"Heute hat also wieder unser kleiner Todesengel Dienst."







Vom letzten Bett ruft mich ein junger Mensch. Ich gebe ihm Sekt zu trinken, aber er erbricht ihn. Es ist das Zeichen, daß er sterben wird. Er frägt mich: "Schwester!" - er frägt, als hinge sein Leben an dieser Frage: "Schwester, wie hieß der Held an den Thermopylen?" Ich besinne mich, ich weiß es nicht mehr. So sehr ich mich auch mühe, es fällt mir nicht ein. "Wie hieß der Held an den Thermopylen?" Er sieht mich an, mit einem letzten, unendlich verächtlichen Lächeln auf den Lippen. In seinen Augen steht: Weißt du es nicht, daß ich dieser Held bin?! Dann aber hebt er den fragenden Angstblick. Alle haben diesen Blick. Sie fassen krampfhaft, bittend, nach der Hand des Nächsten und sterben. Die Augen, von den Lidern fast verdeckt, irren ausdruckslos, der Mund ist halboffen und weiß, die Lunge rasselt heraus. Die Hand hängt schlaff herunter und zuckt. Das Herz arbeitet wahnsinnig. Bald schlägt der Puls schwach, schwach. Die Augen werden groß und sinken tief. Das Gesicht verfällt, wird bleich und bleicher, weiße Scheine überfahren die Stirn. Fast regungslos zieht sich der Körper in die Länge und wird starr. In diesem Augenblick beginne ich das Haar des Sterbenden zu streicheln. Denn ich kann nicht glauben, daß ein Mensch schon tot ist, wenn seine Augen gebrochen sind. Der in den Tod Versunkene beginnt sein Lächeln, das ist das letzte. Man muß dem Arzt abwinken, der allzu vernehmlich den eingetretenen Tod konstatiert, man darf nicht weinen an dem Bette und nichts flüstern. Der Tote spürt alles. Das Lächeln ist das letzte, aber es hält nicht an, das ist Lüge. Binnen fünf Minuten ist das Antlitz lebloser als eine Maske.
Paula Schlier, Das Lazarett


Wäre es ihr möglich gewesen, zweifellos wäre Simone Weil über dem besetzten Frankreich mit dem Fallschirm abgesprungen, um ihrer Berufung als Krankenschwester nachzukommen. Ihr diesbezüglicher Plan stand in einem auffallenden Widerspruch zu jenen Überlegungen, die sie als Guerillatheoretikerin anstellte: "Keine Fronten bilden, keine Städte belagern, dem Feind nachsetzen, seine Verbindungslinien blockieren, ihn immer dort angreifen, wo er nicht darauf gefasst ist, ihn demoralisieren und durch eine Reihe winziger, aber siegreicher Aktionen den Widerstand anspornen." Soldaten, die, so wie von Simone Weil gedacht, über besetztem Gebiet abspringen, bewegen sich zumeist allein, bestenfalls in kleinen Gruppen. Krankenschwestern machen dabei wenig Sinn. Eine Front im eigentlichen Sinn gibt es nicht. Logistisch wäre es nur schwer möglich, Verwundete zu bergen und zu versorgen. Sprach Simone Weil von "vorderster Front", dann dachte sie nicht an einen Frontverlauf, sondern an den gefährlichsten Einsatz: "Ich will dahin gehen, wo die Gefährdung so groß wie nur möglich ist und wo mein Leben am wenigsten geschützt sein wird."

Dass sie weder über eine entsprechende Ausbildung noch über Erfahrung im Umgang mit Kranken und Sterbenden verfügte, schien ihr zweitrangig. Sie dachte weniger an Pflege als an die Wohltat ihres Blickes, Blicke Sterbender erwidernd. In welcher Kleidung sah sich Simone Weil? In einer Schwesterntracht mit Häubchen? In einem weißen Kleid? Sicher nicht. Eine weiße Schwesterntracht eignet sich nicht, um mit dem Fallschirm abzuspringen. Allein Schmutz und geforderte Tarnung verbieten ein weißes Kleid. Wie hätte sie sich als Krankenschwester kenntlich gemacht? Der infolge einer Kriegsverletzung ans Bett gefesselte Schriftsteller Joë Bousquet, dessen Rat sie einholte und auf dessen Unterstützung sie hoffte, hielt ihren Plan für durchführbar, meinte aber, dieser müsse genauer erläutert und in manchen Punkten ergänzt werden.

