1959, ich war gerade einmal 6 Jahre alt, legte ein Onkel meines Vaters einem
Brief an meine Mutter silberne Zigarren-Etuis bei, "für den Fall, dass deine
hoffnungsvollen Sprösslinge vom Rauchen nicht abgehalten werden können."
Heute wäre das vollkommen undenkbar. In den letzten Jahrzehnten hat sich die
Einstellung gegenüber dem Rauchen grundlegend geändert. Noch in den 1970er
Jahren wurde in vielen Seminaren, selbst in manchen Vorlesungen geraucht.
Universitäten sind heute rauchfreie Zonen. Ob öffentlicher Verkehr,
Krankenhäuser oder Restaurants, in all diesen wie vielen anderen Bereichen
ist Rauchen nicht mehr oder nur noch schwer möglich. Mein Großonkel, ein
bemerkenswerter Mann, hatte sich bereits Jahre zuvor das Rauchen abgewöhnt,
dieses sich freilich nicht verboten, sei es doch etwas Gutes, sich eine
Zigarre für eine trübe Stunde aufzusparen, was einem über den toten Punkt
hinweghelfen könne. Meine Mutter beruhigte er mit der Bemerkung, das
gewohnheitsmäßige Rauchen sei ihm zuwider: "Du wirst deine Buben leicht vor
dem Rauchen abhalten, wenn du ihnen ausrechnest, was sie sich dadurch
ersparen und für ein schönes Buch oder einen Ausflug dann zur Hand ist."
Diesbezüglich sollte er sich irren.
Mein Großonkel hätte sich all die Argumente gegen das Rauchen, mit denen wir
es heute zu tun haben, nicht vorstellen können. Der Kampf gegen das Rauchen
ist, das verschweigen Rauchgegner und Gesundheitspolitiker, eine wahre, aber
auch erklärungsbedürftige Erfolgsgeschichte. Und diese verdankt sich nicht
zuletzt einer zunehmenden Kontrolle der Lebensäußerungen. In meiner Kindheit
gab es in der Kirche unter den hinteren Bänken hölzerne Tröge, die mit
Sägemehl gefüllt waren. Diese dienten dem Ausspucken des Kautabaks. Da wurde
noch gerotzt und gespuckt, zumindest in den letzten Reihen. Die Spucktröge
verschwanden zu Beginn der 1960er Jahre. Ihre Reinigung verstand man
plötzlich als Zumutung für jene Frauen, deren Aufgabe es war, die Kirche zu
putzen. All das beginnt in der frühen Neuzeit mit den ersten Vorstellungen
des modernen Subjekts. Im 16. Jahrhundert wurde zumeist noch aus einer
gemeinsamen Schüssel gegessen. Aber die zunehmende Betonung von Sauberkeit
und Selbstkontrolle zeigt, dass bereits damals der Abstand zwischen den
Menschen größer wurde. Überall wurden drohende Vermischungen wahrgenommen,
angefangen bei der Atemluft, die man in den Brei bläst, bis hin zur fettigen
Hand, die nach einem Stück Fleisch greift. Fortan gilt alles als unrein, was
mit dem Körper eines der Essenden in Berührung gekommen ist, besonders aber
all das, was an ihm haften bleibt oder was aus dem Körper wieder an die
Oberfläche gelangt. Im neunzehnten Jahrhundert, das Rauchen wurde noch nicht
als Problem betrachtet, viele Menschen lebten ja noch buchstäblich in
Rauchküchen, dehnte sich die Kontrolle der Lebensäußerungen zunehmend auf
den öffentlichen Raum aus. In damals erschienenen Anstandsbüchern wird
ausdrücklich auf eine Vielzahl von Angewohnheiten hingewiesen, die es auf
jeden Fall zu vermeiden gilt: "Auffallende Verzerrungen des Gesichts oder
seltsame Bewegungen des Körpers beim Sprechen; Singen oder Brummen oder
Pfeifen etc. in Gesellschaften; Schaukeln und Kippen mit den Stühlen;
Baumeln mit den Beinen; Trommeln an den Fenstern und auf den Tischen;
Gähnen, besonders lautes. Unschicklich ist es auch, diejenigen, mit welchen
wir sprechen, bei den Knöpfen oder bei dem Rockkragen zu ergreifen, an den
Möbeln derer, bei denen wir zum Besuch sind, zu kritzeln, unsere Füße an
oder auf Gegenstände zu stellen, die dadurch verletzt oder beschmutzt werden
können." Die Diskreditierung des Rauchens ist in dieser Tradition zu sehen.
