VON DER SUBSISTENZWIRTSCHAFT ZUR MARKTWIRTSCHAFT
„Der Apfel fährt nicht weit vom Stamm. So regional lebt man heute.“
Einkaufstasche ADEG
„Auch heuer verbringen die Heumilchkühe wieder ihre Sommerfrische auf den Almen des Zillertals und genießen bis zu 1000 verschiedene Kräuter und Gräser. Diese hohe Artenvielfalt führt zu hochqualitativer Heumilch, die in der ErlebnisSennerei Zillertal täglich melkfrisch zu ganz besonderen Milch- und Käseköstlichkeiten verarbeitet wird – GENUSS AUS DEN BERGEN. Fakten zur Heumilch: Das Vieh genießt den ganzen Sommer über frische Luft, klares Wasser, saftige Gräser und Kräuter auf den Almen des Zillertales. Im Winter wird das Vieh ausschließlich mit sonnengetrocknetem Heu und mineralstoffreichem Getreideschrot gefüttert. [...] Vor allem im Zillertal: Bewirtschaftung der Grünflächen und Berghänge ist mühevolle Handarbeit. Auf den Heuwiesen herrscht bunte Vielfalt: bis zu 1000 verschiedene Gräser und Kräuter. Je höher die Biodiversität und Artenvielfalt, desto höher das Aroma und die Qualität der Zillertaler Rohmilch. [...] Die ErlebnisSennerei Zillertal verbindet eine elementare Partnerschaft mit den Zillertaler Bergbauern und Bergbäuerinnen, die sich für garantiert hochwertige, regionale Lebensmittel einsetzt und zugleich die einmalige Kulturlandschaft und Biodiversität erhält. ‚Aus der Region, mit der Region, für die Region – mehr Regionalität geht nicht mehr’, versichert Heinz Kröll. Auch in Zukunft werden seine Söhne Christian und Heinrich Kröll den Weg der Regionalität und der damit verbundenen Qualität weiter gehen!“
Internetseite ErlebnisSennerei Zillertal, 2017
Fährt man den Alpenhauptkamm ab, dann finden sich, was Architektur und
Bewirtschaftungsformen betrifft, zahllose Varianten, die sich den jeweiligen
regionalen Gegebenheiten verdanken. Oftmals findet man dabei innerhalb
weniger Kilometer unterschiedlichste Lösungen. Diese trugen landschaftlichen
wie klimatischen Bedingungen ebenso Rechnung wie dem Erbrecht und der damit
verbundenen Struktur der bewirtschafteten Flächen. Je extremer die Lagen,
umso mehr hatten sich Bau- und Wirtschaftsweise örtlichen Gegebenheiten
anzupassen. Als Beispiel sei das im Schweizer Avers auf 2126 Metern gelegene
Dorf Juf genannt. Da das Dorf oberhalb der Waldgrenze liegt, wurde bis in
die jüngste Vergangenheit getrockneter Mist statt Holz zum Feuern verwendet.
Noch heute kann man vor einigen Gebäuden zu diesem Zweck aufgestapelte
Mistblöcke sehen. Aufgrund der kurzen Vegetationsdauer war an Ackerbau nicht
zu denken. Statt Kraut wurde Mangold angebaut und ähnlich wie Kraut
eingestampft. Obstbäume fehlen in solchen Höhen vollkommen. Da keine
Ackerwirtschaft möglich war, ließen sich weder Hühner noch Schweine halten.
Nicht zuletzt verdankt sich diesem Umstand das Bündnerfleisch, eine
entscheidende Abweichung von den Ernährungsgewohnheiten der Bauern im
Alpenraum. Da sich vieles hier nie produzieren ließ, musste man lange und
gefährliche Wege machen, Gebirgspässe überqueren, um Rinder oder während des
Winters aus Zirbenholz gefertigte Gegenstände in Italien gegen Mehl, Schnaps
oder andere Dinge zu tauschen. Verständlicherweise waren die Gebäude sehr
einfach ausgeführt. Dicht gedrängt standen sie nebeneinander. Heute erstaunt
es uns, dass hier Menschen ganzjährig zu leben vermochten. Anfang Juni kann
in dieser Höhe noch Schnee liegen. Während des Sommers ist jederzeit ein
Wintereinbruch möglich. Innerhalb von drei bis vier Monaten musste genügend
Heu eingebracht werden, um das Vieh durch den langen Winter zu bringen. Oft
genug drohte eine Heunot. Um Wucher vorzubeugen, durfte niemand während
einer Heunot Heu zu einem höheren Preis verkaufen, als er selbst dafür
bezahlt hatte. Das Vieh, die Lebensgrundlage der Bewohner, musste durch den
Winter gebracht werden. Um das während einer Heunot noch vorhandene Heu zu
strecken, stiegen die Männer, kaum waren einige Stellen ausgeapert, in die
Hänge, um „Faxä“ zu holen, verdorrtes, vom Schnee zusammengedrücktes Gras.
