Reloading mit Tacitus






"Lauf aus, Schnupfen, Sohn des Schnupfens, der du die Knochen zerbrichst, den Schädel zerstörst, vom Fette trennst, die sieben Löcher im Kopfe krank machst! Es flehen die Diener des Rê zu Thot."

"Siehe, ich bringe dein Rezept zu dir, dein Mittel zu dir: die Milch einer Frau, die einen Knaben geboren hat, und die Geruchkörner. Das vertreibt dich, das heilt dich; das heilt dich, das vertreibt dich. Geh heraus auf den Boden, Gestank, Gestank! Gestank, Gestank!"
Altägyptischer Zauberspruch gegen Schnupfen

"Ich lass mich nicht impfen. Über meinen Körper will ich selbst bestimmen. Wir leben längst schon in einer Diktatur."
"Und das Pflegepersonal auf den Intensivstationen ist dir gleichgültig?"
"Niemand wird gezwungen auf einer Intensivstation zu arbeiten."
Lokalgespräch im November 2021

In Zeiten der Pandemie fällt es schwer die Übersicht zu wahren. Dies hat nicht zuletzt mit dem Verfall jeder Begrifflichkeit zu tun. "Freiheit", "Diktatur" und so weiter und so fort, all diese Worte können in diesem oder jenem Sinn verwendet, so sehr strapaziert werden, dass am Ende nur noch leere Worthülsen bleiben und schließlich jede Verständigung unmöglich wird. Gerade der Umgang mit dem epidemiologischen Geschehen liefert illustre Beispiele für den Sprachverfall wie abstruseste Sprachverdrehungen. Um einen etwas distanzierteren Blick zu erhalten, lohnt es sich, zu vielen sozialen Phänomenen, die sich heute zeigen, nach Beispielen zu suchen, in denen solche erstmals wahrgenommen oder beschrieben wurden.

Was ließe sich nicht alles schreiben, demonstrieren Corona-Leugner vor einem Krankenhaus oder dringen sie gar auf eine mit Corona-Patienten belegte Intensivstation vor. Da wir es mit Meutenbildungen zu tun haben, empfiehlt es sich, Tacitus zur Hand zu nehmen, zumal er als erster die Eigendynamik irrationaler Zusammenballungen systematisch beschrieben hat, dies auch dann, mochte Tacitus wenig Mühe gehabt haben, wurden Verurteilte den Tarpejischen Felsen hinabgestürzt oder Sklaven nach Sitte der Väter gekreuzigt. Auf jeden Fall hatte er eine Vorstellung vom Funktionieren eines Staatsgebildes wie ihm auch Exzesse aller Art zuwider waren. Das gilt für die Grausamkeit der Eliten wie für Meutereien der Massen, wobei er, was Letztere betrifft, so etwas wie einen Kipppunkt sah, ein Umschlagen oft genug berechtigter Forderungen in Entladungen, die sich nicht mehr kontrollieren lassen.

Besonders ausführlich beschreibt er einen Aufstand bei den pannonischen Legionen, bei dem ein gewisser Precennius, "ehedem Anführer der Theaterclaqueure, jetzt gemeiner Soldat, ein vorlauter Mensch, durch sein Bühnenhandwerk geübt, Bewegung in eine Menschenmasse zu bringen", eine wichtige Rolle gespielt hat. Dieser Precennius sprach von aufgeschichteten Rasenschollen herab zu den Legionären: "All die Jahre hindurch war nur eure Feigheit schuld, dass ihr 30, 40 Jahre lang mit grauem Kopf, als verwundete Krüppel Dienst getan habt. Auch nach der Entlassung hat ja unser Dienst noch kein Ende; wir müssen bei der Fahne bleiben, erhalten einen anderen Namen und müssen uns ebenso quälen wie vorher. Und hat einer alle die Unfälle, denen ein Soldat ausgesetzt ist, überstanden, so wird er noch in ferne Länder geschleppt und erhält sogenanntes Ackerland zugewiesen, in Wirklichkeit morastige Sümpfe oder öde Bergabhänge. Und der Dienst ist doch gewiss schwer genug! Er bringt auch nichts ein: für 10 Asse täglich muss man Leib und Seele verkaufen. Und dies Geld soll für Kleidung, Waffen, Zelt ausreichen, soll uns Schutz vor den rohen Centurionen und Dienstfreiheit erkaufen! Wahrhaftig! Ewig nur Prügel und Wunden, harte Winter und aufreibende Sommer, schrecklicher Krieg oder magerer Friede!" Der Sold müsse erhöht werden; nach sechzehnjähriger Dienstzeit müsse die Entlassung erfolgen.

