Stille



Bild: Bernhard Kathan


Ein geschützter Ort im Freien, abseits von Wohngebieten und Industrieanlagen, ein Ort, an dem es abends oft sehr ruhig ist. Eine angenehme Sitzgelegenheit. Ein Aschenbecher. Ein Getränk nach Wahl. Eine Taschenlampe. Lädt man ein, diesen Ort allein zu nutzen, so mangelt es nicht an Reaktionen: „du sprichst mir sooooo aus der Seele …“ – Ich möchte auch Ruhe haben, nichts mehr hören“ – „Nichts angenehmer als Stille.“ Erstaunlicherweise nehmen dann nur wenige die Gelegenheit wahr. Wer will schon stundenlang allein sitzen? In dunkler Nacht, an einem Ort, der einem nicht vertraut ist? Stille wird gemeinhin mit Angenehmem assoziiert. Tatsächlich kann Stille sehr unangenehm sein, auch laut, beginnt man doch Dinge zu hören, die wir im Alltag nicht wahrnehmen.

Da potentielle Besucher hohe Hürden zu nehmen hatten (Zugang nur nach Kontaktaufnahme und Terminvereinbarung, nur Einzelpersonen, nächtliches und fremdes Umfeld etc.), waren von Anfang nur wenige Besucher zu erwarten. Klar war, dass das Projekt letztlich auf ein Selbstexperiment hinauslaufen wird, ganz im Sinne von Wilhelm Wundt, des Begründers der Experimentalpsychologie. Kam kein Besucher, habe ich, abgesehen von wenigen Abenden, an denen es heftig regnete, den Platz eines abwesenden Besuchers eingenommen und mich allein in die nächtlichen Geräusches des Umfeldes hinein gehört. Hört sich einfacher an, als es ist. Zu meiner Überraschung reagierte mein Körper mit allerlei Beschwerden, vor allem mit Ohrenschmerzen(!). Im Gegensatz zu den vielen Abenden, die ich in den Monaten oder Jahren zuvor auf diese Weise verbrachte, war ich nun gezwungen, wirklich drei Stunden zu sitzen und zu hören. Hatte ich keine Lust, so musste ich mir Disziplin abverlangen. Störenden Geräuschen, etwa den hohen Tönen ferngesteuerter Autos, die an manchen Abenden vom nahen Parkplatz zu hören waren, konnte ich nicht ausweichen. Andererseits nahm ich etwa Bewegungen der Nachtohreulen wie minimale Veränderungen in ihren Rufen viel deutlicher wahr.

Ginge man von Besucherzahlen aus, dann müsste man dieses Projekt als gescheitert betrachten. Anders ist es, denkt man an die dabei gesammelten Erfahrungen. Genaugenommen müsste wesentlich intensiver in diese Richtung gearbeitet, geforscht und experimentiert werden. Ruhe lässt sich nicht einfach anbieten. Man denke etwa an die unsägliche „Ruheinsel“ auf der Insel Mainau, die zwar Ruhe verspricht, bei der aber alle Regeln missachtet werden, die dafür Voraussetzung wären: „Raus aus dem Alltag – Jedoch wohin? Treten Sie ein. Hinein in die SONNE. Lassen Sie sich überraschen und genießen Sie die Ruheinsel, bevor Sie in den Alltag zurückkehren.“ Hinter einer Abschirmung Ruheliegen. Kaum hat man sich hingelegt, ist man den Blicken Nachströmender ausgesetzt, die in die Ruheinsel drängen, aber es bei so vielen Störungen lieber vorziehen, zum nächsten Versprechen zu gehen. Im Gegensatz dazu überzeugen mich die gesammelten Erfahrungen vor allem dort, wo ich mich vor allem mit dem Setting beschäftigt habe. Nicht zuletzt war ich strikt der Empirie verpflichtet. Nie ließ ich mich von Stimmungen leiten die gemeinhin mit „Leere“, „Stille“; „Ruhe“ etc assoziiert werden.

Nicht nur in ökologischer Hinsicht steht die Menschheit heute vor grundlegenden Herausforderungen. Die immer noch wachsende Weltbevölkerung wie sich verknappende Ressourcen werden ein bescheideneres Leben erzwingen oder notwendig machen. Dies muss nicht unbedingt mit Armut einhergehen. Im Gegenteil. Soll dies der Fall sein, so wird neben anderem eine Schulung unserer Sinne gefordert sein, vor allem der Nahsinne. Wessen Sinne gebildet sind, der wird kaum anfällig sein für sinnlosen Konsum. In einer Zeit, in der man dem drohenden Bedeutungsverlust von Information zumeist nur noch mit einer Reizwertsteigerung begegnen kann, muss man konsequent an Erfahrungsräumen arbeiten, auf Leere, auf das Nichts setzen. Heute gilt es, Erfahrungsräume zu öffnen, Räume, die nicht dem passiven Konsum wie den Regeln und Zwängen der Ökonomie unterliegen, Räume, welche die eigene Wahrnehmung betonen.

Bernhard Kathan, 2012

Buchhinweis:
Bernhard Kathan, „Stille“, Limbus Verlag, 102 Seiten. Kartoniert. EUR 9,90.
ISBN 978-3-902534-74-3
Bestellungen direkt über den Verlag per Mail unter buero@limbusverlag.at (Versandkostenfrei in Österreich und Deutschland)
Keine Angst, mit Büchern, die mit Vorliebe um die Weihnachtszeit in Buchhandlungen aufliegen, hat dieses Buch nichts zu tun.

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