Robert Louis Stevenson: Ein Heiligtum der Kannibalen
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Nichts erregt heftiger unsern Abscheu als der Kannibalismus, nichts
erschüttert mit größerer Sicherheit die menschliche Gesellschaft, nichts, so
könnten wir schließen, muß die Gemüter derjenigen, die ihm anhängen, sosehr
verhärten und entwürdigen. Und doch machen wir auf Buddhisten und Vegetarier
einen ganz ähnlichen Eindruck. Wir verzehren die Leiber von Geschöpfen, die
uns verwandte Neigungen, Leidenschaften und Organe haben, wir essen Junge,
wenn auch nicht unsere eigenen, und der Schlachthof hallt täglich wider von
Schreien der Qual und Furcht. Wir machen Unterschiede, das ist wahr, aber
die Abneigung vieler Nationen gegen das Fleisch von Hunden, Tieren also, mit
denen wir aufs innigste zusammenleben, zeigt, wie fragwürdig die
Unterscheidungen begründet sind. Das Schwein ist die Hauptnahrung der
Eingeborenen auf den Inseln, und ich hatte oft Gelegenheit, da meine
Phantasie durch die Kannibalenumgebung angeregt war, den Charakter dieses
Tieres und die Art seines Todes zu beobachten. Viele Insulaner leben mit den
Schweinen wie wir mit unseren Hunden; beide bewegen sich in gleicher
Freiheit in der Nähe des häuslichen Herdes, und das Inselschwein ist ein
Kerl voll Lebendigkeit, Unternehmungslust und Klugheit. Es schält seine
Kokosnüsse selbst und rollt sie, wie man mir erzählte, in die Sonne, damit
sie platzen; es ist der Schrecken der Schafhirten!. Die alte Frau Stevenson
beobachtete, wie eines in die Wälder flüchtete mit einem Lamm in der
Schnauze, und ich sah, wie eines plötzlich zu der Überzeugung kam, die
»Casco« ginge unter; es schwamm durch die Sturzwellen zur Reeling, um sich
zu retten. Man erzählte mir in der Jugendzeit, daß Schweine nicht schwimmen
können; ich habe eines gekannt, das über Bord sprang, vierhundert Meter
schwamm bis zur Küste und zum Hause des früheren Besitzers zurückkehrte. Ich
hatte einst, in Tautira, eine Schweinezüchterei von ziemlichem Ausmaß;
zunächst herrschte in meinem Stall äußerste Zutraulichkeit; eine junge Sau
mit Leibschmerzen kam herbei und flehte wie ein Kind um Hilfe; und ein
stattlicher schwarzer Eber, den wir Catholicus nannten, weil er ein
Sondergeschenk der Katholiken des Dorfes war, zeigte sehr bald Mut und
Freundschaftlichkeit. Kein anderes Tier, weder Hund noch Schwein, durfte
sich ihm nähern, wenn er fraß, und für menschliche Wesen bewies er das
höchste Maß jener untertänigen Zuneigung, die den niederen Tieren eigen ist.