Solches fand sich nur in schwer zugänglichen Hängen, also dort, wo während
des Sommers weder gemäht noch das Vieh zur Beweidung hingetrieben werden
konnte. Die Ausrüstung bestand aus einem großen Tragkorb („Gapatsch“), einer
Sense ohne „Worb“, also ohne Sensenstiel, einem Wetzstein, einem Rechen mit
kurzem Stiel und Fußeisen. Kniend wurde Büschel um Büschel des verdorrten
Grases abgeschnitten. War der Tragkorb voll, dann folgte der gefährliche
Abstieg ins Dorf, wo die „Faxä“ mit Heu vermischt verfüttert wurde.
Stets wurden ausgehend von den konkreten Bedingungen höchst effiziente
Bewirtschaftungsformen entwickelt. Als Beispiel sei Fraxern genannt, ein
Dorf in Vorarlberg. Über Jahrhunderte betrieben die Menschen hier eine Art
komplexer Mehrstufenwirtschaft, ein halbnomadisches Leben führend. Infolge
der lange betriebenen Erbteilung, welche eine Zerstückelung des Besitzes und
damit verbunden kleine und oft weit auseinanderliegende Grundstücke zur
Folge hatte, besaßen die einzelnen Bauern nur wenige Hektar. Als Bürger
hatten sie ein Anrecht auf die Zuteilung eines oder zweier Grundstücke aus
Allmendebesitz. Dazu kamen Almrechte. Die knappen Ressourcen zwangen zur
bestmöglichen Nutzung der verfügbaren Flächen. War der Heuvorrat auf dem Hof
im Frühjahr aufgebraucht, zogen die Bauern mit dem Vieh auf ein Vorsäß,
welches bestenfalls über eine kleine Küche und eine Kammer verfügte. Während
in anderen Regionen die gesamte Familie vom Dorf in das Vorsäß zog, wurden
solche Gebäude hier nie wirklich bewohnt. Im Vorsäß wurde das vom Herbst
verbliebene Heu verfüttert, bestenfalls etwas Gras zugefüttert. Anfang Juni
wurde das gesamte Vieh auf Almen aufgetrieben, die Kühe auf Almen, die über
eine Sennerei verfügten, das Galtvieh auf Galtalmen, die Kälber auf eine
etwas niedriger gelegene Kälberalm. Im Juli wechselten die Kühe auf eine
Hochalm und kehrten, gab es dort nur noch wenig zu fressen, auf die
Niederalm zurück.
Während des Sommers blieben die Ställe im Dorf den Schweinen, Hühnern und
Ziegen vorbehalten. Noch um 1950 standen in nahezu allen Ställen Ziegen.
Ziegen waren notwendig, wollte man auch während des Sommers Milch haben. Vom
Frühjahr bis in den Herbst hinein wurden die Ziegen von einem Ziegenhirten,
einem Buben, der zumeist aus einer der ärmeren Familien stammte, tagsüber an
Orte getrieben, an denen sich das Mähen nicht lohnte oder die sich als
Rinderweiden nicht eigneten, an Wegränder, Bachläufe, auf Waldlichtungen
und, unter Einhaltung gewisser Regeln, auch auf Almgebiete. Frühmorgens
machte sich der Ziegenhirt, beginnend bei den am unteren Dorfrand gelegenen
Häusern, auf den Weg. Es war Aufgabe der Frauen, die Ziegen loszubinden und
auf die Straße zu treiben und abends nach ihrer Rückkehr wieder
einzustallen. Diese Art der Ziegenbewirtschaftung setzte ein geschlossenes
Dorf voraus und wäre in einer Streusiedlung so nicht denkbar gewesen.
