Sultans Rettung
Warum sich die Lektüre sentimentaler Tiergeschichten lohnt
|
"Zehn Jahre musste der sibirische Tiger Sultan in einem winzigen Zwinger in
den italienischen Alpen leben. Auf Betonboden, ohne Auslauf oder
Abwechslung. Sein Futter: Hundefleisch! Tag um Tag erduldete die prächtige
Raubkatze unsägliche Qualen. Mit Hilfe der Familie der ‚Krone'-Leser gelang
es jetzt, das geschundene Tier aus seinem eisigen Käfig zu befreien und nach
Österreich zu bringen ... Er rollt sich verspielt durchs Gras, schärft die
mächtigen Krallen an einer Holzwand seiner Hütte und die Willkommensmahlzeit
- zehn Kilo Rindfleisch - hat er auf einen Sitz verschlungen. Nur Stunden
nach seiner Ankunft in Wien hat Sultan sich schon an die neue Umgebung und
sein prächtiges Gehege gewöhnt. Mit blitzenden Augen verfolgt er jede
Bewegung, Autos, Menschen, alles ist ihm noch völlig fremd. Denn die
vergangenen zehn Jahre hat das Tier unter schlimmsten Verhältnissen
dahinvegetieren müssen. Im Freien bei Temperaturen bis zu minus 20 Grad, auf
Betonboden, ohne Unterlage, in einem winzigen Verschlag abseits jeder
Zivilisation. Die Ballen seiner Pfoten sind blutig und entzündet. Niemals
hat sich ein Tierarzt um den Tiger gekümmert, niemals bekam er geeignetes
Futter oder jene Abwechslung, die Großkatzen dringend brauchen. Sein Becken
und seine Gelenke sind durch die falsche Haltung degeneriert und verursachen
ihm stechende Schmerzen. Doch nun wird alles anders: ‚Krone"-Leser haben
Sultan ein zweites Leben, eine Chance auf eine Existenz ohne Qualen
geschenkt!" KRONENZEITUNG, 1999.
Anschließend wird ausführlich die Rettungsaktion beschrieben, angefangen vom
"verzweifelten Anruf italienischer Tierschützer" bei der Kronen Zeitung,
über die "spontanen Spenden der Familie der ‚Krone'-Leser, stundenlange
Telefonate mit Behörden, Zoologen, den Experten vom Tiergarten Schönbrunn
und den zuständigen Ministerien", die Suche nach einem geeigneten Gehege bis
schließlich zum glücklichen Transport des freigekauften Tigers aus den
italienischen Alpen ins heimische Österreich. Der Bericht endet mit einem
neuerlichen Spendenaufruf.
Wie bei allen Tierberichten ist der manifeste Inhalt dieses
Zeitungsberichtes schnell erzählt. Ein sibirischer Tiger wird in einem
kleinen Käfig gehalten. Tierschützer werden auf das Tier aufmerksam. Mit
Hilfe einer Boulevardzeitung wird das Tier seinem Besitzer abgekauft, um
dann "artgerecht" in einem Zoo untergebracht zu werden. Vergleicht man eine
Vielzahl ähnlicher Berichte, ordnet sie nach Jahren, dann lässt sich zeigen,
wie sehr sich die Einstellung der Menschen in unserer Gesellschaft zu Tieren
geändert hat und ändert. Dieser Bericht, abgedruckt an prominenter Stelle,
dokumentiert etwa, dass am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts die Mehrheit
der Bevölkerung die Käfighaltung von Raubkatzen als tierquälerisch ablehnt.
Die Unterbringung soll in einem naturähnlichen Gehege erfolgen, welches
statt eines "Betonbodens" eine vielgestaltige Oberfläche aufweist, im Ideal
der Naturlandschaft wie dem artspezifischen Biotop möglichst nahe kommt. Das
Tier soll seinen Bewegungsdrang wie seine Instinkte ausleben können.
"Sultan" soll das Gelände "markieren", sich "im Gras rollen" oder seine
"mächtigen Krallen schärfen" können. Sei das nicht möglich, könne er nur
"dahinvegetieren". So wird Sultan zu einem glücklichen Tiger. Warum jedoch
sollte es für einen sibirischen Tiger eine Qual sein, "im Freien bei
Temperaturen bis zu minus 20 Grad" gehalten zu werden, warum wird seine
Unterbringung "abseits jeder Zivilisation" beklagt? Zu einem Gehege, welches
"das Raubkatzenherz begehrt", zählt nun auch ein "beheizter Käfig".