Simone Weils "Plan zu einer Gruppe von Krankenschwestern an vorderster Front" war unsachlich, persönlich motiviert. Nicht zuletzt hoffte sie, sich mit dem "besonderen Missgeschick", als Mädchen auf die Welt gekommen zu sein, zu versöhnen. Als hermaphroditische Figur wäre sie vom Himmel zu Hilfe gekommen, sie hätte sich Männern nähern können, die in ihrer Verletztheit und Schwäche, als Blutende in die Nähe des Weiblichen gerückt, gefahrlos gewesen wären.

Dachte Simone Weil an Morphiuminjektionen? Zweifellos würde sie heute als "gefährliche" Krankenschwester betrachtet. Jemand, der ein so schwieriges Verhältnis zum eigenen Körper hat, jedes sexuelle Begehren in sich abtöten muss, eignet sich nicht für den Pflegeberuf. Bedenklich wäre bereits, würde jemand ein so großes Interesse für Sterbende zeigen. Simone Weil, die selbst den Tod suchte, hätte wohl nur schwer Verletzte oder gar Sterbende in ihrer Bedürftigkeit wahrzunehmen vermocht.

Es lohnt sich, Simone Weils Todessehnsucht wie ihren Krankenschwesternfantasien konkrete Erfahrungen von Lazarettschwestern entgegenzustellen, etwa jene, die Paula Schlier während des Ersten Weltkrieges gemacht hat. Paula Schlier, Tochter eines Militärarztes, wurde siebzehnjährig als Hilfskrankenschwester rekrutiert. Ihre Erfahrungen hat sie später in der kurzen Erzählung "Das Lazarett" beschrieben. Von einem Tag auf den anderen ist die Ich-Erzählerin mit dem Elend Verletzter und Sterbender konfrontiert, mit klaffenden Wunden, mit den Schreien Irregewordener oder mit abgenommenen Gliedmaßen, die auf Tischen liegen: "Ich erinnere mich noch an das Gefühl der Ohnmacht, im doppelten Sinn des Wortes, das mich bei der ersten Operation, der ich zusah, befiel. Ein Mann, der nicht narkotisiert war, lag auf der Bahre, ein Leintuch war über ihn gebreitet, nur ein Stück seines Leibes blieb unbedeckt. Ein einziger Messerstrich ließ einen roten Schnitt aufklaffen und aus dem Inneren quollen die Gedärme heraus. Der Mann gab keinen Laut von sich, nur das Tuch, unter dem er lag, hob und senkte sich. Die Ärzte begannen die Gedärme in den Leib zurückzustopfen, aber sie quollen wieder hervor. Dies dauerte drei Stunden lang. Der Mann unter dem Leintuch gab keinen Laut von sich, nur das Tuch, unter dem er lag, wand sich, bäumte sich. Am Ende kam ein Oberarzt mit dem Auto angefahren, ein berühmter Spezialist für solche Operationen, und nähte den Leib rasch zu. - Es war am gleichen ersten Tag, als man mir im Verbandsaal einen nackten, zitternden Menschen übergab, dem die Schußwunde, faustgroß, durch den ganzen Körper, zum Rücken hinein und zur Brust heraus ging. Ich mußte ihm die Öffnung mit Verbandgaze zustopfen, die an einer Pinzette aufgespießt war, kein Ende nahm und doch nicht zureichte, weil die Wunde zu groß und nicht auszufüllen war."

Der schrecklichen Ohnmacht begegnet Paula Schlier, indem sie die Kranken und Sterbenden in ihrer Bedürftigkeit wahrnimmt, entsprechend antwortet. Während der Wärter versucht einen Tobenden, der unter stechendem Kopfschmerz leidet, festzubinden, hält sie dem Kranken ein Kissen entgegen, gegen welches dieser so lange stößt, bis er endlich ermüdet, nicht ohne sich dabei zu denken: "Gott, wenn Du bist, wofür und warum muss dieser Mensch leben?" Sie muss die Erfahrung machen, dass Fiebernde, die sich die Decken vom Leib reißen und mit ihren Fäusten gegen Wände trommeln, nach ihr schlagen und sie wegstoßen. Körperkraft ist gefordert, sie im Bett niederzuhalten. In Ermangelung von Wein reicht sie Wasser so, als wäre es Wein. Mit Hilfe eines Strumpfes und eines Taschentuches lässt sie einen Verwirrten glauben, nun trage er wieder Rock und Helm und marschiere geradewegs nach Hause, zu Frau und Kind. Sie richtet in einem Nebenraum einen Rauchklub ein, um Patienten für schmerzhafte Behandlungen mit dem Elektrisierapparat zu gewinnen.