Eines Tages sah ich beim Besuch der Schweineställe zu meinem Erstaunen, daß
Catholicus sich mit Schreckensschreien vor jeder Annäherung zurückzog, und
wenn ich über diese Veränderung verwundert war, so erschrak ich tatsächlich,
als ich die Ursache erfuhr. Eines der Schweine war an jenem Morgen
geschlachtet worden, Catholicus hatte den Mord beobachtet, er hatte
entdeckt, daß er zwischen Schlachtbänken lebte, und von dieser Zeit waren
Vertrauen und Lebenslust dahin. Wir verschonten ihn noch eine ganze Weile,
aber er konnte den Anblick zweibeiniger Wesen nicht mehr ertragen, und wir
unsererseits konnten unter diesen Umständen nicht ohne Verwirrung seinen
Blicken begegnen. Ich habe übrigens dem Akt des Schlachtens in Hörweite
beigewohnt; ich glaube, ich hätte vielleicht die Schmerzensschreie des
Opfers ertragen, aber die Hinrichtung ging nicht glatt vonstatten, und der
Ausdruck seines Entsetzens wirkte ansteckend: dies kleine Herz schlug nach
derselben Melodie wie das unsere. Auf solchen »Fundamenten des Schreckens«
ruht das Leben des Europäers, und doch gehört der Europäer zu den weniger
grausamen Rassen. Die Schreckenskammer des Mordes, die brutale Zurichtung
der Nahrung wird den Blicken verborgen; äußerste Empfindlichkeit herrscht an
der Oberfläche, und Damen fallen in Ohnmacht, wenn man ihnen einen Bruchteil
dessen schildert, was sie von ihren Metzgern täglich verlangen. Menschen
werden sich in ihrem Innersten auch gegen mich empören wegen der Roheit
meiner Worte. Und so steht es um die Inselkannibalen. Sie waren nicht
grausam; abgesehen von dieser Sitte sind sie eine der liebenswürdigsten
Menschenrassen; geradeheraus gesagt ist es weit weniger hassenswert, das
Fleisch eines Menschen nach seinem Tode zu essen, als ihn zu Lebzeiten zu
unterjochen, und selbst die Opfer ihres Appetits wurden im Leben nachsichtig
behandelt und schließlich rasch und schmerzlos ins Jenseits befördert. In
vornehmen Insulanerkreisen galt es ohne Zweifel als geschmacklos, bei dem,
was widerwärtig war an dieser Sitte, länger zu verweilen.
Kannibalismus läßt sich von einem Ende des Pazifischen Ozeans bis zum andern
nachweisen, von den Marquesas bis Neuguinea, von Neuseeland bis Hawaii, bald
in vollster Blüte, bald in geringen, aber charakteristischen Überbleibseln.
In Hawaii ist er am zweifelhaftesten. Wir finden Kannibalismus in
hawaiischen Chroniken nur einmal in der Geschichte eines Krieges
verzeichnet, scheinbar für eine Ausnahme gehalten, wie etwa bei jenen
Verbrechern aus den Gebirgen, die durch die Hand des Theseus fielen. In
Tahiti hat sich ein einziger Beweis erhalten, aber er scheint schlußkräftig
zu sein. In historischen Zeiten bot man, wenn Menschenopfer in den Tempeln
dargebracht wurden, die Augen des Getöteten in aller Form dem Häuptling an:
eine Delikatesse für den vornehmen Gast. Ganz Melanesien scheint verseucht.
In Mikronesien, auf den Marschallinseln, die ich nur als Tourist kenne,
konnte ich nicht die geringste Spur finden, und selbst in der Gilbertzone
habe ich lange vergeblich geforscht und nachgefragt. Man erzählte mir
allerdings Geschichten von Menschen, die während einer Hungersnot verspeist
worden seien, aber das besagt nichts für mich, denn ähnliche Dinge geschahen
unter demselben Druck bei allen Rassen und Generationen. Schließlich traf
ich in einigen handschriftlichen Aufzeichnungen von Dr. Turner, die man mir
in Malua einzusehen gestattete, auf einen vernichtenden Beweis: auf der
Insel Onoatoa war die Strafe für Diebstahl, getötet und gegessen zu werden.
Wie können wir diesen allgemeinen Brauch in einem so großen Gebiet erklären,
unter Völkern so verschiedener Zivilisation und, trotz aller Vermischung, so
verschiedenen Blutes? Welche Lebensbedingung war ihnen allen gemeinsam außer
der, daß sie auf Inseln lebten, die keine oder nur geringe Fleischnahrung
boten? Ich kann aus meinem Appetit nur schließen, daß es dem Menschen nicht
bestimmt ist, nur von Pflanzenkost zu leben. Wenn unsere Vorräte auf den
Inseln abnahmen, sehnte ich mich nach dem Tage, da die Sparsamkeit uns
erlaubte, wieder einmal eine Büchse minderwertigen Hammelfleisches zu
öffnen. Und in mindestens einer ozeanischen Sprache gibt es ein besonderes
Wort für den Zustand, wenn der Mensch »hungrig auf Fisch« ist, Gemüse ihm
nicht mehr genügen und seine Seele wie die der Hebräer in der Wüste sich
nach Fleischtöpfen sehnt. Nimmt man die Beweise für Übervölkerung und
drohende Hungersnöte hinzu, die wir bereits angeführt haben, so hat man
meines Erachtens einigen Grund, mit den Inselkannibalen Nachsicht zu üben.
