Sprechstunden im Museum
Heimatmuseen aller Art leiden zumeist an Besuchermangel. Man begegnet dem
Problem oft genug damit, Künstler und Künstlerinnen aus der Region
auszustellen. Der Erfolg hält sich in Grenzen. Man kann auch Events
organisieren, etwa Schauschlachtungen veranstalten. Ein Tierarzt ist
anwesend. Der Tötungsakt findet hinter einem Vorhang statt: "Nach dem
Schlachten zeigen Hausmetzger das Zerlegen der Schweine und die Verarbeitung
zu traditionellen Wurstsorten. Landfrauen stellen in der Museumsküche
Griebenschmalz her. Ganztags Bewirtung mit Schlachtplatte und Kesselfleisch
in der beheizten Zehntscheuer. Der Eintritt zur Metzelsuppe ist an beiden
Tagen frei. Für die Schlachtung gilt ein ermäßigter Eintritt."
Auf Einladung des "Museums in Bewegung" war ich einige Tage in einem
Ortsmuseum im Prättigau zu Gast. Das von Peter Trachsel im Prättigau
initiierte "Museum in Bewegung" zählt zweifellos zu den spannendsten
Kulturprojekten im ländlichen Raum. Dabei handelt es sich durchwegs um
soziale Eingriffe in einer der vierzehn Gemeinden des Prättigau, wobei die
eingeladenen Künstler stets mit vorhandenem Raum arbeiten (Kirchen,
Amtsstuben, Ortsmuseen, öffentliche Flächen etc.). Peter Trachsel verstand
sehr früh, dass es vorhandenen Raum in all seinen Spielarten zu nutzen gilt.
Er begann in diese Richtung zu arbeiten als ihm klar wurde, dass es keinen
Sinn mehr macht, auf den riesigen Berg von Bildern, die tagtäglich vom
Kunstbetrieb produziert werden, noch weitere hinaufzuwerfen. Statt dessen
setzte er auf Projekte, die dem sozialen Raum, Prozessen und Interaktionen
verpflichtet sind. Im ländlichen Raum ist das nicht einfach, wird doch Kunst
zumeist im Sinne der Ortsverschönerung oder als Marketingstrategie gedacht.
Die von Peter Trachsel bislang eingeladenen Künstler und Künstlerinnen, die
meisten von ihnen kamen von außen, realisierten zumeist subtile wie auch
irritierende Eingriffe, und das wohltuend abseits heutiger Werbeästhetik
oder Kreisverkehrskunst wie ähnlichen skulpturalen Dorfbehübschungen. Im
besten Fall handelte es sich um untersuchende Projekte.
Ich suchte nach einem geeigneten Ort und entschied mich nach langem Hin und
Her für das erwähnte Ortsmuseum. Peter Trachsel stellte den Kontakt her. In
diesem Museum werden neben Knochen und Fußabdrücken von Höhlenbären vor
allem Objekte früheren bergbäuerlichen Lebens gezeigt. Auch sind einige sehr
schöne Keramikgefäße, die im neunzehnten Jahrhundert hier hergestellt
wurden, ausgestellt. Archaisch in der Formsprache, gleichzeitig funktional
wie für den damaligen Markt und Geschmack gedacht. Diese Gefäße machen
deutlich, dass es die kleinbäuerliche Welt in der oft genug behaupteten
Abgeschlossenheit so nicht gab, dass jede Möglichkeit eines Ausbruchs
genutzt wurde, bot sich nur eine. Es blieb nicht bei bemalenen Tonkrügen
oder ähnlichen Gegenständen. Schließlich wurden Wasser- und Abwasserrohre
produziert, die durchaus den Standards von im 19. Jahrhundert produzierten
Waren entsprachen: normierte Röhren, Steckmodule. Gusseiserne Röhren ließen
sich allerdings billiger produzieren, weshalb die Tonröhren keine Zukunft
haben konnten.
Das Museum liegt mitten im Ort, direkt neben der Haltestelle des
Postautobusses. Ein Gebäude aus den 1960er Jahren. Ursprünglich eine
Bankfiliale. Mit leicht zu reinigenden Fließenböden. Räume, die in einem
krassen Gegensatz zu den gezeigten Objekten stehen.
Ich positionierte 6 mitgebrachte Objekte, die in Heimatmuseen üblicherweise
nicht zu sehen sind, auf Stelen. Täglich war ich zwei Stunden anwesend,
bereit, mit jedem zu sprechen. Die ersten beiden Tage wandte sich niemand an
mich. Ich hätte mich genauso gut in das benachbarte Gasthaus setzen und Bier
trinken können. Allerdings ist es ein Irrtum zu meinen, die eigene
Anwesenheit sei überflüssig, komme niemand. Nimmt man Anwesenheit ernst,
dann muss man dies mit der Haltung tun, als könnte jeden Augenblick jemand
zur Tür hereinkommen und die Sprechstunde in Anspruch nehmen. In kleineren
Museen erlebt man es nicht selten: Das Licht wird erst angeknipst, betritt
ein Besucher den Raum. Das hat etwas sehr Verschlafenes. Betrete ich solche
Räume, so ist mir, als müsste man die Geister der Vergangenheit erst einmal
wachrütteln. Aber in solcher Schläfrigkeit wachen sie nicht auf, werden sie
nicht beredt. Auch deshalb wirken all die Ansammlungen so grotesk und
langweilig. Man befindet sich in Totenkammern, die mit lebendiger
Vergangenheit verwechselt werden. Die erwähnten Tonröhren, die heute noch da
und dort auf Abbruchbaustellen zu finden sind, sind ein gutes Beispiel,
wurde doch da spannende Industriegeschichte geschrieben. Man müsste sie nur
lesen.
