Bevor Särge allgemein üblich wurden, wurden Tote auf einem Brett aufgebahrt
und darauf zu Grabe getragen. Nach dem Begräbnis wurden die Bretter
verbrannt, sie konnten aber auch bis zum nächsten Todesfall aufgehoben
werden. Erst später wurden solche Totenbretter beschriftet, an Hauswänden
aufgehängt oder anderen Orten zur Erinnerung an die Verstorbenen
aufgestellt. Das Totenbrett kennt aber auch eine zweite Bedeutung. Solche
Bretter legte man als Brücke für die Seelen der Verstorbenen auf dem Weg ins
Jenseits über Gräben, Bäche und sumpfige Stellen. Sie sollten möglichst
rasch verfaulen, damit die Seele zur Ruhe komme. Mancherorts wurden solche
Bretter zur Herstellung von Taubenschlägen benutzt. Man glaubte, aus so
gefertigten Schlägen entflögen die Tauben nicht.
Das Verhältnis früherer Gesellschaften zu den Toten war schwierig. Es galt,
eine möglichst klare Trennlinie zwischen Lebenden und Toten zu ziehen. Es
galt, die Rückkehr der Toten - und zwar insbesondere jener, mit denen man in
enger Verbindung stand - zu verhindern. Man denke an die mancherorts
bekannten Totenfenster, die nach Stunden wieder verschlossen wurden, um die
Rückkehr der Seele zu verhindern. Wurden die Bretter, über die der Sarg zum
Grab getragen wurde, nach dem Begräbnis wieder entfernt, dann kam dem eine
ähnliche Bedeutung zu.
Das Totenbrett ist außer Gebrauch gekommen. Wer will denn heute noch einen
Toten aufgebahrt sehen, und schon gar auf einem Brett, mit Stricken
festgebunden. Tote sind zu einem Entsorgungsgut geworden. Ihre Entsorgung
geschieht professionell, geradezu keimfrei, allen Betriebsauflagen und
Bestimmungen des Umweltschutzes entsprechend. Die Erdbestattung bedeutet
keine Gefährdung des Grundwassers, die bei der Feuerbestattung auftretenden
Emissionen liegen unter den Grenzwerten.
Wenn sich heute noch jemand mit Totenbrettern beschäftigt, dann der Künstler
Aramis, der zahllose davon angefertigt hat. Das erste Brett machte er für
sich, die nächsten beiden für Frau und Kind, die restlichen für Unbekannte.
Seines trägt die Inschrift: "TOTENBRETT DES . ADAM . ARA . MIS . PETER .
HANS . 10. II. 1950 RUHE." Diese Bretter sind in dem von Aramis
eingerichteten "anderen Heimatmuseum" zu sehen.
Vor Jahren hat der Künstler eine Schlossruine des Stiftes St. Lambrecht in
Pacht genommen. Nutzungsrecht gegen Objekterhaltung. Damals sah er wohl nur
ein heruntergekommenes Gebäude, seine Lage, die viele Arbeit, die auf ihn
wartete. Zweifellos konnte er sich vorstellen, dass sich in diesem Gebäude
über die Jahrhunderte vieles ereignet haben musste, dass wohl manche Magd
darin geschwängert wurde. Um die jüngere Geschichte der Ruine wusste er
nicht. Er wusste nicht, dass während der NS-Zeit das Schloss als eine von
vielen Außenstellen des Konzentrationslagers Mauthausen diente. Im dritten
Stock waren KZ-Häftlinge untergebracht, bei den meisten von ihnen handelte
es sich um Polen und republikanische Spanier, in einem Zwischengeschoß
sowjetische Kriegsgefangene. Diese Geschichte erfuhr Aramis zufällig in
einem Gespräch mit einem älteren Herrn. Dieser kam vorbei, um noch einmal
das Gebäude zu sehen, in dem er inhaftiert war. Auch das Gebäude erwies sich
als gesprächig. Während der Renovierungsarbeiten kam Schicht um Schicht zu
Tage. An die russischen Kriegsgefangenen erinnert dabei wenig. Das einzige,
was sich ihnen eindeutig zuordnen ließ, waren einige Worte in kyrillischen
Buchstaben, die einer an die Wand gekritzelt hatte: "Geliebtes Leben /
Gefangenschaft / Am 8.5.45 durften wir das erste Mal die Mauern des Lagers
verlassen."