Wollte man möglichst viel Vieh durch den Winter bringen, dann musste man mit
dem ganzen Vieh auffahren, die Almrechte bestmöglich nutzen. Die einzelnen
Bauern durften nur so viel Vieh auftreiben, als sie selbst auch durch den
Winter zu füttern vermochten. Mitglieder des Almausschusses kontrollierten
penibel die Heuvorräte. Freilich gab es auch Techniken, welche die
Heuvorräte größer erscheinen ließen, als sie tatsächlich waren. Der
Almertrag bestand ausschließlich aus Käse und Butter, einer wichtigen
Winterreserve. Der Käse wurde in eigenen Kellern gelagert, die Butter zu
Butterschmalz ausgelassen.
War das Vieh auf die Alm aufgetrieben, begann man mit dem ersten Schnitt
(„Foasthö“), beginnend mit den dorfnahen Wiesen. Dann wurde das Heu des
Vorsäßes eingebracht. Während der Heuarbeit im Vorsäß kehrte man abends
zumeist ins Dorf zurück, mussten doch die Hühner und Schweine gefüttert, die
Ziegen eingestallt und gemolken werden. Auf den ersten Schnitt folgte die
Kirschenernte, einst eine wichtige Einnahmequelle. Dann wurden die
Bergwiesen gemäht und das Heu in die dort befindlichen Heuställe
eingebracht. Einige Tage war man damit beschäftigt, Feuchtwiesen für die
nötige Einstreu zu mähen. Daneben war der Acker zu betreuen, auf dem vor
allem Kartoffeln, Kraut und Bohnen angebaut wurden. Ende August begann man
mit dem zweiten Schnitt („Omat“). Nach dem Almabtrieb wurde das Vieh im
Vorsäß eingestallt. So lange es möglich war, ließ man das Vieh weiden
(„Hirbschtwoad“) und fütterte Heu zu. Nach Wintereinbruch fuhr man ins Dorf
ab, wo das Vieh bis ins nächste Frühjahr gefüttert wurde. Ging der Heuvorrat
dort zur Neige, begann alles von Neuem.
Heute erstaunt es, dass kinderreiche Familien so zu überleben vermochten.
Das Überleben verdankte sich einem komplexen Nebeneinander. Zu einer, zwei
oder drei Kühen muss man sich ein Jungrind, ein Kalb, zwei oder drei
Schweine, einige Hühner, einen Acker, manchmal noch ein kleines Getreidefeld
denken. In diesem wechselseitigen Gefüge durfte nichts zu kurz kommen.
Ständig war auf Dinge zu achten, die mit der augenblicklichen Tätigkeit
nichts oder nur bedingt zu tun hatten. Alles, was zu tun war, war Folge
einer Dringlichkeit oder auch Gelegenheit. Musste ein Rind notgeschlachtet
werden, so war alles andere aufzuschieben, ergab sich eine Gelegenheit, als
Tagelöhner etwas Geld zu verdienen, so war der Mist an einem anderen Tag
auszutragen. Bei dem scheinbaren Durcheinander an Tätigkeiten handelte es
sich um eine in Jahrhunderten entwickelte, höchst komplexe Struktur. Nur so
war es möglich, trotz der oft genug drückenden Armut zu überleben. Kühe und
Ziegen, Ziegen und Schweine, alles stand in einem engen Verhältnis
zueinander. Man konnte nicht mehr Schweine halten, als die Menge an
verfügbarer Schotte es erlaubte. Nichts durfte zu sehr in den Vordergrund
rücken, wäre doch sonst anderes vernachlässigt worden.
Die kleinen Bauern lebten in einer steten Ungewissheit. Ein langer Winter
oder ein früher Schneeeinbruch konnte zu einer Frage des Überlebens werden.
In mythologischen Überlieferungen war selbst die Wiederkehr des Frühjahrs
ungewiss, musste das Frühjahr herbeigeopfert werden, und sei es durch ein
Schwein, das kurz vor dem dunkelsten Tag des Jahres geschlachtet wurde. Die
kleinbäuerliche Kultur war zyklisch, jahreszeitlich organisiert. An
festgelegten Tagen trieb man das Vieh auf die Alm, steckte man Kartoffeln
oder Bohnen, schlachtete man das Schwein. Man hatte auf das Zeichen zu
achten, machte man Sauerkraut, ja selbst dann, wenn man Brennholz
einlagerte. Menstruierende Frauen durften keine Kirschen ernten, kein
Fleisch aus dem Pökelfass holen, mochten sie es auch eingesalzen und
eingelegt haben. Man hielt sich an die kirchlichen Feste, an den
Heiligenkalender. Diese Struktur war höchst archaischen Vorstellungen
aufgepfropft. Jahr für Jahr wechselte man fast auf den Tag genau von einem
Ort zum anderen. Bestimmte Handlungsabläufe waren räumlich und zeitlich
exakt festgelegt. Sie fügten sich in eine weitgehend vorgegebene
Choreographie, in der letztlich alle mehr oder weniger aufgehoben waren.