Man muß jedes Problem von zwei Seiten betrachten, aber es liegt mir fern,
dies mehr als bestialische Laster entschuldigen zu wollen. Die
höherstehenden polynesischen Rassen, wie die Tahitier, Hawaiier und
Samoaner, waren über diese Sitte alle hinausgewachsen, und manche hatten sie
teilweise schon vergessen, als Cook und Bougainville mit ihren Segelschiffen
am Horizont auftauchten. Sie hielt sich nur auf einigen niedrigen Inseln, wo
der Lebensunterhalt schwierig zu gewinnen ist, und unter unverbesserlichen
Wilden wie den Neuseeländern und Marquesanern. Die Marquesaner verknüpften
die Menschenfresserei mit dem ganzen Gewebe ihres Daseins, »Langschwein« war
gewissermaßen Zahlungsmittel und Sakrament, es war der Lohn des Künstlers,
betonte die historischen Erinnerungstage und war Anlaß und Höhepunkt jedes
Festes. Heute müssen sie diese blutrünstige Verquickung büßen. Die
Zivilverwaltung mußte in ihrem Kreuzzug gegen den Kannibalismus alle
marquesanischen Künste und Belustigungen unterdrücken, fand sie ohne
Ausnahme mit kannibalischen Elementen durchsetzt und brachte sie
nacheinander auf die Liste der Verbote. Ihre Kunst im Tätowieren war
einzigartig, die Ausführung wundervoll, die Zeichnungen herrlich und
überwältigend, kein schönerer Schmuck für schöne Menschen! Anfangs mag es
etwas Schmerz bereiten, aber ich bezweifle, ob es auf die Dauer so qualvoll
ist wie die unedle europäische Damensitte des Schnürens, und sicher ist es
viel gesünder. Und nun wurde es für notwendig befunden, diese Kunst zu
untersagen. Ihre Gesänge und Tänze waren zahlreich, und das Gesetz mußte sie
dutzendweise abschaffen. Sie stehen heute mit leeren Händen der Öde
ereignisloser Tage gegenüber, und wer soll sie bemitleiden? Der
Sanftmütigste muß gestehen, daß ihnen recht geschehen ist.
Der Tod allein konnte marquesanische Rache nicht befriedigen, das Fleisch
des Opfers mußte gegessen werden. Der Häuptling, der Mr. Whalon
gefangennahm, hatte den sehnlichsten Wunsch, ihn zu verspeisen, und glaubte
sich gerechtfertigt, als er erklärte, es handle sich um einen Racheakt. Vor
zwei oder drei Jahren ergriffen und töteten Talbewohner einen armen Wicht,
der sie beleidigt hatte. Vermutlich war die Beleidigung schwer, sie konnten
ihre Rache nicht unvollkommen lassen, und unter den Augen der Franzosen
wagten sie nicht, ein öffentliches Gastmahl abzuhalten. Der Leichnam wurde
also verteilt, jeder zog sich in sein Haus zurück, um den Ritus im geheimen
zu vollziehen, und trug seinen Anteil an dem entsetzlichen Gericht in einer
schwedischen Zündholzschachtel heim. Der Barbarismus des Dramas und die
europäischen Gebrauchsgegenstände bieten der Phantasie Bilder ungeheuren
Kontrastes. Aber noch bezeichnender ist ein anderer Vorfall aus dem Jahre
1888, als ich mich selbst dort befand. Im Frühling trieben sich ein Mann und
eine Frau in der Nähe der Schule von Hiva-oa umher, bis sie ein bestimmtes
Kind allein antrafen. »Bist du der und der, der Sohn von Soundso?« fragten
sie und lockten es unter Liebkosungen tiefer hinein in die Wälder. Irgendein
Instinkt erwachte in der Brust des Kindes, oder irgendein Blick verriet ihm
das entsetzliche Vorhaben der Betrüger. Es versuchte ihnen zu entfliehen und
schrie, aber sie ließen die Maske fallen, packten es fester und fingen an zu
laufen. Seine Schreie wurden gehört, Schulkameraden, die in der Nähe
spielten, eilten zu seiner Rettung herbei, aber das grausame Paar floh und
verschwand in den Wäldern. Es wurde nie ermittelt, kein Strafgericht folgte,
aber man nahm allgemein an, daß sie Groll hegten gegen den Vater des Knaben,
den sie aus Rache zu verspeisen beschlossen. Überall auf den Inseln kann
man, wie bei unseren Vorfahren, beobachten, daß der Rächer es nicht auf eine
bestimmte Person absieht. Familie, Klasse, Dorf, ein ganzes Tal oder eine
Insel, ein ganzer Stamm haben teil an der Schuld eines ihrer Angehörigen. So
mußte in unserer Erzählung der Sohn an Stelle des Vaters büßen, und Mr.