Das Motiv des Berichts zählt zu den Geschichten über Tiere, die ihrem rohen
Besitzer abgekauft werden. Wie bei all diesen Motiven lässt auch hier der
Motivkern sehr unterschiedliche Ausschmückungen zu. Entscheidend ist die
Polarität zwischen dem Tier als Opfer und dem als grob oder grausam
gescholtenen Besitzer des Tieres. Während dieser auf seine Besitzrechte
pocht und sich das Tier in der Regel nur durch einen überhöhten Preis
abkaufen lässt, klagen die von außen kommenden Retter die Leidensfähigkeit
der Tiere ein. Wie alle Motive kennt auch dieses seine Überschreibungen.
Tierschützer, die heute Bauern Tiere abkaufen, um sie vor dem Schlachthof zu
retten, stehen in der Tradition derjenigen, die einen Hund allein deshalb
kauften, um ihn vor schlechter Behandlung zu bewahren. Das freigekaufte Tier
erweist sich seinen Wohltätern gegenüber als dankbar, treu und anhänglich:
"Zutraulich blickt der prächtige Tiger in die Kamera. Auf Sultan wartet ein
neuer Lebensabschnitt. Durch Liebe, artgerechte Haltung und die richtige
medizinische Versorgung soll er die erlittenen Qualen vergessen." Das Tier
wird nicht nur in anthropomorphen Kriterien beschrieben, Sultan lässt an ein
traumatisiertes Kind denken, welches in Pflege genommen wird. Wie bei einem
Gast oder einem Kind, welches in die Familie aufgenommen wird, gibt es auch
für Sultan eine "Willkommensmahlzeit". Im Spendenaufruf wird an die Leser
appelliert, für Sultan eine Patenschaft zu übernehmen.
Es ist lohnend, sich mit den latenten Inhalten solcher Berichte zu
beschäftigen. Ihre Erschließung erfolgt vor allem assoziativ. Die
assoziative Zugangsweise eignet sich gerade bei Berichten der
Boulevardpresse in besonderer Weise, überlassen diese doch die eigentliche
Botschaft dem assoziativen Strom des Lesers. Wie sich im Traum Tagesreste in
den Traum mischen, so werden in der Boulevardberichterstattung aktuelle
Ereignisse überformt. Betrachtet man solche Berichte genauer, dann lässt
sich etwas anderes zu Tage fördern als dies auf den ersten Blick scheint.
Die meisten Menschen zählen die in der Boulevardpresse veröffentlichten
Berichte zur anspruchslosen Literatur. Aber auch diese kennen ihre
Kunstform. Statt der genauen Beschreibung eines Ereignisses bedient sich die
Boulevardpresse markanter Sätze, die einen breiten Assoziationsbogen öffnen.
Die transportieren Inhalte müssen trotz aller Feindbilder mehrdeutig und
indifferent bleiben. Die Texte dürfen weder zu lang noch zu kompliziert
sein, die Inhalte müssen einen hohen Reizwert haben und dem Leser
Identifikationsmöglichkeiten anbieten. Komplexe Wirklichkeit reduziert sich
auf überschaubare Szenarien. Die Boulevardpresse betont die Polarität von
Gut und Böse, Normalität und Abweichung. Durchgängig werden Mehrheiten
angesprochen, während Minderheiten zu Statisten des Projektiven werden. Was
gedruckt wird, gilt als wirklich, wenngleich all diese Berichte in höchstem
Maß konstruiert sind. Diese Art der Berichterstattung erfordert ein
sensibles Gespür für die Ängste und Konflikte vieler Menschen. Ein guter
Bericht muss einen gewissen Unterhaltungswert haben. Selbst die
schrecklichsten Ereignisse müssen so dargestellt werden, dass das Drama
letztlich zur Unterhaltung wird. Werden Texte der Boulevardpresse unter
Beachtung ihrer Konstruktion gelesen, so sind diese weder als trivial, banal
oder schlecht zu werten. Meine reservierte Haltung gegenüber den Berichten
der Boulevardpresse hat sich geändert; und zwar nicht deshalb, weil sie
allein aufgrund ihrer großen Leserschaft ernst zu nehmen sind, sondern weil
sie mehr Inhalt haben, als dies auf den ersten Blick scheint.
Bereits der Name des sibirischen Tigers ist auffallend. Seinen Namen
"Sultan" verdankt er vermutlich nicht allein der Tatsache, dass der Tiger
die mächtigste aller Raubkatzen ist. Wenn eine Wiener Boulevardzeitung einen
Tiger "Sultan" tauft, dann lässt dies an die beiden Türkenbelagerungen Wiens
denken, die tief im österreichischen Bewusstsein als äußere Bedrohung
verankert sind. Der Tiger ist in einem "prächtigen Gehege" untergebracht.