Der größte Teil der produzierten Nahrungsmittel diente dem Eigenbedarf, was
wiederum eine komplizierte, jahreszyklisch organisierte Vorratswirtschaft
erforderte. Noch in den 1950er Jahren – erhalten gebliebene Kassabücher
belegen dies – kauften kleine Bauern bestenfalls einige Grundnahrungsmittel
zu, wie Öl, Mehl, Salz, Zucker oder Nudeln. Da das auf dem Hof Produzierte
nahezu ausschließlich der Eigenversorgung diente, gab es nur wenige
Möglichkeiten Geld zu verdienen. Im besten Fall ließen sich jährlich eine
Kuh oder ein Jungrind, ein Kalb oder einige Ferkel verkaufen, auch Obst oder
Schnaps. Auch konnten sich Einzelne zeitweise als Tagelöhner verdingen.
Diesbezügliche Einnahmen fielen kaum ins Gewicht, war man doch selbst immer
wieder auf Tagelöhner angewiesen. Entscheidender waren, und das gilt
allgemein für subsistenzwirtschaftliche Lebensformen, handwerkliche
Nebenbeschäftigen, sei es als Tischler, Schuhmacher oder Maurer. Dank der
Nähe zu Textilbetrieben im Rheintal verdingten sich in der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts manche Fraxner als Sticker in Heimarbeit. Mochten auch
Männer sticken, es blieb ein Nebenerwerb, dem man vor allem an
Schlechtwettertagen oder während der Wintermonate nachgehen konnte.
Bis nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die Bauern „Fronarbeit“ zu leisten, im
Jahr also mehrere Tage für die Wegerhaltung, die Erneuerung von Almhütten
oder anderes zu arbeiten. Das Überleben war auch eine Frage der Kooperation.
Trotz allen Futterneides mussten sich die Bauern zusammenraufen. Um
Konflikte zu vermeiden, wurden Entscheidungen oft genug mit Hilfe des Loses
getroffen. Mochte der einzelne Bauer auch „seine“ Entscheidungen selbst
treffen, so war doch jede einzelne Bewegung Teil eines komplexen
Zusammenspiels, in dem genau darauf geachtet wurde, wann jemand diese oder
jene Wiese zu mähen begann. Das konnte als gutes oder schlechtes Zeichen
gedeutet werden. Nahezu alle Menschen des Dorfes waren in diesen lange
tradierten Ablauf eingebunden. Mochten sich die Einzelnen auch auf ihren
Grundstücken abplagen, so war es doch insgesamt ein höchst geselliges
Wirtschaften.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in Fraxern weitaus früher als in vielen
anderen Regionen die traditionellen Bewirtschaftungsformen aufgegeben.
Spätestens um 1960 brachen diese innerhalb kürzester Zeit zusammen. Damals
wurden binnen weniger Jahre alle Ziegen geschlachtet. Ziegen galten nun als
Ausdruck von Armut. Wer im nahegelegenen Liechtenstein oder in der Schweiz
Arbeit in einer Fabrik fand, gab die Landwirtschaft auf. Die meisten Ställe
wurden zu Garagen umfunktioniert. Fronarbeit machte keinen Sinn mehr, so wie
auch die Allmendegründe, die früher selbst den Ärmsten das Halten einiger
Ziegen erlaubten, ihre ursprüngliche Bedeutung verloren. Die verbliebenen
Bauern konnten die ursprüngliche Bewirtschaftungsform dank technischer
Aufrüstung aufgeben. In einer Zeit geländegängiger Fahrzeuge und mit einem
dichten Netz an landwirtschaftlichen Wegen macht ein Vorsäß keinen Sinn
mehr. Die Subsistenzwirtschaft begann sich allerdings schon viel früher
aufzulösen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Getreide immer seltener
angebaut. Der Anbau von Hanf und Flachs verschwand innerhalb weniger
Jahrzehnte vollständig.
Während des Nationalsozialismus versuchte die Abteilung „Bergland“ des
Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft im Rahmen der
Kriegswirtschaft die Produktivität der Bergbauerngebiete zu erhöhen. Es
wurde in den Straßenbau, in Güterwege, Materialseilbahnen, in die
Elektrifizierung, in die Wasserversorgung, in die Trockenlegung von
Feuchtgebieten, in besseres Zuchtmaterial und Saatgut, ertragreichere
Obstsorten, Kunstdünger, Silos, Jauchegruben und vieles andere investiert.