Legionäre hatten oft genug unter falschen Versprechungen und schlechten Bedingungen zu leiden, was bei Tacitus mehrfach eindringlich zum Ausdruck kommt. An einer der Stellen ergreifen klagende Legionäre die Hand eines Legaten, als wollten sie diese küssen, stecken seine Finger in ihren Mund, damit er ihre zahnlosen Kinnladen fühle. Andere deuten auf ihre vom Alter gekrümmten Glieder und ihr ergrautes Haar oder entblößen sich, um mit ihren Wundnarben und Stockstriemen Klage zu erheben.

Die Forderungen, die Precennius zur Sprache brachte, waren also gut begründet. Auch heute kann niemand in Abrede stellen, dass Politiker während der Pandemie oft genug, und sei es politischen Kleingelds wegen, unklar agierten, Informationen widersprüchlich, Einschränkungen unangemessen waren, vieles also kritisch zu hinterfragen war. Der entscheidende Punkt ist dort zu sehen, wo alles außer Kontrolle gerät, "geradezu in Wahnsinn" verfällt, sich wie eine ansteckende Krankheit ausbreitet, die Akteure in einem gewissen Sinn keine Gewalt mehr über sich und das Geschehen haben, durch dieses fortgerissen werden, als stünden sie unter einem Befehl.

Die von Precennius aufgehetzten Legionäre misshandeln, haben sie sich einmal zu einer Meute geformt, gehasste Centurionen, erschlagen sie oder bringen sie auf andere Weise um. Der ganze Unmut entlädt sich schließlich in sinnlosem Zerstören, Rauben und Morden. Mag die Schubenergie solcher Entladungen auch motiviert sein, so scheinen doch, ist einmal ein bestimmter Punkt erreicht, alle Forderungen vergessen. Ähnliches gilt auch, demonstrieren Woche für Woche 40.000 Impfgegner. Ohne jeden Zweifel erleben sie vieles als höchst bedrängend, nur dass sie dafür keine Sprache haben und stattdessen hinter einem Feldzeichen herrennen, das die Aufschrift "IMPFZWANG" trägt.

Dass in den von Tacitus erwähnten Beispielen immer wieder Gerüchte das Geschehen befeuern, lässt auch an heutige Meutenbildungen denken. "Wir sind das Volk" - auch nicht neu. Bei Tacitus ist aus vielen Kehlen und in vielen Tonarten zu hören: "Wir sind es, in deren Hand die Geschicke Roms liegen! Unsere Siege machen das Reich groß! Nach uns erhalten die Feldherren ihren Beinamen". Hat sich eine gewisse Dynamik erst einmal in Gang gesetzt, dann helfen weder gutes Zureden noch mahnende Worte, als wirkungslos erweist jedes Appellieren an die Vernunft. So bleibt nur ein "scharfes Vorgehen", kenne das Volk doch kein Maß: "Wenn es nicht zittere, mache es andere zittern. Sei einmal die Furcht erwacht, so könne man es ohne Gefahr verachten." Ein Feldherr müsse, solange noch der Aberglaube seine Wirkung tue, die Angst steigern und die Rädelsführer hinrichten lassen. In unserem Fall lässt der Feldherr Precennius und einen anderen Rädelsführer rufen und töten. Ob er ihre Leichen in seinem Feldherrnzelt verscharren oder zur Schau über den Wall aufs Feld werfen ließ, muss offenbleiben. Gerüchte wollten von beidem wissen. Bemerkenswerterweise erleben die Legionäre die Hinrichtung der beiden als befreiend und fügen sich wieder in die militärische Unterordnung. In einem anderen von Tacitus erwähnten Beispiel sind gar sie es, die die Bestrafung ihrer Anführer verlangen. Dabei wurde keine ihrer Forderungen erfüllt: "Verwandelt eilten sie auseinander und schleppten die Rädelsführer gefesselt vor den Legaten der ersten Legion C. Caetronius, der auf folgende Art das Urteil über jeden einzelnen sprechen und die Strafe an ihm vollziehen ließ. Mit gezücktem Schwert standen die versammelten Legionen da; der Angeklagte wurde ihnen durch den Legaten vorgeführt. Wenn sie das `Schuldig' über ihn riefen, wurde er ihnen sofort überliefert und niedergehauen. Die Soldaten hatten Freude am Morden, als ob sie selber dadurch ihre Schuld abwüschen; und Germanicus wehrte ihnen nicht, da kein Befehl von seiner Seite vorlag und die Grausamkeit des Verfahrens und der üble Eindruck, den sie machen musste, auf sie selber zurückfielen."