Kulturhistorisch betrachtet lassen sich diesbezügliche Schnittstellen, und
deren wären viele zu nennen, gut benennen. In einer in den 1950er Jahren
errichteten, heute leerstehenden Besamungshalle für Rinder sah ich folgende
Tafel: "Es ist verboten, während der Besamung zu rauchen oder den Bullen
durch Gelächter abzulenken!"
Man muss die Forderung nach einem generellen Rauchverbot breiter betrachten,
nach den latenten Inhalten diesbezüglicher Diskurse fragen. Gesetze, die zum
Schutz der Bevölkerung erlassen werden, geben vor, Menschen vor anderen
Menschen zu schützen: "Rauchen fügt Menschen in Ihrer Umgebung erheblichen
Schaden zu." Auf den Jugendschutz folgte mit unverminderter Vehemenz die
Forderung nach dem Schutz der Passivraucher, die zunächst im Kleid des
Arbeitnehmerschutzes auftrat. Wir haben es, wie Jens Jessen richtig bemerkt,
mit Nachbarschaftsgesetzgebung zu tun: "Der eine Nachbar möchte nicht, dass
sich ein anderer erlaubt, was er sich selbst verbietet." Nicht zufällig
finden sich unter den vehementesten Rauchgegnern ehemalige Kettenraucher.
Der Kampf gegen das Rauchen lässt sich mühelos in ein Feld anderer Diskurse
fügen, die auf den ersten Blick nicht das Geringste mit dem Rauchen zu tun
haben. Man denke an Plagiatsvorwürfe, an Mobbing oder an Vorwürfe sexueller
Belästigung.
Plagiatsvorwürfe erinnern an nervenaufreibende Auseinandersetzungen mit
Nachbarn. Da wie dort geht es nicht um die vordergründigen Inhalte, nicht um
Mülltonnen, die am falschen Platz stehen, nicht um die Brombeerhecke, die zu
üppig über den Zaun wächst, nicht um die Musik, welche die Mittagsruhe
stört, nicht um die paar Sätze, die möglicherweise ähnliche Argumentationen
beinhalten oder tatsächlich wortwörtlich abgeschrieben wurden. Der Nachbar
fühlt sich durch Aktivitäten seiner Nachbarn buchstäblich bedroht. Sie
scheinen in sein Feld einzudringen, ihm seinen Platz, sein Existenzrecht
streitig zu machen. Erst wenn die Brombeerhecke geschnitten ist, fühlt er
sich wieder beruhigt. Dabei ist es völlig nebensächlich, ob jener Platz, den
die wuchernde Brombeerhecke beansprucht, tatsächlich benötigt wird oder
nicht. Vergleichbar mit der zunehmenden Wohndichte wird es auch auf dem Feld
wissenschaftlicher Arbeiten immer enger. Es gibt kaum ein Thema, mit dem
sich nicht eine ganze Reihe von Wissenschaftlern zur selben Zeit, oft
vollkommen unabhängig voneinander, beschäftigen. Es ließen sich zahllose
Themenbereiche anführen, die das zunehmend schwierigere Verhältnis
wechselseitigen Austausches belegen. Während sich in Lokalen das an den
Nebentischen Gesprochene mittels Dauerbeschallung weitgehend neutralisieren
lässt, schwebt der Rauch, ausgeatmete Luft, frei herum, bleibt an
Kleidungsstücken haften und dringt in Nasen und Lungen anderer ein. Das ist
nicht nur obszön, sondern letztlich bedrohlich, allerdings erst in dem
Augenblick, in dem Menschen mit ihren Nachbarn nichts mehr zu tun haben,
nichts mehr zu tun haben wollen, in dem sich alle als Konsumenten und somit
als Konkurrenten begegnen. Wer heute ein Lokal besucht, begreift sich nicht
als Gast, sondern als Konsument. Während sich früher einmal Gäste über den
Umgang miteinander zu einigen hatten, wird heute der Betreiber eines Lokals
dafür verantwortlich gemacht, Konsumenten vor dritten zu schützen. Nicht
zufällig wird der inzwischen inflationär gebrauchte Begriff "Opfer" auch auf
Konsumenten angewandt.