Als ich der erste Mal das Museum besuchte, wusste ich um diese Geschichte.
Das Zimmer des Schlosses, in dem ich schlafen durfte, war angenehm und
liebevoll eingerichtet, jedes Stück vom Tisch bis zum Bett eine
Einzelanfertigung, KunstHANDwerk. Durch das offenstehende Fenster drang
angenehm kühle Luft in den Raum. Matratzen und Bettzeug versprachen einen
guten Schlaf. Es gab sogar gute Leselampen, die man in den meisten Hotels
vermisst. Und dennoch graute mir vor der Nacht. In den Stunden zuvor hatte
ich mir die Ausstellung angeschaut, befand ich mich in Räumen, von denen ich
wusste, dass hier KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene zusammengepfercht waren.
Das Schlafzimmer stand für mich in einem vollkommenen Widerspruch zu den
Ausstellungsäumen. Da ein bestens ausgestattetes Zimmer, dort eine Abfolge
mit Räumen, buchstäblich angefüllt mit Restmüll der Vergangenheit. In
manchen dieser Räume roch es nach feuchtem Mauerwerk, Urin und Kot. Meine
Geruchsempfindungen mochten auch mit dem zu tun gehabt haben, was ich sah:
abgetragenes Schuhwerk, immer wieder Knochen, Schädel von Menschen und
Tieren, benutzte Damenbinden, Stacheldraht, zu Kränzen geflochten,
Fundstücke aus dem Bauwerk, bäuerliches Werkzeug, Scherben, Wachs, brennende
und abgebrannte Kerzen, Schlangenhäute, sehr viel Organisches, dazwischen
vergilbte Zeitschriften, Kitschabbildungen oder auch Dokumente aus der
österreichischen Geschichte, zahllose Zitate, angesiedelt zwischen Beauvoir
und Turrini. Die Ausstellung hat mich sehr beschäftigt. Ich war geradezu
voll von all diesen Eindrücken.
Der Raum, in dem ich schlafen sollte, war für mich alles andere als neutral.
Ich dachte, dass in diesem Raum früher einmal die SS-Wachmannschaften
untergebracht waren, die Häftlinge gleich nebenan, in feuchten, kalten
Räumen, nur durch ein Stiegenhaus getrennt. Ich musste an das Märchen
denken, in dem einer auszieht, um das Fürchten zu lernen. Drei Tage hat er
in einem verwunschenen Schloss zu wachen. Die Pfoten der beiden schwarzen
Katzen schraubt er in der Schnitzbank fest, um deren Krallen zu schneiden.
Andere gespenstische Tiere schlägt er mit seinem Schnitzmesser tot. Und als
es gilt, mit Totenköpfen zu kegeln, setzt er sich erst einmal an die
Drehbank und dreht sie rund. Und nachts fährt das Bett, in welches sich der
junge Bursche legt, im Schloss herum, durch Räume, über Stiegen auf und ab.
Leider bin ich nicht so furchtlos. Ich nahm zwei Schlaftabletten, um sofort
in einen traumlosen Schlaf zu fallen.
Trotz der Schlaftabletten wachte ich in der Nacht auf. Anders als im
Grimmschen Märchen blieb das Bett ruhig stehen. Es fuhr nicht durch Räume,
es gab kein Gepolter. Nein, ich lag völlig ruhig im Bett. Ich sah die
Umrisse der Tür und des Kastens. Nicht ich, Aramis schien mir in diesem
Augenblick als der eigentliche Passagier des Bettes, welches nachts durch
das Schloss fährt. Wer immer sich als Künstler begreift, beansprucht für
sich Autorenschaft. Was aber, wenn der Künstler trotz aller Tätigkeit Medium
ist, Medium eigener und fremder Vergangenheit?