Externe Landwirtschaftsexperten entschieden über die Vergabe von
Förderungen. Die meisten der damals initiierten „Aufbaugenossenschaften“
blieben in den Anfängen stecken. Sieht man vom Umstand ab, dass nach 1945
keine Zwangsarbeiter mehr verfügbar waren, so wurde das
nationalsozialistische Förderungsprogramm für Berggebiete nahezu bruchlos
übernommen. Förderungen als steuerungspolitische Maßnahme spielen bis heute
eine entscheidende Rolle, wenngleich an die Stelle einer
Produktivitätssteigerung im Interesse der Ernährungssicherheit andere
Zielsetzungen wie etwa Landschaftspflege getreten sind. Nicht vergessen sei,
dass es auch darum ging, diese letzten Reste archaischen Lebens zu
kontrollieren, genaugenommen den Gesetzen des Kapitalismus zu unterwerfen,
selbst Bergbauern auf abgelegensten Höfen in Steuerzahler und Konsumenten zu
verwandeln.
Zwangsläufig sind Förderungen immer an Auflagen geknüpft. Wirkliche
Interessen bleiben dabei oft genug unausgesprochen. Um ein Beispiel zu
nennen: Innerhalb weniger Jahre haben die meisten der noch verbliebenen
Bauern infolge gesetzlicher Regelungen und entsprechender Förderungen auf
Laufställe umgestellt, gleichgültig ob wir es nun mit Mutterkuhhaltung oder
Milchwirtschaft zu tun haben. In den politischen Entscheidungsprozessen
wurde mit artgerechter Tierhaltung argumentiert. Tatsächlich ging es,
betrachtet man die vielen Laufställe, um ein enormes Investitionsvolumen,
das neben Klein- und Mittelbetrieben und Bauunternehmen vor allem
Herstellern von Landwirtschaftstechnologien zugute kam. Bauern profitierten
insofern, als sich Laufställe mit wesentlich geringerem Arbeitseinsatz
bewirtschaften lassen.
Die Erschließung der Tallandschaften und Höfe bildete in mehrfacher Hinsicht
die Voraussetzung für die Einbindung der kleinen Bauern in die
Marktwirtschaft. Straßen und Verkehrsmittel waren Voraussetzung dafür,
außerhalb Geld zu verdienen, das so verdiente Geld Voraussetzung dafür, in
landwirtschaftliche Maschinen zu investieren. Letztere zwangen über kurz
oder lang zu einer Spezialisierung, diese wiederum zwang dazu, das
Produzierte auf bestehenden Märkten abzusetzen, die Milch etwa an
Großbetriebe zu liefern. Maschinen amortisieren sich nur dann, wenn sie
effizient genutzt werden. Gerade in der Rinderhaltung lässt sich die
Spezialisierung mit all ihren Folgen gut betrachten. Das Dreinutzungsrind
ist längst verschwunden. Als Zugtier spielt das Rind schon lange keine Rolle
mehr. Auch das Zweinutzungsrind ist ein Auslaufmodell. Rinder dienen
entweder der Fleisch- oder der Milchproduktion. Infolge von
Züchtungsbemühungen werden diese beiden Kategorien künftig wohl noch weiter
auseinanderfallen. Marktwirtschaft bedeutet Entmischung auf allen Ebenen.
Sie wirkt erodierend, auch auf zwischenmenschliche Beziehungen.
Die kleinbäuerliche Kultur wurde den Postulaten von Ökonomie und Hygiene
geopfert. Auf den ersten Blick mag es keinen großen Unterschied machen, ob
man nun ein Schwein selbst schlachtet oder Schweinefleisch im Supermarkt
kauft. Die Vorteile liegen auf der Hand. Das im Supermarkt gekaufte Fleisch
ist billiger, man muss das Fleisch nicht selbst verarbeiten, man muss weder
Räuchern noch Tiefkühlen, man benötigt keinen Tierarzt für die
Fleischbeschau, man kann sich genau das Fleisch kaufen, das man zubereiten
und essen will. Bäuerliches Schlachten ging aber weit über bloße
Fleischbeschaffung hinaus. Es war soziale Praxis mit zahllosen symbolischen
Bedeutungen, die nicht zuletzt auch den Jahresablauf betrafen.