Moderne Kommunikationstechnologien erlauben es, mit entferntesten Menschen
zu kommunizieren. Nachbarschaftliche Verhältnisse sind dagegen schwieriger
geworden. Der Erfolg ganzer Industrien verdankt sich heute der Vermeidung
unerwünschter Nachbarschaften. Einhegungen, gleichgültig, ob es sich um
Zäune, Mauern oder beschnittene Hecken handelt, belegen deutlich, dass wir
uns in Abgrenzung zur Nachbarschaft denken. Etwas ähnliches gilt auch für
Gesetze, die vorgeben, Nichtraucher vor Rauchern zu schützen. Noch vor
wenigen Jahrzehnten war Rauchen mit dem Erleben von Gemeinschaftlichem
konnotiert. Eine junge Mutter entschuldigte sich unlängst bei mir. Ihr Kind
habe während der Nacht laut geweint. Es habe sich nicht beruhigen lassen.
Heute entschuldigen sich Menschen bereits für völlig normale
Lebensäußerungen. Dass es längst nicht mehr allein um die schädlichen Folgen
des Rauchens geht, machen mir Zigarettenstummel deutlich, die ich im
Stiegenhaus an der Anschlagtafel mit einer Stecknadel aufgespießt sehe.
Darunter der Satz: "Wer raucht diese Marke?" Offensichtlich eine Kippe, die
jemand im Innenhof oder auf dem Rasen weggeworfen hat. Heute wird man selbst
an Orten, an denen man gar nicht auf die Idee käme, sich eine Zigarette
anzuzünden, auf Rauchverbote hingewiesen: "Wir bitten Sie im Friedhof nicht
zu rauchen. Die Friedhofsverwaltung." Darunter ein Schild: "Hunde müssen
draußen bleiben." Der öffentliche Raum wird neu definiert, und zwar nicht
nur auf das Rauchen bezogen.
Dass Rauchverbote so rasch Eingang in die Gesetzgebung gefunden haben,
verdankt sich einem weiteren Unbehagen. Zygmunt Bauman schreibt, da wir das
schwindelerregende Tempo der Veränderungen nicht verlangsamen, geschweige
denn ihre Richtung vorhersagen oder steuern könnten, konzentrierten wir uns
auf das, was wir tatsächlich oder vermeintlich beeinflussen können,
beziehungsweise wovon man uns einreden würde, dass wir es beeinflussen
könnten: "Um die überschüssige Existenzangst abladen zu können, die ihrer
natürlichen Ventile beraubt ist, suchen wir uns Ersatzziele. Fündig werden
wir, indem wir umfangreiche Vorkehrungen dagegen treffen, den
Zigarettenrauch anderer einzuatmen, fettreiche Nahrung oder ‚schlechte'
Bakterien zu uns zu nehmen (während wir gierig die Flüssigkeiten schlürfen,
die ‚gute' zu enthalten versprechen) und uns vor zu viel Sonne und
ungeschütztem Sex hüten."
Die Politik steht heute vor großen Herausforderungen. Man denke an die
Klimaerwärmung, an neue Formen des Krieges, an eine Wirtschaft, die sich in
den letzten Jahren als sehr krisenanfällig erwiesen hat, an die technische
Durchdringung unseres Alltags mit Folgen, die sich nur bedingt absehen
lassen, an die Erodierung von Bürgerrechten oder auch an die zunehmende
Schere zwischen Arm und Reich, was auch demokratiepolitisch
besorgniserregend ist. Die heutige Politik, und das gilt nicht nur für
Österreich, hat zu all diesen Fragen weder glaubhafte Vorstellungen, noch
wirkliche Lösungen anzubieten. Tatsächliche Entscheidungen werden längst
nicht mehr in nationalen Parlamenten, ja nicht einmal auf EU-Ebene
getroffen. In Österreich ist es nicht einmal möglich, ein längst überholtes
Schulsystem an die Erfordernisse der heutigen Zeit anzupassen. Da bieten
sich Gesetze zum Schutz von Menschen an, etwa ein generelles Rauchverbot in
Lokalen. Man kann auch den Strafrahmen für Tierquälerei drastisch erhöhen.
Das wird unsere Welt nicht besser machen, kommt aber den Befindlichkeiten
der Wähler entgegen. Immerhin wird der Eindruck geweckt, etwas getan zu
haben.