Whalon, der Steuermann eines amerikanischen Walfischfängers, sollte für die
Freveltaten eines peruanischen Sklavenhändlers bluten und verspeist werden.
Ich erinnere mich eines Vorfalls in Jaluit auf der Marschallgruppe, den mir
ein Augenzeuge berichtete, und den ich hier wiedergebe wegen seiner
Eigenartigkeit. Zwei Männer hatten das Mißfallen der Jaluithäuptlinge
erregt, und ihre Frauen wurden zur Bestrafung herangezogen. Ein einzelner
Eingeborener vollzog die Hinrichtung. Am frühen Morgen watete er angesichts
einer großen Menschenmenge zwischen seinen Opfern hinaus zu den Riffen. Die
Frauen klagten und sträubten sich nicht, begleiteten geduldig ihren Henker,
tauchten auf seinen Befehl unter, als sie tief genug hineingelangt waren, er
legte seine Hand auf die Schultern der beiden und hielt sie unter Wasser,
bis sie ertrunken waren. Ohne Zweifel standen ihre Familien laut wehklagend
am Ufer, obgleich mein Gewährsmann mir nichts darüber berichtete.
Von Hatiheu aus besuchte ich zum erstenmal einen Hochsitz des Kannibalismus.
Der Tag war schwül und trübe. Heftige Tropenschauer wechselten mit glühendem
Sonnenschein. Der grüne Fußpfad wand sich steil aufwärts. Unser kleiner
Führer, ein Schuljunge, ging etwas voraus, und Pater Simeon hatte sein
Skizzenbuch in der Hand, benannte die Bäume für mich und las mir aus seinen
Notizen laut ihre Hauptvorzüge vor. Plötzlich bot der ansteigende Weg einen
freieren Ausblick in das Tal von Hatiheu, und der Priester deutete, indem er
den Führer gelegentlich fragte, die Grenzlinien an und nannte mir die Namen
der größeren Stämme, die früher in ewigem Kriege miteinander lagen: einer
wohnte im Nordosten, ein anderer am Strand, der dritte dahinten auf den
Bergen. Mit einem Überlebenden des letzteren hatte Pater Simeon gesprochen:
bis zum Friedensschluß war er nie bis zur Meeresküste gekommen und hatte,
wenn ich mich recht erinnere, niemals Seefische gegessen. Die Stämme lebten
abgeschlossen für sich in ihrem Distrikt, eingepfercht und belagert. Kam
eine Hungersnot, so mußten die Männer in die Wälder gehen, um Kastanien und
kleine Früchte zu sammeln; selbst heute noch müssen die Schulen geschlossen
und die Schüler zum Proviantieren ausgesandt werden, wenn die Eltern mit
ihren wöchentlichen Abgaben im Rückstand sind. Aber in alten Zeiten
herrschte bei allen Nachbarn höchste Tätigkeit, wenn ein Stamm in
Schwierigkeiten war, man legte überall in den Wäldern Hinterhalte, und wer
für sich selbst Früchte sammeln wollte, konnte schließlich als Braten für
seine Erbfeinde enden. Es bedurfte nicht einmal einer besonderen
Veranlassung. Ein Dutzend verschiedener Naturanzeichen und sozialer
Ereignisse trieben dies Volk auf den Kriegspfad und zur Menschenjagd. Mochte
jemand von Häuptlingsrang seine Tätowierung beendet haben, das Weib eines
