About the Ukrainian War: Stricken und sticken




"Sympathisch am Sticken finde ich, dass es eigentlich absolut unnütz ist. Man löst keine Gleichung, man repariert keine Waschmaschine, man operiert nicht am offenen Herzen, man schafft etwas Schönes. Und das wiederum ist gar nicht unnütz."
Marina Weisband


Graphisch haben sich verschiedene Bilder ineinander geschoben. Da wären Ahornsamen zu nennen, die noch vor drei Wochen millionenfach auf der Straße herumlagen und von denen ich immer wieder den einen oder anderen aufhob, um ihn näher zu betrachten. Trotz aller Ähnlichkeit sind sie doch sehr verschieden. Beim Betrachten drängten sich mir Drohnen auf, die nachts über die Ukraine herfallen und Wohnhäuser, Bahnhöfe, Stromleitungen, Museen, Theater, Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser, Kraft-, Heiz- und Wasserwerke zerstören. Da war es nicht weit zu Goyas "Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer".

Das verarbeitete Textmaterial reicht von Tagesereignissen, Bilduntertiteln über kluge essayistische Betrachtungen bis hin zu dümmsten Kommentaren selbsternannter Experten. Manchmal blieb ich an einzelnen Formulierungen hängen, so etwa am Wort "Weltuntergangsflugzeug", mit dem eine Spezialkonstruktion der Iljuschin II-80 gemeint ist, von der aus Putin im Falle eines Atomkrieges Russland regieren soll. Die Auswahl aus der schier unüberblickbaren Textmasse richtete sich nach dem, was mir aus diesen oder jenen Gründen bemerkenswert erschien. Und da es mir, mögen Tagesereignisse zwischen dem 12.10. und 26.11. auch fortlaufend verzeichnet sein, weniger um eine Chronologie der Ereignisse ging als um das Bemühen, zumindest das eine oder andere ansatzweise zu verstehen, schob sich immer wieder Verschriftlichtes aus anderen Zeiten und Regionen hinein, wobei sich vieles geradezu aufdrängte, sei es in Form von Strukturanalogien oder kontrastierenden Elementen. Nach der Teilmobilmachung empfahl es sich etwa, Berichte herauszusuchen, die 1956 nach dem Ungarnaufstand verfasst wurden. Da kann man etwa lesen: "Gefangengenommene russische Rotarmisten, aus Asien geholt, sagten aus, sie hätten geglaubt, statt an der Donau und der Theiß in Ägypten am Suezkanal zu sein, wo sie die Imperialisten verjagen sollten. So war es ihnen von ihren Kommandanten eingetrichtert worden. Andere meinten, sie kämpften am Ärmelkanal gegen englische und deutsche Faschisten." Klingt doch bekannt.

Um ein anderes Beispiel zu nennen: Was heute in der Ukraine geschieht, lässt aus vielen Gründen an die Leningrader Blockade oder die Belagerung von Sarajevo denken, mit dem einen Unterschied, dass nun ein ganzes Land in Geiselhaft genommen und einem höchst destruktiven Terror ausgesetzt ist. Auf Sarajevo bezogen notierte Bogdan Bogdanović: "Dieser verlogene Krieg, selbst wenn man ihn mit diplomatischen und politischen Mitteln endlich eindämmen und beruhigen sollte, wird in den Köpfen der Menschen viele vergiftete und entzündliche Sedimente zurücklassen, und künftige Explosionen sind leicht vorhersehbar."
Und wenn Bogdanović in seinen Betrachtungen die griechisch-römische Antike bemüht, habe ich keine Mühe, noch weiter zurückzugehen, sei es im Interesse einer nötigen Distanzierung oder Kontrastierung. So haben sich denn auch immer wieder Tatinschriften akkadischer und assyrischer Königen hineingedrängt. Auch da haben wir es durchwegs mit kriegerischen Ereignissen zu tun. All das liegt weniger weit auseinander als es auf den ersten Blick scheint. Wie auch immer, die Textstellen überlappen sich oft erstaunlich gut. Zitierte ich etwa aus einem der Ukraineberichte eine Auflistung von Menschen und Material, dann fand sich in den Königsinschriften gleich eine Stelle mit ähnlichen Auflistungen. Und von Sanheribs Beschreibung der Belagerung Jerusalems (Ursalimma) ist es nicht weit zu eben dieser Geschichte bei Jesaja, die nicht nur kunstvoll gebaut, sondern auch noch tröstlich ist. Gäb's doch einen Gott, der einem Gewaltherrscher einen Ring durch die Nase zieht und ihm einen Zaum ins Maul legt. Schon bei diesem Satz fällt mir ein anderer Satz ein, schrieb doch der ungarische Lyriker Ferenc Juhász in einem seiner Gedichte: "gäbs einen gott, ich verleugnete ihn jetzt, / schlüge in sein aasgesicht mit beiden fäusten, / bisse seine hand, wenn sie zum gegenschlag ansetzte ..." Nein, dieses Gedicht habe ich nicht verwendet.