Während das Gemeinschaftliche zunehmend ausgehöhlt wird, appellieren
Rauchgegner an die Solidargemeinschaft. Wer rauche, also ungesund lebe,
untergrabe die Solidargemeinschaft, falle anderen zur Last. Was die
vielbemühte Solidargemeinschaft betrifft, fällt auf, dass nur anfallende
Kosten in Rechnung gestellt werden, jene Beträge aber verschwiegen werden,
die Raucher seit vielen Jahren als vorsorgliche Strafsteuer zu entrichten
haben, auch nicht der Umstand, dass die deutlich niedrigere Lebenserwartung
von Rauchern kostendämpfend auf unser kaum noch finanzierbares
Pensionssystem wirkt. Ich sehne mich nicht in Zeiten zurück, in denen selbst
Kinder rauchten, weil ihnen andere Vergnügungen versagt blieben. Es ist zu
begrüßen, dass sich Zigarettenautomaten nicht mehr wie Kaugummiautomaten
bedienen lassen. Ich finde Restaurants angenehm, in denen nicht geraucht
wird. Ich habe mir das Rauchen in der Wohnung oder an anderen Orten schon
lange abgewöhnt.
Ich hätte weniger Mühe mit einem allgemeinen Rauchverbot in Lokalen, gäbe es
eine breite Diskussion bezüglich krankmachender Faktoren und
Verhaltensweisen. Die Lebenserwartung von Menschen, die etwa über lange Zeit
in prekären Verhältnissen, in ständiger Unsicherheit leben, ist auch
auffallend niedrig. Bei Schriftstellern liegt sie bei 63,69 Jahren hier auf
Daten der Grazer Autoren Autorinnen Versammlung bezogen), also weit unter
der durchschnittlichen Lebenserwartung. Mit Alkohol- oder Nikotinkonsum
allein lässt sich das nicht erklären. Entscheidend ist, dass viele
Mitglieder über Jahre hinweg in prekären Verhältnissen leben. Unter
literarisch tätigen Menschen finden sich freilich auch solche, die ein hohes
Alter erreichen. Schaut man sich deren Biographien an, dann lässt sich
sagen, dass diese zumeist in gesicherten Verhältnissen leben. Ganz allgemein
lässt sich sagen: Armut macht krank. Armut oder drohende Verarmung hat im
Gegensatz zum Rauchen noch keinen Gesundheitsminister beschäftigt. Dabei hat
die Zahl jener Menschen, die in andauernden Prekariaten leben, von der
Verarmung bedroht sind, in den letzten Jahren deutlich zugenommen und es
steht zu befürchten, dass sie noch mehr zunehmen wird. Zweifellos stellt das
Passivrauchen insbesondere für Personen, die im Gastgewerbe beschäftigt
sind, ein nicht unerhebliches Gesundheitsrisiko dar. Zu anderen
Gesundheitsrisiken und Belastungen, denen Kellner und Kellnerinnen
ausgesetzt sind, habe ich von Rauchgegnern noch nie etwas gehört.
Die Vermeidung von Stress zählt zwar wie die Empfehlung, nicht zu rauchen,
möglichst wenig Alkohol zu trinken, tierische Fette oder Zucker nur in Maßen
zu sich zu nehmen oder sich sportlich zu betätigen, zum gebetsmühlenartig
wiederholten Vokabular von Ärzten. Aber welcher Arzt würde schon sagen, dass
der von vielen Menschen erlebte Dauerstress nicht nur in persönlichem
Verhalten begründet liegt. Ein Arzt meinte, so wie ich leben würde, da könne
man nur krank sein. Das sei ja so wie ein ständiger Hochseilakt. Bekanntlich
kann man auf einem Seil nicht schlafen. Das Bild hat mir gefallen. Er
empfahl mir in geradezu rührender Weise, ich hatte mein fünfzigstes
Lebensjahr schon lange überschritten, doch einen anderen Beruf zu erlernen
oder wie es andere machten, in Vergessenheit geratene Kartoffelsorten
anzubauen. Eine Akupunkturärztin wiederum empfahl mir, doch endlich einen
Harry Potter zu schreiben, nicht ohne hinzuzufügen, sie fliege jetzt für
sechs Wochen in die Karibik und beim nächsten Termin würde sie mir dann
erzählen wie schön das Leben doch sein könne.
