Aramis und seine Totenbretter

Photographie: Aramis    

Ein Ausstellungsmacher bzw. Kurator ist ein Stellvertreter für das Publikum, der zeigt, wie man mit den Zumutungen von Kunst fertig wird, die nicht durch Besitz, Kritik, Anerkennung, Wissen, Einordnung usw. zu befriedigen sind. [...] Hier würde ich das Gefühl der Leidenschaft positionieren wollen. [...] Ob ich nun aus Hass oder Liebe, Enthusiasmus oder schwerster seelischer Selbstvergewaltigung etwas mache, ist eigentlich gleichgültig. Entscheidend sind die Leidenschaft und die Kraft einer Behauptung. Der Kurator muss mit seiner Leidenschaft, die in einer ausgestellten Behauptung sichtbar wird, das Risiko eingehen, sich zu blamieren, sich zu erledigen, vielleicht sogar rausgeschmissen zu werden.
Bazon Brock, NZZ 215/2006



Bevor Särge allgemein üblich wurden, wurden Tote auf einem Brett aufgebahrt und darauf zu Grabe getragen. Nach dem Begräbnis wurden die Bretter verbrannt, sie konnten aber auch bis zum nächsten Todesfall aufgehoben werden. Erst später wurden solche Totenbretter beschriftet, an Hauswänden aufgehängt oder anderen Orten zur Erinnerung an die Verstorbenen aufgestellt. Das Totenbrett kennt aber auch eine zweite Bedeutung. Solche Bretter legte man als Brücke für die Seelen der Verstorbenen auf dem Weg ins Jenseits über Gräben, Bäche und sumpfige Stellen. Sie sollten möglichst rasch verfaulen, damit die Seele zur Ruhe komme. Mancherorts wurden solche Bretter zur Herstellung von Taubenschlägen benutzt. Man glaubte, aus so gefertigten Schlägen entflögen die Tauben nicht.

Das Verhältnis früherer Gesellschaften zu den Toten war schwierig. Es galt, eine möglichst klare Trennlinie zwischen Lebenden und Toten zu ziehen. Es galt, die Rückkehr der Toten - und zwar insbesondere jener, mit denen man in enger Verbindung stand - zu verhindern. Man denke an die mancherorts bekannten Totenfenster, die nach Stunden wieder verschlossen wurden, um die Rückkehr der Seele zu verhindern. Wurden die Bretter, über die der Sarg zum Grab getragen wurde, nach dem Begräbnis wieder entfernt, dann kam dem eine ähnliche Bedeutung zu.

Das Totenbrett ist außer Gebrauch gekommen. Wer will denn heute noch einen Toten aufgebahrt sehen, und schon gar auf einem Brett, mit Stricken festgebunden. Tote sind zu einem Entsorgungsgut geworden. Ihre Entsorgung geschieht professionell, geradezu keimfrei, allen Betriebsauflagen und Bestimmungen des Umweltschutzes entsprechend. Die Erdbestattung bedeutet keine Gefährdung des Grundwassers, die bei der Feuerbestattung auftretenden Emissionen liegen unter den Grenzwerten.

Wenn sich heute noch jemand mit Totenbrettern beschäftigt, dann der Künstler Aramis, der zahllose davon angefertigt hat. Das erste Brett machte er für sich, die nächsten beiden für Frau und Kind, die restlichen für Unbekannte. Seines trägt die Inschrift: "TOTENBRETT DES . ADAM . ARA . MIS . PETER . HANS . 10. II. 1950 RUHE." Diese Bretter sind in dem von Aramis eingerichteten "anderen Heimatmuseum" zu sehen.

Vor Jahren hat der Künstler eine Schlossruine des Stiftes St. Lambrecht in Pacht genommen. Nutzungsrecht gegen Objekterhaltung. Damals sah er wohl nur ein heruntergekommenes Gebäude, seine Lage, die viele Arbeit, die auf ihn wartete. Zweifellos konnte er sich vorstellen, dass sich in diesem Gebäude über die Jahrhunderte vieles ereignet haben musste, dass wohl manche Magd darin geschwängert wurde. Um die jüngere Geschichte der Ruine wusste er nicht. Er wusste nicht, dass während der NS-Zeit das Schloss als eine von vielen Außenstellen des Konzentrationslagers Mauthausen diente. Im dritten Stock waren KZ-Häftlinge untergebracht, bei den meisten von ihnen handelte es sich um Polen und republikanische Spanier, in einem Zwischengeschoß sowjetische Kriegsgefangene. Diese Geschichte erfuhr Aramis zufällig in einem Gespräch mit einem älteren Herrn. Dieser kam vorbei, um noch einmal das Gebäude zu sehen, in dem er inhaftiert war. Auch das Gebäude erwies sich als gesprächig. Während der Renovierungsarbeiten kam Schicht um Schicht zu Tage. An die russischen Kriegsgefangenen erinnert dabei wenig. Das einzige, was sich ihnen eindeutig zuordnen ließ, waren einige Worte in kyrillischen Buchstaben, die einer an die Wand gekritzelt hatte: "Geliebtes Leben / Gefangenschaft / Am 8.5.45 durften wir das erste Mal die Mauern des Lagers verlassen."