anderen sich ihrer Niederkunft nähern, zwei der Bergströme ihr Bett näher
zur Bucht von Hatiheu verlegt haben, der Gesang eines gewissen Vogels
gehört, eine bestimmte bedeutungsvolle Wolkenbildung über der nördlichen See
beobachtet worden sein: sofort wurden die Waffen geölt, und die
Menschenjäger schwärmten durch den Wald und legten ihre Fallen für den
Brudermord. Es scheint auch, daß sich der Priester bisweilen, vielleicht bei
einer Hungersnot, in sein Haus einschloß, wo er eine bestimmte Zeit wie tot
dalag. Kam er wieder zum Vorschein, so rannte er drei Tage lang nackt und
ausgehungert durch das Gebiet des Stammes und schlief nachts allein auf dem
Hochsitz. Dann mußten die andern das Haus hüten, denn es bedeutete Tod, dem
Priester auf seinen Runden zu begegnen. Am Abend des vierten Tages war der
Lauf zu Ende, der Priester kehrte zu seiner Wohnung zurück, das Volk
erschien wieder, und am Morgen wurde die Zahl der Opfer verkündet. Ich kann
diese Erzählung von dem Priester nur auf eine Autorität - ich glaube, eine
gute - zurückführen. Die Einzelheiten sind so sonderbar, daß ich annehme,
man hätte sie öfter erwähnen müssen, wenn sie wahr wären. Über einen Punkt
scheint kein Zweifel: die Festessen wurden manchmal mit Material aus dem
eigenen Stamm bestritten. In Zeiten des Mangels hatten alle, die nicht durch
Familienbeziehungen geschützt waren - nach einem schottischen
Hochlandsausdruck alle Gemeinen der Sippe - Ursache zu zittern. Widerstand
oder Flucht waren vergeblich und fruchtlos. Sie waren auf allen Seiten von
Kannibalen eingeschlossen, und der Bratofen stand bereit für sie draußen im
Lande der Feinde oder zu Hause im Tal ihrer Väter.
An einer bestimmten Ecke des Weges bog unser jugendlicher Führer zur Linken
ab in die Dämmerung des Waldes. Wir befanden uns nun auf einem der uralten
Eingeborenenpfade, eingebettet in hohe Waldgewölbe, scheinbar ziellos
hinaufkletternd über Steinblöcke und abgestorbene Bäume, aber der Junge wand
sich ein und aus, hinauf und hinunter, ohne Zögern, denn diese Wege sind für
die Eingeborenen so gut zu erkennen wie für uns eine königliche Heerstraße,
so daß man sie in den Zeiten der Menschenjagden sogar zu verrammeln oder
unkenntlich zu machen versuchte, anstatt sie zu verbessern. In der Höhle des
Waldes war die Luft feucht und heiß und kalt, zu unseren Häupten rauschte
der Tropenregen brausend auf die Blätter nieder, aber nur hier und da fiel
wie durch Löcher eines lecken Daches ein einzelner Tropfen herab und machte
einen Fleck auf meinen Regenmantel. Nach einer Weile stand der gewaltige
Stamm eines Banyan vor uns, er schien zwischen den Ruinen eines uralten
Forts zu wurzeln, und unser Führer hielt an, streckte den Arm aus und
verkündete, daß wir beim »paepae tapu« angelangt seien.
