Stille
Ein geschützter Ort im Freien, abseits von Wohngebieten und
Industrieanlagen, ein Ort, an dem es abends oft sehr ruhig ist. Eine
angenehme Sitzgelegenheit. Ein Aschenbecher. Ein Getränk nach Wahl. Eine
Taschenlampe. Lädt man ein, diesen Ort allein zu nutzen, so mangelt es nicht
an Reaktionen: „du sprichst mir sooooo aus der Seele …“ – Ich möchte auch
Ruhe haben, nichts mehr hören“ – „Nichts angenehmer als Stille.“
Erstaunlicherweise nehmen dann nur wenige die Gelegenheit wahr. Wer will
schon stundenlang allein sitzen? In dunkler Nacht, an einem Ort, der einem
nicht vertraut ist? Stille wird gemeinhin mit Angenehmem assoziiert.
Tatsächlich kann Stille sehr unangenehm sein, auch laut, beginnt man doch
Dinge zu hören, die wir im Alltag nicht wahrnehmen.
Da potentielle Besucher hohe Hürden zu nehmen hatten (Zugang nur nach
Kontaktaufnahme und Terminvereinbarung, nur Einzelpersonen, nächtliches und
fremdes Umfeld etc.), waren von Anfang nur wenige Besucher zu erwarten. Klar
war, dass das Projekt letztlich auf ein Selbstexperiment hinauslaufen wird,
ganz im Sinne von Wilhelm Wundt, des Begründers der Experimentalpsychologie.
Kam kein Besucher, habe ich, abgesehen von wenigen Abenden, an denen es
heftig regnete, den Platz eines abwesenden Besuchers eingenommen und mich
allein in die nächtlichen Geräusches des Umfeldes hinein gehört. Hört sich
einfacher an, als es ist. Zu meiner Überraschung reagierte mein Körper mit
allerlei Beschwerden, vor allem mit Ohrenschmerzen(!). Im Gegensatz zu den
vielen Abenden, die ich in den Monaten oder Jahren zuvor auf diese Weise
verbrachte, war ich nun gezwungen, wirklich drei Stunden zu sitzen und zu
hören. Hatte ich keine Lust, so musste ich mir Disziplin abverlangen.
Störenden Geräuschen, etwa den hohen Tönen ferngesteuerter Autos, die an
manchen Abenden vom nahen Parkplatz zu hören waren, konnte ich nicht
ausweichen. Andererseits nahm ich etwa Bewegungen der Nachtohreulen wie
minimale Veränderungen in ihren Rufen viel deutlicher wahr.
Ginge man von Besucherzahlen aus, dann müsste man dieses Projekt als
gescheitert betrachten. Anders ist es, denkt man an die dabei gesammelten
Erfahrungen. Genaugenommen müsste wesentlich intensiver in diese Richtung
gearbeitet, geforscht und experimentiert werden. Ruhe lässt sich nicht
einfach anbieten. Man denke etwa an die unsägliche „Ruheinsel“ auf der Insel
Mainau, die zwar Ruhe verspricht, bei der aber alle Regeln missachtet
werden, die dafür Voraussetzung wären: „Raus aus dem Alltag – Jedoch wohin?
Treten Sie ein. Hinein in die SONNE. Lassen Sie sich überraschen und
genießen Sie die Ruheinsel, bevor Sie in den Alltag zurückkehren.“ Hinter
einer Abschirmung Ruheliegen. Kaum hat man sich hingelegt, ist man den
Blicken Nachströmender ausgesetzt, die in die Ruheinsel drängen, aber es bei
so vielen Störungen lieber vorziehen, zum nächsten Versprechen zu gehen. Im
Gegensatz dazu überzeugen mich die gesammelten Erfahrungen vor allem dort,
wo ich mich vor allem mit dem Setting beschäftigt habe. Nicht zuletzt war
ich strikt der Empirie verpflichtet. Nie ließ ich mich von Stimmungen leiten
die gemeinhin mit „Leere“, „Stille“; „Ruhe“ etc assoziiert werden.
Nicht nur in ökologischer Hinsicht steht die Menschheit heute vor
grundlegenden Herausforderungen. Die immer noch wachsende Weltbevölkerung
wie sich verknappende Ressourcen werden ein bescheideneres Leben erzwingen
oder notwendig machen. Dies muss nicht unbedingt mit Armut einhergehen. Im
Gegenteil. Soll dies der Fall sein, so wird neben anderem eine Schulung
unserer Sinne gefordert sein, vor allem der Nahsinne. Wessen Sinne gebildet
sind, der wird kaum anfällig sein für sinnlosen Konsum. In einer Zeit, in
der man dem drohenden Bedeutungsverlust von Information zumeist nur noch mit
einer Reizwertsteigerung begegnen kann, muss man konsequent an
Erfahrungsräumen arbeiten, auf Leere, auf das Nichts setzen. Heute gilt es,
Erfahrungsräume zu öffnen, Räume, die nicht dem passiven Konsum wie den
Regeln und Zwängen der Ökonomie unterliegen, Räume, welche die eigene
Wahrnehmung betonen.
Bernhard Kathan, 2012
Buchhinweis:
Bernhard Kathan, „Stille“, Limbus Verlag, 102 Seiten. Kartoniert. EUR 9,90.
ISBN 978-3-902534-74-3
Bestellungen direkt über den Verlag per Mail unter buero@limbusverlag.at
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Keine Angst, mit Büchern, die mit Vorliebe um die Weihnachtszeit in
Buchhandlungen aufliegen, hat dieses Buch nichts zu tun.