Als Lazarettschwester ist sie der mediko-mechanischen Station zugeteilt, also jener Abteilung, in der steife Glieder und Gelenke wieder gelenkig gemacht werden sollen. Auf hochgestellten Fahrrädern mühen sich Kranke ab, die das Knie nicht mehr abbiegen können. Andere treten alte Nähmaschinen auf und nieder. Rückgratsgelähmte. Ein Mann, der infolge eines Durchschusses durch das Ohr das Gleichgewichtsempfinden verloren hat, beim Versuch sich torkelnd fortzubewegen. Ein Gesichtsgelähmter, dessen eine Wangenhälfte schief herunter hängt. Andere.

Die physiotherapeutische Behandlung setzt Geduld voraus. Paula Schlier beschreibt ihre Begegnung mit einem Soldaten namens Czucha, dessen rechte Hand unbeweglich ist, "steif wie ein Brett, blaurot, jeder Finger eine Eisenzange." Bewegt sie die Hand mit dem Arm, so beißt er sich aus Schmerz wegen einer großen offenen Wunde am Oberarm auf die Zähne, stöhnt, fordert sie aber dennoch auf, nur nicht aufzuhören. Erst nach Wochen bemerkt er eine Besserung: "An der Fingern vorne rührte sich leise das erste Glied. Den Fortschritt konnten nur wir beide wahrnehmen, da wir die Hand ganz genau kannten. Nach Monaten war sie in den Gelenken so weit beweglich, daß Czucha einen Federhalter fassen und ein kleines Stück Holz aufheben konnte. ‚Welche Kraft ich schon habe, sehen Sie, Schwester', sagte er. Die Finger sahen jetzt aus wie dicke Raupen, die sich schläfrig bewegten." Später, verlegt in ein anderes Lazarett schickt Czucha eine Karte mit den Worten: "Liebe Schwester, diese Zeilen schreibe ich mit der rechten Hand, so gut geht es schon." Dann noch eine letzte Karte: "Diese Zeilen sind mit der linken Hand geschrieben; ich bekam Wundfieber, und nun haben sie mir den Arm doch abgenommen. Aber es geht schon wieder ..." Alle Mühe war vergebens. Oder vielleicht doch nicht?

Bemerkenswert der Hinweis, den Fortschritt hätten nur sie beide wahrnehmen können, hätten doch nur sie beide die Hand genau gekannt. Dies setzt wirkliche Berührung, wechselseitige Wahrnehmung voraus. Augen genügen da nicht, schon gar nicht der flüchtige Blick eines Arztes, der stets Wichtigeres zu tun hat. Diese Hinwendung steht in einem krassen Gegensatz zum Verhalten der Wärter, vor allem der Ärzte. Wärter vernageln die Betten von unruhigen und verwirrten Patienten mit Brettern, ohne auch nur daran zu denken, welche Gefühle und Ängste dies zur Folge haben kann, etwa die Angst bei lebendigem Leib eingesargt zu werden. Ärzte wiederum richten ihr Augenmerk einzig darauf, ob ein Patient nun wieder "kriegsverwendbar" sei. So droht alle Mühe wieder zunichte gemacht zu werden. Paula Schlier verbittert: "Die Verwundeten fühlten, daß ihre baldige Gesundung nicht zu ihrem Wohle, sondern um ihrer Felddiensttauglichkeit willen gewünscht wurde. Die Hand sollte heilen, damit sie wieder durchschossen werden konnte." Unerträglich ist ihr die Militärmusik, die nachmittags im Saal der Leichtverwundeten gespielt wird, bei Siegen mit verstärktem Orchester. Kranke bitten um Watte, um ihre Ohren verstopfen zu können.