Während meiner Sprechstunden hatte ich den Eindruck, dass die eingefügten
Objekte wie die aufgelegten Texte sehr wohl wahrgenommen und besprochen
wurden, allerdings in meiner Abwesenheit. Eselsohren und Objekte, die nicht
mehr so da lagen wie ich sie hingelegt hatte. Jemand muss sie also
betrachtet, sich damit beschäftigt haben. Es ist nicht anzunehmen, dass es
sich dabei um das stille Volk zu Plesse oder andere Nachtgeister gehandelt
hat, von deren Existenz die in der Einschicht lebenden Bergbauern wohl bis
zur Einführung des elektrischen Stromes überzeugt waren. Die Eselsohren
verwiesen allzu deutlich auf Mitglieder des örtlichen Kulturvereines. Am
dritten Tag kamen dann doch Besucher. Es entwickelte sich eine sehr
spannende Diskussion. Als erstes wurde mir gesagt, man brauche keine
Entwicklungshilfe. In Museumsdingen hätte ich zwar einiges zu sagen, aber es
war keinesfalls meine Absicht, dem Kulturverein Möglichkeiten einer
Weiterentwicklung des Museums zu erklären.
An das Ortsmuseum dachte ich nicht ganz uneigennützig. Ich hoffte auf einen
Abgleich der Bezeichnungen von Gefäßen, die in Heimatmuseen zu sehen sind.
Nicht zufällig wählte ich die Kategorie der Gefäße, versteht sich doch jedes
Museum als eine Art Gefäß oder Behältnis. Dienen andere Behältnisse dem
Transport oder der Aufbewahrung von Flüssigkeiten, Wasser, Milch und Wein
etwa, der Aufbewahrung und dem Transport von rieselbaren Gütern wie
Getreide, Mehl oder Zucker, von Nahrungsmitteln, die wie Fette einmal fest,
dann wieder flüssig sein können, so behaupten viele Museen von sich, die
Vergangenheit zu bewahren und zu konservieren. Das Problem liegt dort, wo
sich das Konservierte nur allzu schnell in gestocktem Zustand zeigt, wie
abgekühltes Fett, ist doch alles Leben, jede Hitze des Gebrauchs aus den so
bewahrten Objekten entwichen.
Der Abgleich der Bezeichnungen wollte nicht gelingen, obwohl ein Vorgespräch
deutlich machte, dass hier viele der Gefäße andere Bezeichnungen kennen als
in einem Dorf auf der anderen Seite der Grenze. Als Sozialwissenschaftler
hätte ich es wissen müssen: Legt man eine Liste mit Bezeichnungen vor, so
neigen die Befragten dazu, eben diese Liste weitgehend zu bestätigen.
Das ab- und hochgelegene Dorf liegt an der Grenze zu Österreich. Bis in die
jüngere Vergangenheit bildete der Schmuggel für manche eine wichtige
Einnahmequelle. Während der NS-Zeit wurden auch Menschen "geschmuggelt",
damit Geld verdient. Einer meiner Freunde wählte 1938, also kurz nach dem so
genannten Anschluss Österreichs, diese Fluchtroute. Ihm gelang die Flucht
nach Palästina. Dort wollte es ihm nicht gefallen. Das wie auch seine Flucht
hat er in einem Buch ausführlich beschrieben. In den 1990er Jahren wanderte
er seine Fluchtroute in die Schweiz noch einmal ab, diesmal in Begleitung
von Freunden. Diese konnten nicht verstehen, dass er sich nur für
Alpenblumen interessierte. Nach solchen Dokumenten sucht man in Heimatmuseen
freilich vergebens. Dabei bilden sie einen wichtigen Aspekt der örtlichen
Geschichte. Aber wie ließe sich das zeigen? In unserem Gespräch tauchten
weitere Fragen auf. Ob denn all die Lawinenverbauungen angemessen seien, so
viel Geld der öffentlichen Hand, nur um den Bewohnern eines kleinen
Bergdorfes das Überleben zu sichern?
Mitglieder des Kulturvereins sind im Augenblick damit beschäftigt, eine
Tracht zu kreieren. Auch sie in ihrer abgelegenen Walsersiedlung wollten
eine Tracht haben. Trachtenvereine im In- und Ausland werden besucht oder
auch Trachtenmuseen wie das Juppenmuseum im Bregenzerwald. Die Tracht solle
in Richtung Dirndl gehen, damit sie auch von jungen Frauen getragen werde.