Nachdem uns alle Vorstellungen eines jenseitigen Lebens abhanden gekommen
sind, ist eine hohe Lebenserwartung zu einem neuen Wert geworden. Wir haben
es mit einem diesseitigen Kultus zu tun, in dem es weder an
Heilsversprechungen, noch an Priestern oder Bußübungen mangelt, mehr noch,
mit einem Kult, der unser ganzes Leben durchdringt. Sehe ich von wenigen
Menschen ab, dann scheint mir ein allzu langes Leben nicht eben verlockend.
Dabei denke ich nicht nur an die vielen Gesichter des Siechtums, sondern
auch daran, dass ich nicht zu einem bewirtschafteten Objekt werden möchte.
Ich möchte nicht von Menschen betreut werden, die von der Würde des Alters
und ähnlichem schwafeln, aber kein Interesse an mir haben. Alt werden muss
man sich heute - ähnlich wie das Kinderkriegen - leisten können. Zählt man
zu jenen, die finanziell stets nur knapp über die Runden kommen, dann ist
man gut beraten, das Leben nicht zu sehr in die Länge zu dehnen. Statt auf
ein langes Leben zu hoffen, möchte ich die Zeit, die ich lebe, und sie ist
so oder so kurz, leben, das heißt, neugierig die Welt betrachten und im
Austausch mit anderen erfahren, was zugegebenermaßen oft mühsam sein kann.
Eine hohe Lebenserwartung ist kein Wert an sich. Dieselbe Gesellschaft, die
eine hohe Lebenserwartung zu einem neuen Fetisch gemacht hat, hat nicht die
geringste Mühe, verkümmern Begabungen, verbringen viele Menschen nahezu ihr
ganzes Arbeitsleben mit Tätigkeiten, die sie nicht machen wollen, sondern
machen müssen. Hier lohnen sich Gespräche mit Menschen, die in die
Frühpension drängen.
Immer wieder denke ich an Schriftsteller, die in jungen Jahren gestorben
sind. Mochte ihr Tod auch tragisch sein, mochten sie sich auch verzehrt
haben, sie lebten wirklich. Georg Büchner wurde gerade einmal 24, Novalis
28, Franz Michael Felder 29. Heinrich von Kleist starb im Alter von 34. Die
Liste ließe sich lange fortsetzen. Wilhelm Hauff starb kurz bevor er sein
25. Lebensjahr erreicht hatte. Er hinterließ einige tausend Seiten, darunter
Vieles, was sich heute noch zu lesen lohnte. Seine Almanache erweisen sich
jedem, der sich genauer mit ihnen beschäftigt, mehr als eine Sammlung von
Märchen, nämlich als eine Gesellschaftstheorie, die in einer globalisierten
Ökonomie, die wechselseitige Abhängigkeiten nur zu deutlich macht, mehr
Aufmerksamkeit verdienten.
Die Voraussetzung für ein halbwegs geglücktes Leben verdankt sich nicht
zuletzt dem Bewusstsein um die Endlichkeit unseres Lebens. Fernando Pessoa
hat dies in seinem Gedicht "Der Tabakladen" sehr schön formuliert: "Der
Besitzer des Tabakladens tritt nun an die Tür und bleibt an der Tür. / Ich
betrachte ihn mit dem Unbehagen des schräg gedrehten Kopfes. / Er wird
sterben, und ich werde sterben. / Er wird das Ladenschild hinterlassen, und
ich hinterlasse Verse. / Irgendwann verrotten dann das Ladenschild und auch
die Verse. / Nach einiger Zeit stirbt die Straße, in der das Ladenschild
hing, / Und die Sprache, in der die Verse geschrieben wurden. / Später
stirbt dann der kreisende Planet, auf dem sich dies alles zutrug."