Einmal in der Woche ist sie als Nachtwache im Schwerverwundetensaal eingeteilt. Der Raum wird einzig von einer Kerze, die auf einem Tisch in der Mitte des Saales steht, erhellt. Aus den dunklen Ecken ist Husten, Stöhnen, Ächzen, Röcheln zu hören, "wie aus einem lebendigen Grabe." Eine Ordensschwester bringt eine Tasse Tee, stellt diese auf den Tisch und sagt: "Heute hat also wieder unser kleiner Todesengel Dienst." Lächelnd, aber mit erhobenem Zeigefinger entschwindet sie, so lautlos wie sie eingetreten war. In diesen Nächten sterben viele. Manche liegen morgens einfach tot im Bett, während andere nach den Händen der Schwester greifen, Halt suchend. In einer der erwähnten Einschübe ist nicht klar, ob der Kranke an den Folgen seiner Erkrankung oder an der von der Schwester verabreichten Morphiumspritze stirbt: "Er verlangte mit schwacher Stimme zu trinken; ich flößte ihm Wasser zwischen die Lippen und ich bemerkte, daß sich seine Lippen in der Farbe nicht mehr von der übrigen Gesichtshaut unterschieden. Um ihm die Kissen ordnen zu können, mußte ich ihn hochheben, wobei er heiser jammerte, während ich in Furcht war, ihm zwischen meinen Fingern die Schulterknochen zu zerbrechen. Ich sah, daß seine ganze rechte Seite in Watte eingebunden war. Ich setzte die Morphiumspritze an sein rechtes Bein, er schlief sofort ein." Als sie später nach seinem Puls fühlt, weiß sie, dass der Mann gestorben ist. Der Körper ist bereits kalt, der Tod muss also kurz nach dem Verabreichen der Spritze eingetreten sein.

Die Krankenschwester wird mit dieser Erfahrung allein gelassen. Der diensthabende Arzt notiert die im Nachtkästchen befindlichen Gegenstände: "76 Mark 40 Pfennig, vier Ansichtskarten, die Photographie eines jungen Mädchens im Reitkleid, ein Kamm, ein Taschentuch und ein Rosenkranz." Auch die beiden Wärter, deren Aufgabe es ist, den Toten abzutransportieren, sind mit Praktischem beschäftigt. Sie binden den Toten in ein Leintuch und lassen ihn wie einen beliebigen Gegenstand auf eine Bahre niederfallen. Die Schwester: "Ich betrachtete den Toten, sah, wie er gekrümmt, klein, mit den gebrochenen Augen dalag, und ich dachte, selbst ein Ungläubiger müsse an einem Totenbett die Empfindung haben, dass nur unsere schwachen Augen daran schuld sind, wenn wir eine leblose, stumpfe Masse statt eines Menschen vor uns sehen, dessen Leben sich jetzt im Augenblick, und nur für uns unsichtbar, im Raume aufhält, löst und verschwebt." Sie meint, man müsse Ärzten abwinken, die nur allzu vernehmlich den eingetretenen Tod feststellten, man dürfe am Bett nicht weinen, nichts flüstern. Der Tote spüre das alles. Ein Arzt käme nie auf solche Gedanken. Bereits Florence Nightingale verbot flüsternde Gespräche in Hörweite des Kranken. Von "mehr Morphium als vom Arzt verordnet" schreibt Paula Schlier auch an anderer Stelle. Wie wäre Simone Weil mit Morphium umgegangen? Lässt sich diese Frage auch nicht beantworten, so fällt es nicht schwer, ihren "Plan zu einer Gruppen von Krankenschwestern an vorderster Front" als ein Projekt der Anästhesierung zu betrachten, dazu dienend, etwas in sich selbst abzutöten, sich gegen etwas unempfindlich zu machen, um es mit Paula Schlier zu formulieren, einen "körperlichen Schmerz zu fühlen, der dem Seelischen das Gleichgewicht hält."

Von anderen Lazarettschwestern wissen wir, dass sie durch diese Tätigkeit so sehr traumatisiert wurden, dass sie später nicht mehr fähig waren, als Pflegende zu arbeiten. Paula Schlier schrieb später, sie habe ihre Erfahrungen nicht zu bewältigen vermocht, sie habe diese ebenso verdrängt wie "die Überlebenden einer zusammengebrochenen Armee ihre Kriegserlebnisse." Und doch versuchte ihre Erfahrungen durch ihr Schreiben zu verarbeiten. In einer ihrer Erzählungen, die ausgehend von konkreten Erfahrungen oft ins Alptraumhafte abgleiten, sieht sie sich als Krankenschwester auf einem Lazarettschiff. Als das Schiff zu sinken droht, werden alle, die sich nur irgendwie bewegen können, in Sicherheit gebracht, zuletzt auch die Schwerstverletzten. Obwohl alle gerettet sind, begibt sie sich auf das sinkende Schiff, um sicher zu gehen, dass keiner der Kranken vergessen wurde. Diese Erfahrung blieb Paula Schlier im Gegensatz zu vielen Lazarettschwestern erspart, die oft genug, brach die Front zusammen, Schwerstverletzte ihrem Schicksal, zumeist dem sicheren Tod überlassen mussten.