Die Geschichte ist brüchig. Das Tragen von Trachten war an viele Regeln
geknüpft, an das Geschlecht, das Alter, an bestimmte Anlässe gebunden, oder
auch Ausdruck von Prestige. Keinesfalls dienten Trachten dem Marketing,
mochte auch so etwas wie Stolz gegenüber jenen mitschwingen, die diese
Tracht nicht trugen. Diesbezüglich lohnt sich Gottfried Kellers Erzählung
"Verschiedene Freiheitskämpfer" aus dem Jahr 1862. Keller beschreibt
treffend den Unterschied zwischen Tracht und Uniform, die unterschiedlichen
Zugehörigkeiten, die mit solcher Kleidung zum Ausdruck kommt. Kellers
Polemik ist nicht zu übersehen.
Die angedachte Tracht, die auf Tradition verweisen soll, gab es so nie. Es
kann nur so etwas wie eine Phantasietracht herauskommen. Wie brüchig das
Projekt des Kulturvereines ist, wurde während unseres Gespräches
offensichtlich, und zwar ohne dass es von mir angesprochen worden wäre. Eine
der Frauen, auch sie ist Mitglied des Kulturvereines, meinte, sie könne
diese Tracht nicht tragen. Eine andere Frau erwiderte, selbstverständlich
dürfe auch sie die Tracht tragen. Sie sei doch Mitglied des Kulturvereines,
auch am Entwerfen der Tracht beteiligt. Wie sich im Laufe des Gespräches
herausstellte, wuchs sie nicht im Dorf, sondern im ehemaligen Jugoslawien
auf. Vor etwa zwanzig Jahren heiratete sie einen Mann aus dem Dorf, in dem
sie nun seit Jahren wohnt.
Ich machte mit R. einen Spaziergang von Fideris nach Jenaz. Dort kamen wir
mit einem sehr freundlichen älteren Herrn in ein Gespräch. Als wir uns als
Österreicher vorgestellt hatten, interessierte er sich für meinen Hut. Ich
erzählte ihm vom Hutmacher, bei dem ich den Hut gekauft habe, von einem
Kleinbetrieb, der Hüte und Pantoffeln herstellt, sich also mit den beiden
Enden des menschlichen Körpers beschäftigt. Der ältere Herr meinte, der Filz
stamme sicher aus der Türkei. Er nahm mir den Hut vom Kopf und untersuchte
ihn genau. Die grüne Zierkordel sei zu breit und nehme deshalb zu viel
Schweiß auf. Einen Hut mit einer grünen Zierkordel, so meinte er, hätte hier
vor zwanzig Jahren kein Mensch gekauft. Grün, das sei die Farbe der
"Österreicher" gewesen, die das Dorf in Schutt und Asche gelegt hätten. Das
war im frühen siebzehnten Jahrhundert. Heute sei das anders. Der freundliche
Herr trug eine Jacke mit einem Mäser-Logo. Ich meinte, das sei doch auch
einmal ein österreichisches Textilunternehmen gewesen. Ja, den Niedergang
des Unternehmens bedauere er sehr. Er habe dort viele gekannt.
Später kam ich mit einem Wirt in ein Gespräch. Er meinte, das sei doch
schrecklich, stehe in der Küche eines Restaurants ein Schwarzafrikaner
hinter dem Herd. Da könne man doch nicht von regionaler Küche sprechen. Die
könnten doch keine Kartoffelrösti machen. Wie sich später herausstellte,
stammte der Wirt selbst nicht aus der Schweiz. In einem Lokal wurden wir
wenig später von einer sehr sympathischen schwarzafrikanischen Kellnerin
bedient. Eine Frau mit Würde und Stolz, mit Umgangsformen, die sich im
hiesigen Gastgewerbe nur selten finden. Wir sehen also, dass Heimat
zahlreiche Verwerfungen kennt. Solche und ähnliche Dinge sind in diesem wie
anderen Heimat- oder Ortsmuseen kein Thema, obwohl sie von sozialer
Bedeutung sind, deutlich machen, dass es das geschlossene Dorf, die ethnisch
geschlossene Gruppe nicht mehr gibt, wohl auch nie gab. Die jungen Bauern
hätten übrigens Mühe, eine Frau im Dorf zu finden. Zumeist heirateten sie
deshalb Frauen von auswärts.
Solche Heumatmuseen kommen zustande, indem man Dorfbewohner bittet,
unterschiedlichste Objekte beizusteuern. In der Regel handelt es sich um
Objekte, die sie in anderen Museen gesehen haben. Spannend wäre ein Museum,
welches Dinge zeigt, die im Ofenloch oder auf dem Mull landen. Es müsste
mehr Sprechstunden geben, freilich nicht von der Art der Mediziner, die
nicht zuhören, aber stets davon überzeugt sind, eine Lösung anbieten zu
können. Es sollte viel mehr solcher Sprechstunden geben: in Banken,
Parlamenten, auf Tankstellen und in Schulen, in Krankenhäusern, im Wald oder
auch auf Gletschern. Ein Heimatmuseum könnte so etwas wie ein Sprech- und
Sprachraum sein.
Bernhard Kathan, Herbst 2011
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