Paepae bezeichnet einen Fußboden oder eine Plattform, auf der ein
Eingeborenenhaus errichtet wird, und selbst solch ein Paepae, ein »paepae
hae«, kann in einem gewissen Sinne als tabu bezeichnet werden, wenn es
verlassen und von Geistern bewohnt ist. Aber der öffentliche Hochsitz, den
ich jetzt betrat, war eine außerordentlich wichtige Stätte. Soweit mein Auge
das dichte Unterholz durchdringen konnte, war der Boden des Waldes
gepflastert. Drei Terrassenstufen liefen am Abhang des Hügels entlang; davor
umschloß eine abbröckelnde Rampe die Hauptarena, deren Bodenbelag an
verschiedenen Stellen von Brunnenlöchern durchbohrt und von kleinen Gehegen
unterbrochen war. Vom Oberbau war keine Spur mehr erhalten, der Bauplan des
Amphitheaters war schwer zu erkennen. Ich besuchte einen anderen Hochsitz
auf Hiva-oa, kleiner aber vollkommener, wo man deutlich Sitzreihen und
isolierte Ehrenplätze für hervorragende Persönlichkeiten wahrnehmen konnte,
und wo auf der oberen Plattform ein einzelner Gerüstbalken des Tempels oder
Totenhauses stehengeblieben war, dessen Pfeiler reich geschnitzt waren. In
alten Zeiten wurde der Hochsitz sorgfältig gepflegt. Kein Baum außer dem
heiligen Banyan durfte auf seinen Stufen wuchern, kein welkes Blatt auf dem
Bodenbelag verfaulen. Die Steine waren sorgsam gelegt, und man erzählte mir,
daß man ihnen durch Öl Glanz verlieh. Auf allen Seiten waren Wächter in
Schutzhütten untergebracht, um den Platz zu behüten und zu reinigen. Der Fuß
keines anderen Menschen durfte sich ihm nähern, nur der Priester kam in den
Zeiten der Läufe zum Schlafe dorthin und träumte vielleicht von seiner
gottlosen Sendung. Aber zur Zeit des Festes erschien der ganze Stamm
geschlossen auf dem Hochsitz, jeder einzelne hatte seinen bestimmten Platz.
Es gab Sitze für die Häuptlinge, den Trommler, die Tänzer, die Frauen und
die Priester. Die Trommeln, etwa zwanzig an der Zahl, manche zwölf Fuß hoch,
erdröhnten unaufhörlich im Takt. Im Takt ließen die Sänger ihren
langgezogenen, finsteren, heulenden Gesang ertönen, im Takt schritten und
sprangen auch die Tänzer einher, wunderbar zierlich, herausgeputzt, sie
schwärmten gestikulierend umher und ließen ihre federgeschmückten Finger wie
Schmetterlinge durch die Luft flattern. Die Empfindung für den Rhythmus ist
bei allen ozeanischen Völkern außerordentlich stark ausgeprägt, und mir
scheint, als ob bei solchen Festen jeder Ton und jede Bewegung in eins
verschmolz. Um so einheitlicher mußte die Erregung der Festteilnehmer
wachsen, und um so wilder mußte die Szene jedem Europäer erscheinen, der sie
dort in greller Sonne und im tiefsten Schatten der Banyanen beobachtet
hätte: eingerieben mit Saffran, um die Arabesken der Tätowierung höher
hervortreten zu lassen, die Frauen in tagelanger Zurückgezogenheit zu
beinahe europäischer Hautfarbe gebleicht, die Häuptlinge gekrönt mit
silbernen Federn aus Barthaaren alter Männer und gegürtet mit Haarsträngen
toter Frauen. Inselgerichte aller Art wurden inzwischen für die Frauen und
Männer aus dem Volke aufgetragen; und für diejenigen, die das Vorrecht
hatten, davon zu essen, wurden Körbe mit »Langschwein« zum Totenhaus
geschleppt. Man erzählt, daß sich die Feste lange ausdehnten, das Volk
kehrte erschöpft von den tierischen Ausschweifungen heim, die Häuptlinge
gestopft voll von ihrer bestialischen Speise. Gewisse Gefühle nennen wir
ausdrücklich menschlich, und wir verweigern denen, die ihrer entraten, diese
ehrenvolle Bezeichnung. Bei solchen Festen -, besonders wenn das Opfer in
der eigenen Heimat erschlagen war und die Leute die Überreste eines armen
Kameraden verspeisten, der mit ihnen in der Jugend gespielt, oder einer
Frau, deren Gunst sie einst genossen - wurden alle diese Empfindungen mit
Füßen getreten. Überlegt man sich alles das eingehender, so versteht, ja
verzeiht man die eifernde Gerechtigkeit alter Schiffskapitäne, die ihre
Kanonen laden und Feuer eröffnen ließen auf eine Kannibaleninsel, die sie
passierten.