"Prächtig" waren vor allem die Zelte des Sultan Süleyman wie jenes des Kara
Mustafa. In der Boulevardpresse "blitzen" nicht nur "seine Augen", sondern
auch jene der türkischen Gastarbeiter, die schächten. Die "Großkatze" lässt
an den Großwesir denken. Wollten sich die türkischen Sultane einst
Österreich, eigentlich Gebiete der Habsburgermonarchie einverleiben, so
"verschlingt" der Tiger Sultan heute "10 Kilo Rindfleisch".
Nun ist der Sultan ist ungefährlich geworden. Seine "Pfoten" sind "blutig
und entzündet". Wie einen rheumakranken Pensionisten plagen ihn "stechende
Schmerzen". Sein "Becken" und seine "Gelenke sind degeneriert". Sein Gehege
erweist sich als Ausgedinge. Die einstige Bedrohung wird symbolisch in der
"Familie der ‚Krone'-Leser" eingemeindet und in den Beständen des
Schönbrunner Tiergartens inventarisiert. Der Sieg über die Türken wäre erst
dann vollkommen gewesen, wäre es gelungen, den Großvesir zu fangen und
auszustellen. Dies wird nun gleichsam, wenn auch mit großer zeitlicher
Verzögerung, mit Hilfe des Tigers Sultan möglich, der in einer barocken
Tiergartenanlage untergebracht wird. Die Gefahr ist endgültig gebannt. Dies
lässt an Angelo Soliman denken, jenen Mohren, der gegen Ende des achtzehnten
Jahrhunderts in Wien Karriere machte, nach seinem Tode auf kaiserliche
Anordnung ausgestopft und im Hof-Naturalienkabinett in einem Raum
ausgestellt wurde, in dem auch eine Landschaft mit einem Wasserschwein,
einem Tapir, einigen Bisamschweinen und unterschiedlichsten Vögeln zu sehen
war. Angelo Soliman wurde sicherlich nicht ausgestopft, um ihn als
"Repräsentanten des Menschengeschlechts" zu zeigen. Dann hätte man ihn wohl
nicht in einem Raum mit Tieren gezeigt. Da er nicht nur wegen seiner
Kleidung mit den Türken assoziiert wurde, bedeutete seine naturkundliche
Präparierung letztlich eine symbolische Verarbeitung der einst von den
Türken ausgehenden Bedrohung. Ist der Gegner ausgestopft, so ist er
endgültig besiegt. Soliman wurde nicht in jener Kleidung gezeigt, die er
zeitlebens trug, sondern in einer Art Phantasiegewand, mit einem Federgürtel
um die Lenden und einer Federkrone. Dass es sich um ein Kippbild handelt,
wird insbesondere dort offensichtlich, wo die Befreiung Sultans gefeiert
wird, obwohl er tatsächlich in neue Gefangenschaft gerät.
Der Bericht ist, ohne dass er sich explizit darauf bezöge, im Kontext der
Migrationspolitik der 1990er Jahre zu lesen. Der sibirische Tiger, der für
den Menschen gefährlich sein kann, sowie sein Namen "Sultan", der auf die
Türken verweist, bezeichnet die phantasierte Bedrohung. Bedroht ist die
"Familie der 'Krone'-Leser". In eigenartiger Weise kommt es zu einer
Identifikation mit dem Aggressor: "Stockhiebe: Sultan duckte sich vor seinem
Besitzer. In Wien hat er sich bereits eingelebt." Dies ist möglich, weil das
Tier als Opfer wahrgenommen wird und ein anderer, ein Außenstehender, die
Rolle des Bösewichts übernimmt. Der italienische Tierhalter ist nicht nur
"wortkarg", ihm ist sein "selbstgebrauter Kräuterschnaps wichtiger als jedes
Tier." Er wird zu einem "Hundefänger", der den "Tiger mit dem Fleisch
gefangener Hunde füttert." Mit dem Hund wird ein stark besetztes Tier
eingeführt. Da Hunde als Teil des menschlichen Beziehungsgefüges
wahrgenommen werden, bedeutet ihre Tötung und Verfütterung letztlich einen
Angriff auf den Menschen selbst. Sultan wird ähnlich wie ein Hund
familiarisiert. Dass es nicht um das Leiden von Tieren an sich geht, wird
dort offensichtlich, wo das Rind, welches Sultan nährt, mit keinem Wort
erwähnt wird: "die Willkommensmahlzeit - zehn Kilo Rindfleisch - hat er auf
einen Sitz verschlungen."