Verständlich deshalb das Verlangen, durch andere Gräueltaten die Geister der erschlagenen Kameraden zu besänftigten. Das kann nur in einem wirklichen Gemetzel enden: "Die sternklare Nacht kam uns zustatten; man langte bei den Dörfern der Marser an und umstellte sie, während die Feinde noch immer auf ihrem Lager oder an den Tischen ausgestreckt dalagen. Sie ahnten keine Gefahr und hatten keine Wachen ausgestellt, so völlig sorglos und auf einen Kampf unvorbereitet waren sie; und der Friede, in dem sie sich wähnten, war ganz Schlaffheit und sinnlose Betrunkenheit. [...] Ein Raum von 50 Meilen wurde durch Feuer und Schwert völlig verwüstet. Kein Weib, kein Greis oder Kind fand Erbarmen. Menschliche oder göttliche Wohnstätten, darunter ein bei den Stämmen sehr berühmtes Heiligtum, der Göttin Tanfana geweiht, alles wurde dem Erdboden gleichgemacht. Die Soldaten waren unverwundet: sie hatten nur Halbschlafende, Waffenlose, Versprengte erschlagen." Tacitus sah einen Zusammenhang zwischen meutenhaftem Aufruhr und gesellschaftlichen Legitimationskrisen. Die von ihm geschilderten Beispiele fallen allesamt in Jahre, in denen die Nachfolge entweder noch nicht geregelt oder fraglich war wie etwa im sogenannten "Vierkaiserjahr" 69 n.Chr., in dem das Römische Reich in einer schweren Nachfolgekrise zu versinken drohte. Den Rivalen um das Prinzipat mangelte es aufgrund ihrer Herkunft an Legitimation.

Mit gesellschaftlichen Legitimationskrisen haben wir es auch heute zu tun. Man denke etwa an die Diskreditierung parlamentarischer Entscheidungsprozesse, an die Infragestellung von Institutionen wie dem Verfassungsgerichtshof oder der Korruptionsstaatsanwaltschaft, mit all den Versuchen, solche Institutionen mit willfährigem Personal zu besetzen. Und das gilt nicht nur für Theaterclaquere wie Kickl, sondern auch für Sebastian Kurz und andere. Die Sache ist freilich komplizierter. Politik hat auf viele drängende Frage keine wirklichen Antworten mehr. Der Entscheidungsspielraum ist eng geworden. Auch Parteien, Kirchen, Gewerkschaften haben wie viele andere Einrichtungen an Bedeutung verloren. Selbst ausgewiesene Experten wie Epidemiologen können jederzeit in Frage gestellt werden, meint doch inzwischen so gut wie jeder, Statistiken deuten oder virologisches Geschehen erklären zu können. Und was macht es schon, dass unter all den 40.000 Brüllenden keiner in der Lage ist, auch nur andeutungsweise zu erklären wie denn die Pandemie zu lösen sei. Wenn sich etwas aus dem ganzen Gebrüll heraushören lässt, dann das Bedürfnis nach klaren Strukturen in einer zunehmend unsicheren und unüberschaubareren Welt, in der sich Menschen zurecht als Spielball undurchsichtiger Mächte empfinden, dies auch dann, wenn man sich vor den "klaren Strukturen" mit ihren einfachen Lösungen fürchten muss. Nur wenn gesellschaftlicher Komplexität Rechnung getragen wird und sich die Akteure ihrer Verantwortung hinsichtlich des Gemeinwesens bewusst sind, werden sich die Probleme lösen lassen. Aber wie sollte das möglich sein in einer Gesellschaft, die zunehmend in Ich-AGs zerfällt?

Man kann sich impfen lassen um sich selbst zu schützen. Aber sind es wir nicht auch dem Pflegepersonal auf Intensivstationen schuldig? Ist nicht an Pflegebedürftige zu denken, die nicht mehr besucht werden können, an das Wohlergehen von Kindern, an die Ausbildung von Jugendlichen, an jene, die ihre Arbeit verlieren oder die ihren Betrieb schließen müssen? Selbst das Steueraufkommen müsste Anreiz genug sein. Es wäre doch schön, ließe sich das viele Geld, das weitgehend ins Leere gelaufene Pandemiemaßnahmen bislang verschlungen haben und noch verschlingen werden, in zukunftsträchtige Projekte investieren, sei es in den Bildungsbereich oder in die Pflege alter Menschen. Das ist völlig ausgeschlossen, ist doch nicht einmal eine diesbezügliche Diskussion denkbar. Solches wie anderes kann sich aufdrängen, liest man Tacitus.

© Bernhard Kathan, 2021