Mein Vater hat während seines ganzen Erwachsenenlebens geraucht, allerdings
nur sporadisch. Zumeist Zigaretten anderer. Nur selten kaufte er sich selbst
eine Packung. An manchen Tagen konnte er aber innerhalb weniger Stunden ein
ganzes Päckchen rauchen. Kein oberflächliches Rauchen. Er atmete den Rauch
sehr tief ein, selbst kurz vor seinem Tod noch, als er nicht mehr in der
Lage war, ohne fremde Hilfe vom Bett zum Tisch daneben zu wechseln. Als
junger Mann war er Zeuge einer Sektion, die der Amtsarzt des besseren
Lichtes wegen in einem Obstgarten vornahm. Warum er während dieser Sektion
anwesend war, warum diese durchgeführt wurde, immerhin musste der Amtsarzt
eine Tagesreise machen, darüber erwähnte er nichts. Wiederholt kam er
dagegen auf die rußgeschwärzte Lunge des Toten, der ein starker Raucher war,
zu sprechen. Als Vergleich dienten ihm wohl die Lungen von Schweinen. Mit
Hausschlachtungen war er vertraut. Schon bald werden Abbildungen von
abgestorbenen Zehen, Herzoperationen und so fort die Zigarettenschachteln
zieren. Auch daran werde ich mich gewöhnen. Als Erziehungsmaßnahme möchte
ich deshalb die Einführung öffentlicher Sektionen empfehlen.
Behauptet wird, die Gesellschaft würde gesund, also heil, gäbe es keine
Raucher mehr. Ich glaube nicht an die Versprechungen einer sauberen,
gesunden, heilen Welt, ich glaube nicht an die Vorstellung eines irdischen
Paradieses, würde nur richtig aufgeräumt. Unlängst besuchte ich ein
Dorfgasthaus. Zu meiner Überraschung durfte ich plötzlich nicht mehr
rauchen. Als ich den Wirt darauf ansprach, erzählte er von Klagsdrohungen
eines Mannes, der in seinem Lokal noch nie etwas konsumiert habe. Man muss
sich das einmal vorstellen. Da fährt jemand in der Gegend herum, klappert
Lokale ab, um die Einhaltung von Verboten zu kontrollieren. Und dieser Mann
kann selbst dann einen Erfolg verbuchen, sitzt nur ein einziger Gast
rauchend im Lokal, stehen während der sommerlichen Hitze Türen und Fenster
offen.
Vor einer Gesellschaft, die nach den Maßgaben der Hygiene organisiert ist,
muss man sich fürchten. Der Islamische Staat soll das Rauchen in der
Öffentlichkeit verboten haben. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie,
denke ich hierzulande an ähnliche Verbote oder Bemühungen. Ginge es nur um
die letzten Enklaven, an denen man heute noch rauchen kann, dann könnte man
darüber hinwegsehen. Zweifellos wird es nicht beim einem generellen
Rauchverbot in Lokalen bleiben. Als nächstes werden Rauchverbote auf den
öffentlichen Raum ausgedehnt, gilt es doch, Kinder und Jugendliche vor
schlechtem Beispiel zu schützen. An einem generellen Rauchverbot wird die
Welt nicht zugrunde gehen. Aber die hier geführte Debatte, die ja
genaugenommen gar keine Debatte ist, lässt sich beliebig übertragen, auf
Menschen, die durch ihr Verhalten auf diese oder jene Weise abweichen, auf
Fettleibige, Arme, Menschen, die aus dem Arbeitsmarkt gefallen sind.
Letztlich haben wir es mit einer umfassenden Zurichtung zu tun, die auf
Selbstzurichtung hinausläuft.
Bernhard Kathan, 2015
Nachbemerkung
Ein nicht realisiertes Projekt. Gemeinsam mit Richard Frankenberger sollte
im HIDDEN MUSEUM eine temporäre Trocknungsanlage für Tabakblätter
eingerichtet werden, um sich ausgehend von Rauchdiskursen allgemein mit
Fragen nachbarschaftlicher Verhältnisse zu beschäftigen. Unter Tabakblättern
sitzend hätten wir uns einen Monat lang alle nur denkbaren
Nachbarschaftskonflikte erzählen lassen oder aus Akten diesbezüglicher
Prozesse vorgelesen. Richard Frankenberger, es ist übrigens Nichtraucher,
erlebte seine Kindheit in einem oststeirischen Tabakanbaugebiet, wozu er
auch einige Projekte realisiert hat. Der von uns angedachte Tabakdisput ließ
sich leider nicht finanzieren. Zwar wird die Bedeutung guter
nachbarschaftlicher Verhältnisse immer wieder behauptet, aber für die
diesbezüglichen Voraussetzungen, über die man heute mehr denn je diskutieren
sollte, scheinen sich nur wenige zu interessieren. Und macht man ein
Tabakprojekt, steht man ohnehin im Verdacht, Auftragnehmer von
Tabakkonzernen zu sein.