Während wir heute eine extreme Dehnung des Raumes erfahren, wird in der
Werbung das Regionale betont. Eine regionale Marktwirtschaft, das ist ein
Widerspruch in sich. Mag es auch die eine oder andere Ausnahme geben, je
spezialisierter die Produkte, umso weitläufiger der Absatzmarkt, umso größer
die Distanz zwischen Produzenten und Konsumenten. Mit der Dehnung des Raumes
schwindet die Komplexität und Differenz von Orten und Geländen, die wir mit
Regionalem assoziieren. Regionalität erweist sich letztlich denn auch nur
als Markenbehauptung, die sich weitgehend austauschbarer Bilder bedient, die
mit dem konkreten Raum wenig zu tun haben. Das Gelände verkommt zu einer aus
der Distanz betrachteten Landschaft, zur „Genussregion“. Gleichzeitig haben
wir es mit einer Straffung der Zeit zu tun, wofür die zunehmend kürzere
„Nutzungsdauer“ von Rindern ebenso ein Beleg ist wie der immer raschere
Wandel von Markterwartungen, ganz zu schweigen von der zunehmenden
Kurzlebigkeit technologischer Neuerungen.
Dank Einbindung in die Marktwirtschaft betreiben die verbliebenen Bergbauern
heute eine Landwirtschaft, die, sieht man von den zwei Formen in der
Rinderhaltung ab, keine regionalen Unterschiede mehr kennt. Selbst im Avers
haben sich Laufställe und Silageballen durchgesetzt. Silageballen lassen
sich ebenso wie Kraftfutter mühelos aus Tallagen in diese kargen
Gebirgslandschaft transportieren. Im gesamten Alpenraum werden heute
Flächen, mögen sie noch so steil sein, auf ähnliche Weise bewirtschaftet.
Dank technischer Aufrüstung und der zunehmenden Beherrschung der Natur haben
Lösungen, die aus lokalen und regionalen Bedingungen heraus entwickelt
wurden, weitgehend an Bedeutung verloren.
Heutige Betriebswirtschaftler können der Subsistenzwirtschaft wenig
abgewinnen. Allerdings zeigt uns der Kapitalismus nur allzu gut die
Krisenanfälligkeit weitgehend entmischter Systeme auf. Auch können Menschen,
einmal komplexen Gefügen entrissen, rasch in eine würdelose Armut
abrutschen. Heutigen Bauern ist das Wissen um ihre archaische Vergangenheit
abhanden gekommen. An die Stelle von Vegetationszyklen sind Schweinezyklen
getreten. Der Winter ist beherrschbar geworden. Dafür sind heutige Bauern
den Unwägbarkeiten des Marktes ausgesetzt.
Es gibt keinen Grund, der Armut, der Kinderarbeit oder den vielen Zwängen
subsistenzwirtschaftlichen Lebens nachzutrauern. Anerkannt seien aber die
vielen erstaunlichen Lösungen, die Bergbauern im Laufe der Jahrhunderte
entwickelt haben, um trotz knappster Ressourcen zu überleben. Angenommen,
heutige Menschen würden durch eine Laune der Geschichte jenen Bedingungen
ausgesetzt, unter denen Bergbauern einmal lebten, wohl niemand wäre in der
Lage, das Vieh durch den Winter zu bringen. Mochte die Armut auch drückend
gewesen sein, würdelos machte sie die Menschen nicht. In ihrem Tun waren die
Menschen mehrfach verankert, ganz im Gegensatz zu heutigen Menschen, die,
verlieren sie einmal ihre Arbeit, sehr rasch aus allen Bezügen fallen
können. Es ist bedauerlich, dass subsistenzwirtschaftliche
Organisationsformen mit all ihren beachtlichen Lösungen so rasch über Bord
geworfen wurden. Es hätte sich vieles lernen und wohl auch übernehmen
lassen. Man denke an den Losentscheid, an vielfältigste Formen der
Kooperation, und das trotz aller Konkurrenz, an Gemeinschaftsprojekte oder
Formen der Gemeinschaftsnutzung wie die Allmende, an erstaunliche
Adaptionsleistungen und vieles andere. Die Behauptung des Regionalen
reflektiert genaugenommen dessen Verwerfung. Folge der Einbindung in die
Marktwirtschaft ist nicht Differenz, sondern Nivellierung. Differenz findet
sich einzig dort, wo sich die verblieben Bergbauern als Konkurrenten
begegnen, scheinbare Marktnischen besser als andere zu behaupten wissen.
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© Bernhard Kathan, 2017