Als ich der erste Mal das Museum besuchte, wusste ich um diese Geschichte. Das Zimmer des Schlosses, in dem ich schlafen durfte, war angenehm und liebevoll eingerichtet, jedes Stück vom Tisch bis zum Bett eine Einzelanfertigung, KunstHANDwerk. Durch das offenstehende Fenster drang angenehm kühle Luft in den Raum. Matratzen und Bettzeug versprachen einen guten Schlaf. Es gab sogar gute Leselampen, die man in den meisten Hotels vermisst. Und dennoch graute mir vor der Nacht. In den Stunden zuvor hatte ich mir die Ausstellung angeschaut, befand ich mich in Räumen, von denen ich wusste, dass hier KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene zusammengepfercht waren. Das Schlafzimmer stand für mich in einem vollkommenen Widerspruch zu den Ausstellungsäumen. Da ein bestens ausgestattetes Zimmer, dort eine Abfolge mit Räumen, buchstäblich angefüllt mit Restmüll der Vergangenheit. In manchen dieser Räume roch es nach feuchtem Mauerwerk, Urin und Kot. Meine Geruchsempfindungen mochten auch mit dem zu tun gehabt haben, was ich sah: abgetragenes Schuhwerk, immer wieder Knochen, Schädel von Menschen und Tieren, benutzte Damenbinden, Stacheldraht, zu Kränzen geflochten, Fundstücke aus dem Bauwerk, bäuerliches Werkzeug, Scherben, Wachs, brennende und abgebrannte Kerzen, Schlangenhäute, sehr viel Organisches, dazwischen vergilbte Zeitschriften, Kitschabbildungen oder auch Dokumente aus der österreichischen Geschichte, zahllose Zitate, angesiedelt zwischen Beauvoir und Turrini. Die Ausstellung hat mich sehr beschäftigt. Ich war geradezu voll von all diesen Eindrücken.

Der Raum, in dem ich schlafen sollte, war für mich alles andere als neutral. Ich dachte, dass in diesem Raum früher einmal die SS-Wachmannschaften untergebracht waren, die Häftlinge gleich nebenan, in feuchten, kalten Räumen, nur durch ein Stiegenhaus getrennt. Ich musste an das Märchen denken, in dem einer auszieht, um das Fürchten zu lernen. Drei Tage hat er in einem verwunschenen Schloss zu wachen. Die Pfoten der beiden schwarzen Katzen schraubt er in der Schnitzbank fest, um deren Krallen zu schneiden. Andere gespenstische Tiere schlägt er mit seinem Schnitzmesser tot. Und als es gilt, mit Totenköpfen zu kegeln, setzt er sich erst einmal an die Drehbank und dreht sie rund. Und nachts fährt das Bett, in welches sich der junge Bursche legt, im Schloss herum, durch Räume, über Stiegen auf und ab. Leider bin ich nicht so furchtlos. Ich nahm zwei Schlaftabletten, um sofort in einen traumlosen Schlaf zu fallen.

Trotz der Schlaftabletten wachte ich in der Nacht auf. Anders als im Grimmschen Märchen blieb das Bett ruhig stehen. Es fuhr nicht durch Räume, es gab kein Gepolter. Nein, ich lag völlig ruhig im Bett. Ich sah die Umrisse der Tür und des Kastens. Nicht ich, Aramis schien mir in diesem Augenblick als der eigentliche Passagier des Bettes, welches nachts durch das Schloss fährt. Wer immer sich als Künstler begreift, beansprucht für sich Autorenschaft. Was aber, wenn der Künstler trotz aller Tätigkeit Medium ist, Medium eigener und fremder Vergangenheit?