Bei meinem ersten Besuch hat mich die Präsentation wie die Inszenierung der
Objekte in höchsten Maß irritiert. Ich bin als Kulturhistoriker trainiert,
historisch genau zu sein, etwa Quellen anzugeben, Zitate und Objekte zu
kontextualisieren. Zwangsläufig werden Besucher dazu neigen, Fotos von
KZ-Häftlingen mit dem Gebäude in Beziehung zu setzen. Meines Wissens ist
bislang kein einziges Foto aufgetaucht, welches Häftlinge in Schloss Lind
zeigen würde. Als Außenstelle des Konzentrationslagers Mauthausen ist
Schloss Lind zwar im Kontext nationalsozialistischer Menschenvernichtung zu
sehen, aber um ein Tötungslager handelte es sich nicht, waren die
Haftbedingungen auch schlecht. Viele der gezeigten und inszenierten Objekte
sind in höchster Weise mit Bedeutung überfrachtet, ja selbst mit
Bedeutungen, die die meisten dieser Objekte zu der Zeit, als sie in
Verwendung standen, nicht kannten. Und nicht zuletzt schien mir, als seien
mir viele Deutungen bereits aufgezwungen.
Später sollte ich begreifen, dass man das "andere Heimatmuseum" nicht an den
üblichen musealen Kategorien messen darf. Man muss es anders lesen, und zwar
nicht über Details, sondern über das Gesamte, die Masse der Objekte. Man
muss sich dem eigenen Assoziationsstrom überlassen, den unterschiedlichsten
Widerständen, die bei einem geweckt werden. Aramis spricht denn auch von
"assoziative Installationen". Dem Einwand historischer Ungenauigkeit ist
schon entgegenzuhalten, dass es sich seiner Arbeit verdankt, dass kaum eines
der vielen vor allem kleineren Außenlager so gut dokumentiert ist wie das
des Schlosses Lind. Zweifellos ist das Projekt Schloss Lind ein
Gesamtkunstwerk. Von unten bis oben ist es von leidenschaftlicher Arbeit
durchdrungen. Es bedarf ständiger Ergänzung und Wartung. Selbst das Laub auf
dem Bretterboden, welches wirkt, als hätte es der Wind zufällig hierher
getragen, muss in Position gebracht werden. Überall bedarf es des Augenmerks
des Künstlers.
Als leidenschaftlicher Restaurateur baufälliger Gebäude hat Aramis ein
besonders Verhältnis zu Ruinen. Und die Ruine steht hier nicht für das
Erhabene, sondern für die (verdrängte) Geschichte wie den Umgang mit ihr.
Bezeichnenderweise wird aus baufällig gewordenen und sich selbst
überlassenen Gebäuden nicht nur abtransportiert (Öfen, Kacheln, Fenster
etc.), sie werden auch als Orte gedacht, in denen sich Unrat deponieren
lässt. Wohl manches Fundstück, welches sich heute in den Ausstellungsräumen
befindet, wurde erst nach dem zweiten Weltkrieg hier als Mull entsorgt.
Menschen neigen selbst dazu, in baufällig gewordenen Gebäuden ihre Notdurft
zu verrichten. Der dumpfe Geruch nach Urin, den ich bei meinem ersten Besuch
mit den Inhaftierten assoziierte, kann sich denn auch Sonntagsspaziergänger
unterschiedlichster Art verdanken.
Die Ruinenarbeit von Aramis hat alles andere als eine anästhesierende
Ausstellungspraxis zur Folge, in der alles in einer lange zurückliegenden
und uns fremd gewordenen Zeit befriedet wäre. Seine Totenbretter lassen sich
denn auch metaphorisch auf seine Museumsarbeit übertragen. Nur, dass er
alles daran setzt, dass die ausgelegten Bretter nicht verfaulen, damit den
Gespenstern der Vergangenheit der Weg in die Gegenwart nicht verschlossen
bleibe. Und sie treten ja wirklich auf, was die vielen Konflikte und
Projektionen zeigen, die Aramis' Arbeit begleiten. Dabei findet sich im
"anderen Heimatmuseum" kaum etwas, was nicht auch in anderen Museen zu sehen
wäre.
Der furchtlose Junge im Grimmschen Märchen legt sich mit einem Toten ins
Bett, als alle anderen Versuche, ihn zum Leben zu erwecken, scheitern. Und
tatsächlich wird er wieder warm und fängt an sich zu regen. Der Junge muss
die Erfahrung machen, dass der Erweckte sich als undankbar erweist, versucht
dieser doch, ihn zu erwürgen.
"Das andere Heimatmuseum"
Schloss Lind
St. Marein / Neumarkt
schlosslind.at/schlosslind/Heimatmuseum.htm