Die latenten Textinhalte lassen sich allerdings über einzelne Berichte
ebenso wenig erschließen wie sich anhand eines einzelnen Berichtes die
Verschiebungen im Verhältnis des Menschen zum Tier ablesen ließen. Deshalb
ist es notwendig, einzelne Motivgruppen zu bilden, um mit Hilfe dessen, was
sich als stabil behauptet oder sich ändern kann, einzelnen Verschiebungen
nachzuspüren und diese zu gewichten. Das Wesen der Boulevardpresse lässt
sich anhand einzelner Berichte nicht verstehen. Tatsächlich ist das Projekt
Boulevard als Teppich zu beschreiben, der sich immer fortwebt, ohne dass
dies so von seinen Akteuren - den Zeitungsmachern ebensowenig wie den Lesern
- begriffen würde. Durch die Bestimmung eines Motivs oder einer
Motivtradition wird so das Einzelereignis, welches die Boulevardpresse
betont, relativiert. Diese Relativierung findet sich auch dort, wo das
Einzelereignis in einen zeitlichen Rahmen gestellt wird. Ob von Bauern
berichtet wird, die ihre Kühe verhungern lassen oder von Gastarbeitern, die
Tiere schächten, fast immer lassen sich in solchen Berichten exakte
Verknüpfungen zu aktuellen gesellschaftlichen Konflikten und Diskursen
herstellen, die oft genug, obwohl es um Tierberichte geht, mit Tieren nicht
das Geringste zu tun haben. Die Kontextualisierung eines einzelnen Berichtes
findet bereits dort statt, wo er in der Nachbarschaft zu anderen Berichten
und Texten gelesen wird. Die Geschichte des Tigers Sultan ergäbe mit anderem
Bild- und Textmaterial des Jahres 1999 ein stimmiges Gesamtbild. Man
erinnere sich etwa an die Wahlwerbung der FPÖ. Übrigens übernahm damals die
Haider-FPÖ im Schönbrunner Zoo eine Bärenpatenschaft, operierte also nicht
viel anders als die Boulevardpresse auf symbolischen Ebenen. Die Frage ließe
sich auch anders stellen: Wie wäre Sultans Geschichte im Jahr 1970, wie im
Jahr 2014 erzählt worden? Interessant ist ja nicht die Geschichte, sondern
die Konstruktion des Erzählten.
Wie im Bericht "Sultans Rettung" lassen sich in allen anderen Berichten die
Signifikanten bestimmen. Dies ermöglicht es, nach den entsprechenden
Äquivalenten in anderen Berichten zu suchen. Dabei spielt die Frage nach dem
Motiv nur noch eine untergeordnete Rolle. Der "italienische Hundehalter"
lässt sich jenen zuordnen, die in anderen Berichten als Tierquäler
beschrieben werden. Bildet man die entsprechende Gruppe, dann fällt auf,
dass es sich bei all diesen Personen um Menschen handelt, die außen stehen,
von außen kommen, gesellschaftlichen Randgruppen zuzuordnen sind - dazu
können im Ausnahmefall auch bestimmte Prominente zählen -, oder um
Einzelpersonen, die mit negativen Charaktereigenschaften ausgestattet
werden. Querverbindungen zwischen einzelnen Berichten lassen sich auf sehr
unterschiedliche Weise herstellen. Die Möglichkeiten reichen von
Motivgruppen bis hin zu auffallenden sprachlichen Formulierungen, die sich
in Berichten mit völlig unterschiedlichem Inhalt wiederholen können.
Zitiert Arthur Schopenhauer in seiner Abhandlung über die "Grundlagen der
Moral" menschliche Grausamkeiten, so führt er wiederholt Beispiele von
Tierquälereien an. Diese entnahm er zumeist Zeitungs- oder auch
Reiseberichten, also Texten, mit denen ein breites Lesepublikum im Interesse
ökonomischen Erfolgs mit sentimentalen Geschichten bedient wurde. Solche
Texte sagen freilich wenig über Mensch-Tier-Verhältnisse, sehr viel dagegen
über die Befindlichkeiten der Zeit. Wir haben es mit Konstrukten zu tun. Die
Geschichte vom treuen Hund, der am Grab seines Herrn den Tod erwartet,
findet sich auch bei anderen. Solche Geschichten sind ebensowenig wörtlich
zu nehmen wie die Heiligenlegenden der katholischen Kirche.