Bei meinem ersten Besuch hat mich die Präsentation wie die Inszenierung der Objekte in höchsten Maß irritiert. Ich bin als Kulturhistoriker trainiert, historisch genau zu sein, etwa Quellen anzugeben, Zitate und Objekte zu kontextualisieren. Zwangsläufig werden Besucher dazu neigen, Fotos von KZ-Häftlingen mit dem Gebäude in Beziehung zu setzen. Meines Wissens ist bislang kein einziges Foto aufgetaucht, welches Häftlinge in Schloss Lind zeigen würde. Als Außenstelle des Konzentrationslagers Mauthausen ist Schloss Lind zwar im Kontext nationalsozialistischer Menschenvernichtung zu sehen, aber um ein Tötungslager handelte es sich nicht, waren die Haftbedingungen auch schlecht. Viele der gezeigten und inszenierten Objekte sind in höchster Weise mit Bedeutung überfrachtet, ja selbst mit Bedeutungen, die die meisten dieser Objekte zu der Zeit, als sie in Verwendung standen, nicht kannten. Und nicht zuletzt schien mir, als seien mir viele Deutungen bereits aufgezwungen.

Später sollte ich begreifen, dass man das "andere Heimatmuseum" nicht an den üblichen musealen Kategorien messen darf. Man muss es anders lesen, und zwar nicht über Details, sondern über das Gesamte, die Masse der Objekte. Man muss sich dem eigenen Assoziationsstrom überlassen, den unterschiedlichsten Widerständen, die bei einem geweckt werden. Aramis spricht denn auch von "assoziative Installationen". Dem Einwand historischer Ungenauigkeit ist schon entgegenzuhalten, dass es sich seiner Arbeit verdankt, dass kaum eines der vielen vor allem kleineren Außenlager so gut dokumentiert ist wie das des Schlosses Lind. Zweifellos ist das Projekt Schloss Lind ein Gesamtkunstwerk. Von unten bis oben ist es von leidenschaftlicher Arbeit durchdrungen. Es bedarf ständiger Ergänzung und Wartung. Selbst das Laub auf dem Bretterboden, welches wirkt, als hätte es der Wind zufällig hierher getragen, muss in Position gebracht werden. Überall bedarf es des Augenmerks des Künstlers.

Als leidenschaftlicher Restaurateur baufälliger Gebäude hat Aramis ein besonders Verhältnis zu Ruinen. Und die Ruine steht hier nicht für das Erhabene, sondern für die (verdrängte) Geschichte wie den Umgang mit ihr. Bezeichnenderweise wird aus baufällig gewordenen und sich selbst überlassenen Gebäuden nicht nur abtransportiert (Öfen, Kacheln, Fenster etc.), sie werden auch als Orte gedacht, in denen sich Unrat deponieren lässt. Wohl manches Fundstück, welches sich heute in den Ausstellungsräumen befindet, wurde erst nach dem zweiten Weltkrieg hier als Mull entsorgt. Menschen neigen selbst dazu, in baufällig gewordenen Gebäuden ihre Notdurft zu verrichten. Der dumpfe Geruch nach Urin, den ich bei meinem ersten Besuch mit den Inhaftierten assoziierte, kann sich denn auch Sonntagsspaziergänger unterschiedlichster Art verdanken.

Die Ruinenarbeit von Aramis hat alles andere als eine anästhesierende Ausstellungspraxis zur Folge, in der alles in einer lange zurückliegenden und uns fremd gewordenen Zeit befriedet wäre. Seine Totenbretter lassen sich denn auch metaphorisch auf seine Museumsarbeit übertragen. Nur, dass er alles daran setzt, dass die ausgelegten Bretter nicht verfaulen, damit den Gespenstern der Vergangenheit der Weg in die Gegenwart nicht verschlossen bleibe. Und sie treten ja wirklich auf, was die vielen Konflikte und Projektionen zeigen, die Aramis' Arbeit begleiten. Dabei findet sich im "anderen Heimatmuseum" kaum etwas, was nicht auch in anderen Museen zu sehen wäre.

Der furchtlose Junge im Grimmschen Märchen legt sich mit einem Toten ins Bett, als alle anderen Versuche, ihn zum Leben zu erwecken, scheitern. Und tatsächlich wird er wieder warm und fängt an sich zu regen. Der Junge muss die Erfahrung machen, dass der Erweckte sich als undankbar erweist, versucht dieser doch, ihn zu erwürgen.

"Das andere Heimatmuseum"
Schloss Lind
St. Marein / Neumarkt
schlosslind.at/schlosslind/Heimatmuseum.htm

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