Ich habe Paula Schlier nicht zuletzt deshalb zitiert, weil sie in manchem an Simone Weil denken lässt. In den frühen 20er Jahren zog sie nach München und arbeitete dort als Sekretärin und Journalistin. Da sie ihre schlechte Ausbildung als Mangel empfand, besuchte sie Vorlesungen an der Universität, darunter Vorlesungen von Max Weber. Damals verfasste sie eine Reihe von Artikeln, in denen sie sich vehement gegen den aufkeimenden Nationalsozialismus wandte. Dieser veräußerliche, verwildere, verrohe das nationale Gefühl, gestikuliere, schwätze, schreie, komme mit Pomp und Gewalt daher. Vor allem kritisierte sie auch den Antisemitismus: "Antisozial ist es, wenn man so maßlos ungerecht - und nebenbei dumm ist, daß man einen seit Jahrhunderten im Volk eingewurzelten Volksstamm nicht nur mit der Alleinschuld an unserem Elend belastet, sondern ihn auch in einer direkt kindisch anmutenden Weise dafür bestrafen will!" Um Material zu sammeln, begann sie 1923 beim "Völkischen Beobachter" als Stenotypistin zu arbeiten. Niemand fragte sie nach ihrer politischen Einstellung: "Die Meinung einer Stenotypistin in einer großen Redaktion ist völlig gleichgültig, die Schreiberin gehört zur Maschine, sie hat nur eine Funktion: die der Bedienung von Hebel und Taste." Die Konsequenzen nicht bedenkend, veröffentlichte sie ihre dabei gesammelten Erfahrungen.

1925 lernte sie in Innsbruck Ludwig von Ficker kennen, der ihr literarisches Talent erkannte und ihr eine "Genialität in der Fähigkeit reinen Mitempfindens und visionäre Wahrnehmungsgabe" attestierte. Zwischen ihm und Paula Schlier entwickelte sich eine Liebes- und Arbeitsbeziehung. Ihre ersten Bücher waren erfolgreich. 1926 kehrte sie nach München zurück und begann als Arzthelferin zu arbeiten, übernahm schließlich eine Stelle als Krankenpflegerin in einem Sanatorium für Nervenleidende in Garmisch, welches vom Neurologen Wilhelm Weindler geleitetet wurde. Nach mehreren mystischen Erlebnissen und apokalyptischen Visionen, die sie "diktiert bekam", wohl aber auch unter dem Einfluss, den der tiefgläubige Arzt Weindler auf sie ausübte, konvertierte Paula Schlier 1932 zum katholischen Glauben. Während sich Simone Weil über ihre mystischen Erlebnisse höchst zurückhaltend geäußert hat, sind die diesbezüglichen Beschreibungen bei Paula Schlier von einer schwärmerischen Üppigkeit.

1942 wurde die Autorin verhaftet. Ausgerechnet einer ihrer Beichtväter hatte Briefe an die Gestapo weitergegeben. Vermutlich waren ihre Texte aus den 1920er Jahren ausschlaggebend, in denen sie Hitler etwa als "hysterischen Demagogen" bezeichnet hatte. Sie verbrachte mehrere Wochen in Einzelhaft. Gegen ihren Widerstand gelang es Dr. Weindler mit Hilfe eines Gutachtens, in dem er einen "religiösen Wahn" diagnostizierte, eine Internierung in das KZ Dachau zu verhindern: "Lieber nach Dachau, Willy, ich will nicht so feige sein!" In die Landesheilanstalt Eglfing/Haar überstellt, begann die Autorin sich für die Krankheitsbilder wie das Verhalten der Patienten zu interessieren: "Nie im Leben habe ich eine ähnlich fromme Gemeinde in einer Kirche gesehen. Ich möchte fast sagen, diese Offenheit des Unbewussten beim schizophrenen Kranken ist eine Gnade ..." Es gelang ihr unterzutauchen. Sie überlebte die NS-Zeit in einem Nonnenkloster in Tirol. Nach Kriegsende kehrte sie nach Garmisch zurück, um dort als Arzthelferin zu arbeiten. Als Autorin gelang es ihr nicht mehr, an ihren früheren Erfolgen anzuknüpfen. Sie starb 1977.