Schopenhauer, der triviale Tierberichte wörtlich nahm, konnte die Londoner
"Society for the prevention of cruelty to animals", die "mittelst Hülfe der
Justiz und Polizei" das Tierleid zu verringern und die Welt zu verbessern
suchte, nicht genügend loben: "Ihre Emissarien [Geheimboten] passen heimlich
auf, um nachher als Denunzianten der Quäler sprachloser, empfindender Wesen
aufzutreten, und überall hat man deren Gegenwart zu befürchten." Geradezu
begeistert zitiert er einen diesbezüglichen Bericht der "Times" vom 6. April
1855: "Sie berichtet nämlich den gerichtlich gewordenen Fall der Tochter
eines sehr begüterten Schottischen Baronets, welche ihr Pferd höchst
grausam, mit Knüttel und Messer, gepeinigt hatte, wofür sie zu 5 Pfund
Sterling Strafe verurtheilt worden war. Daraus nun aber macht so ein Mädchen
sich nichts, und würde also eigentlich ungestraft davon gehüpft seyn, wenn
nicht die Times mit der rechten und empfindlichen Züchtigung nachgekommen
wären, indem sie, die Vor- und Zunamen des Mädchens zwei Mal, mit großen
Buchstaben hinsetzend, fortfahren: ‚Wir können nicht umhin, zu sagen, daß
ein Paar Monat Gefängnißstrafe, nebst einigen, privatim, aber vom
handfestesten Weibe in Hampshire applicirten Auspeitschungen eine viel
passendere Bestrafung der Miß N. N. gewesen seyn würde. Eine Elende dieser
Art hat alle ihrem Geschlechte zustehenden Rücksichten und Vorrechte
verwirkt: wir können sie nicht mehr als ein Weib betrachten.'" Man würde ja
nur zu gerne erfahren, was "Miß N.N." veranlasst hat, ein Pferd "mit Knüttel
und Messer" zu peinigen. Hätte sich Schopenhauer mit den latenten Inhalten
jener Tierberichte beschäftigt, die er wörtlich nahm, so hätten sich ihm
ganz andere Fragen gestellt.
Gesellschaftliche Veränderungen lassen sich vielfach nur mit Hilfe von
Indikatoren beschreiben. Solche Indikatoren finden sich etwa im
Konsumverhalten, im Auftauchen neuer Statussymbole, im Verschwinden und
Auftauchen bestimmter Krankheitsbilder, in neuen Diskursen, heute etwa
Kindesmissbrauch, Plagiate oder Rauchverbote betreffend. Ein sehr
brauchbarer Indikator findet sich im kulturgeschichtlich relativ jungen
Phänomen der Tierliebe. Trotz der großen Zahl an Haustieren existieren Tiere
im Leben des modernen Menschen vor allem medial in Form von Geschichten und
Bildern. Dass Tierberichte in den Medien so viel Raum einnehmen, kann nur
dann sinnvoll erklärt werden, wenn man davon ausgeht, dass sich diese
Berichte weniger auf Tiere und mehr auf Ängste und Nöte der Rezipienten
beziehen. Tiere lassen ein unendliches Spektrum an Projektionen zu.
Sentimentale Tierberichte bilden eine großartige Quelle zu jeweiligen
Befindlichkeiten einer Gesellschaft. Um nur einige Beispiele zu nennen: In
den Nachkriegsjahren finden sich etwa Berichte, in denen bezugnehmend auf
die Taubenplage der Einsatz von Blausäure als schmerzfreier Tod behauptet
wird: "Die machen einen Peck und sind sofort weg!" Dass es dabei weniger um
Tauben als um eine Verdrängungsleistung ging, lässt sich im zeitlichen
Abstand sehr gut belegen. In vielen Schächtberichten der 1960er und 1970er
Jahre wurde das Tierleid beklagt. Tatsächlich ging es um phantasierte
Bedrohungen. Dass all diese Berichte so gut wie nichts mit konkreten
Erfahrungen mit Gastarbeitern zu tun hatten, macht allein der Umstand
deutlich, dass sich antisemitische Stereotypen, die sich in
Tierschutzbroschüren der Zwischenkriegs- wie der NS-Zeit fanden, nahezu
bruchlos auf Türken und Jugoslawen übertragen ließen. Ob die
Berichterstattung zur Tollwut, zu BSE, zu Kampfhunden oder vielem anderen,
stets verweisen die latenten Inhalte auf nicht reflektierte
gesellschaftliche Befindlichkeiten. Der Filmemacher Chris Marker schrieb,
Videospiele würden uns mehr über das Unbewusste mitteilen als die
gesammelten Werke Lacans. Dasselbe lässt sich für die Boulevardpresse
behaupten. Dem wären heute noch Postings in Internetforen etc. hinzuzufügen.
Bernhard Kathan, 2014