelle sich radikal mit
Neuem bricht. Nordic Walking ist in Shanghai bislang nur vereinzelt zu
beobachten; dagegen schießen westliche Fitness-Studios aus dem Boden wie das
Westliche allgemein als gehobener Lebensstil gilt. Und wie sollte man in
einer Riesenstadt, trotz aller Parkanlagen und Grünstreifen, noch verstehen
können, was Natur ist. Bäume werden denn oft genug auch weniger als
Energiespender, denn als Reibebäume verstanden. Auch verlangt die
Marktwirtschaft mit all ihren Technologien nach anderen Bewegungen, etwa
nach solchen in virtuellen Welten.
Bernhard Kathan / 2009