Krankenpflege gilt allgemein als sehr belastende Tätigkeit. Dies machen etwa viele von Krankenschwestern verwendete Metaphern deutlich: "mir geht die Luft aus", "ich hab es satt", "ich bin bis oben hin voll", "es ist schwer auszuhalten", "mir ist das zuviel", "man möchte am liebsten davonlaufen", "du wirst vollgeredet", "man darf es nicht persönlich nehmen", "man muß es hinunterschlucken", "ich darf gar nicht daran denken", "es reicht mir", "ich fühle mich leer", "ich bin ausgepumpt", "du könntest überlaufen", "ich fühle mich als Abfallkübel", "ertrinken in der Scheiße", "überflutet werden", "in einen Sog hineingeraten", "soviel wie man schluckt, kann man gar nicht mehr aufnehmen", "aufgefressen werden", "verschlungen werden", "ausgesaugt werden", "das saugt dir die Knochen trocken und die Substanz", "man muß viel schlucken", "erdrückt werden", etc. In auffallend vielen solcher Metaphern kommen Todes- oder Vernichtungsängste zum Ausdruck, etwa die Angst zu ertrinken.

Ähnliche Bilder finden sich wiederholt bei Paula Schlier. Als Mädchen, als sie in einem Fluss zu ertrinken drohte, machte sie die Erfahrung, dass Rettung sich nicht dem übermäßigen Einsatz aller Kräfte, sondern sich der Hingabe, dem sich Treiben und Tragen lassen verdankt: "Das Wasser trug mich, ohne dass ich mich bewegte ... Nur ich selber zerschmolz, zerrann. Mein Fleisch fiel von mir ab, meine ganze Person verschwand . ... Was von mir übrig geblieben war, war Leere, und doch war es kein Ausgelöschtsein . ...Diese ‚Leere' dehnte sich aus - uferlos. Welche Freiheit, die mich zieht, die mich hat, die mich trägt - die ich bin." Das liest sich ganz anders als Simone Weil. An anderer Stelle kommt Paula Schlier auf einen Knaben zu sprechen, der in einem Fluß ertrank, als er Mutter und Schwester seinen neuen Kopfsprung zeigen wollte. Als die beiden das Unglück bemerkten, war es bereits zu spät. Wenige Tage später, an derselben Stelle stehend und mit einem Stock das Wasser untersuchend, fragt sich Paula Schlier, wie sie sich verhalten hätte, wäre sie zugegen gewesen: "Ich hätte den Knaben gerettet. Vielleicht hätte ich ihn auch nicht gerettet, aber ich wäre ihm doch sofort in das Wasser nachgesprungen. Das hätte ich sicherlich getan. Ja, und im letzten Grunde hätte ich den Knaben mir zuliebe gerettet. Ich zog den Stock aus dem Wasser und spießte ein Blatt am Wege auf. [...] Ich dachte, daß derjenige Mensch der Held sei und sich die Krone erringe, dessen Eigenliebe sich mit seiner Leidenschaft zur Menschheit decken würde. Der Egoismus müßte so stark sein, daß er, indem er sich selbst meint, den anderen trifft und umschließt, und indem der Mensch sich selbst liebt, der Mitmensch geliebt erscheint. Oder ist dies nicht wahr?" Mitfühlen mit anderen kann nur, wer auf sich selbst, seine Grenzen achtet. Eigenliebe als Voraussetzung dafür, anderen zu begegnen und diese zu "umschließen", diese Vorstellung war Simone Weil fremd.

Bernhard Kathan 2010


Roy Lichtenstein

Literatur:
Lisbeth Ascher, Pflege als Begegnung. Eine Krankenschwester erzählt aus ihrem Leben, Wien 1999.
Paula Schlier, Petras Aufzeichnungen oder Konzept einer Jugend nach dem Diktat der Zeit, Innsbruck 1926.
Bernhard Kathan, "Mein sozialer Tic ist geheilt." Krankenschwestern sprechen über ihre Belastungen, Innsbruck 1991.
Bernhard Kathan, Das Elend der ärztlichen Kunst. Eine andere Geschichte der Medizin, Berlin 2002.
Birgit Panke-Kochinke, Monika Schaidhammer-Placke, Frontschwestern und Friedensengel. Kriegskrankenpflege im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Frankfurt am Main 2002.
Christine Sowinski, "Stellenwert der Ekelgefühle im Erleben des Pflegepersonals", in: Pflege 4. Jg., Heft 3, 1991.


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