Und doch war es sonderbar. Dort, am Hochsitz selbst, als ich unter dem
hohen, tropfenden Gewölbe des Urwaldes stand, den jungen Priester in seiner
Kutte auf der einen, den helläugigen, marquesanischen Schulknaben auf der
anderen Seite, schienen alle diese Dinge unendlich fernzuliegen, in der
kühlen Perspektive und dem kalten Licht der Geschichte. Vielleicht
beeinflußte mich das Benehmen des Priesters. Er lächelte, er scherzte mit
dem Knaben, dem Nachkommen sowohl der Festteilnehmer wie der Opfer, er
klatschte in die Hände und sang mir eine Strophe der alten grausigen
Chorgesänge vor. Jahrhunderte mochten vergangen sein, seit das furchtbare
Spiel auf diesem Theater zum letzten Male aufgeführt worden war, und ich
betrachtete den Platz ohne größere Erregung, als ich sie bei einem Besuch
von Stonehenge empfunden hätte. Als ich in Hiva-oa wahrnahm, daß die Sitte
verborgen dicht neben mir noch lebte, so daß ich des Aufschreis eines in die
Falle gegangenen Opfers möglicherweise gewärtig sein mußte, versagte die
historische Betrachtungsweise vollständig, und ich verspürte einige
Abneigung gegen die Eingeborenen. Aber auch hier bewahrten die Priester ihre
Heiterkeit, sie neckten die Kannibalen, als ob es sich um absonderliche,
nicht aber um entsetzliche Dinge handele, und suchten sie durch gutmütigen
Witz und Erweckung des Schamgefühls von der Sitte abzubringen, wie man ein
Kind beschämt, um es vom Zuckernaschen zu entwöhnen. Wir können hier den
milden und klugen Geist des Bischofs Dordillon wiedererkennen.
Nachbemerkung:
"Wir essen die Körper von Kreaturen, die das gleiche verzehren, die gleichen
Empfindungen und die gleichen Organe haben wie wir. Wir ernähren uns von
Kindern, wenn auch nicht von unseren eigenen, und die Schlachthäuser hallen
täglich wider von den Schreien der Angst und des Schmerzes." Einer von
vielen Sinnsprüchen, die sich auf Internetseiten von Tierschützern finden.
Es lohnt sich, den ganzen Text von Robert Louis Stevenson zu lesen, dem das
Zitat entnommen ist. Tierrechtler betrachten den Fleischverzehr als eine Art
Kannibalismus. Stevenson bemüht in seiner Beschreibung kannibalistischer
Praktiken den gewöhnlichen Fleischverzehr. Sein Text liest sich als Dokument
der Geschichte der Empfindsamkeit. Dass die von ihm beschriebenen Praktiken
in mancherlei Hinsicht im Widerspruch zum ethnologischen Wissen unserer Zeit
stehen, tut dem keinen Abbruch. Immerhin wusste er diesen, so grausam sie
ihm erschienen, manches abzugewinnen. Zweifellos würde dies heute angesichts
von Drohnenkriegen, bei denen jene, die töten, nie auf die von ihnen
Getöteten treffen, noch mehr wiegen. Kriege, in denen die Opfer verzehrt
werden müssen, können nicht ausufern. Das Fassungsvermögen menschlicher
Mägen ist begrenzt. All die damit verbundenen Rituale kosten mehr Energie
als an Protein dem Körper zugeführt werden kann. Stevenson ahnte das
Sakramentale kannibalistischer Praktiken: "So wurde die Leiche zerteilt, und
jeder zog sich in sein eigenes Haus zurück, um insgeheim die Riten zu
vollziehen. Dazu nahm er seinen Anteil an dem gräßlichen Fleisch in einer
schwedischen Zündholzschachtel mit heim."
Der Text ist Stevensons 1896 erstmals erschienenen Reiseberichten "In the
South Seas" entnommen. Eine Übersetzung ist beim Unionsverlag erhältlich.
Weiterführende Literatur zur Geschichte der Empfindsamkeit: Henning Ritter,
"Nahes und fernes Unglück. Versuch über das Mitleid", Verlag C.H. Beck,
München 2004; ders. "Die Schreie der Verwundeten. Versuch über die
Grausamkeit, Verlag C.H. Beck, München 2013.
Zur Geschichte kannibalistischer Praktiken: Jean de Léry, "Brasilianisches
Tagebuch 1557", Tübingen und Basel 1967; Dominik Schröder / Anton Quack,
"Kopfjagdriten der Puyuma von Katipol", Anthropos-Institut, St. Augustin
1979.
B.K. 2014