Wenn ein auffallender Unterschied zwischen heutigen und sehr frühen Texten zu nennen ist, dann findet sich dieser vor allem dort, wo in frühen Schriften Schrecken und Gewalt in sehr körperbezogenen Bildern oder solchen, die der Natur entlehnt sind, zum Ausdruck kommen: "Wie in ein Vogelnest / langte meine Hand in die Habe der Völker, / wie verlaßne Eier man einrafft, / raffte ich, ich alles Erdland, / da war nichts, das den Flügel regte, / den Schnabel aufsperrte und zirpte." In heutigen den Krieg betreffende Begrifflichkeiten sind solche Bilder abhanden gekommen. Bedauerlicherweise waren die Altorientalisten zu sehr auf Sinnwiedergabe bedacht, haben also oft Begriffe verwendet, die das Gemeinte zwar wiedergeben, genaugenommen aber sehr weit von der ursprünglichen Sprache und Bilderwelt entfernt sind. So ist denn oft genug von "Infanterie", "Truppen", "Streitkräften", "Tabu" etc. die Rede, haben wir es also mit Begriffen zu tun, die es so nicht gegeben hat. Eine Übertragung in Buber'scher Manier gefiele mir besser.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Relativierungen liegen mir fern. Es gibt ja manche, die meinen, Kriege werde es immer geben. Andere wiederum würden sagen, die Assyrer hätten die Grausamkeit und Barbarei der russischen Truppen weit übertroffen, verstümmelten sie doch Gefangene, die sie nicht töteten, um sie kenntlich zu machen. Es geht nicht um irgendwelche Relativierungen, sondern darum, wie Herrschaft und Gewalt, ausgeübt oder erfahren, sprachlich zum Ausdruck gebracht wird.

Wenn ich nun die fertiggestellte Graphik, mit der ich über sechs Wochen lang mehr oder weniger den ganzen Tag beschäftigt war, betrachte, dann scheint sie mir doch sehr ornamental, wenn nicht floral geraten. Auch drängen sich mir Mikroorganismen unter dem Mikroskop auf. Sie scheint dem Terror ganz und gar nicht angemessen. Aber was ist schon angemessen? Ich musste oft genug an ukrainische Frauen denken, die in Luftschutzkellern sitzend stricken. Sicher mag das helfen, die erzwungene Bewegungslosigkeit und Untätigkeit etwas zu mildern, sich der Vorstellung hinzugeben, der gestohlenen Zeit wenigstens etwas Sinnvolles abzutrotzen. Aber es werden nicht nur Socken oder Pullover gestrickt, um den kalten Winter besser zu überstehen. Es wird auch gestickt, also in das Ornamentale investiert. Die in Kiew geborene Marina Weisband meint, es möge zwar komisch klingen, aber Sticken heiße für sie, das Menschliche zu bewahren.

Meine Arbeit lässt mehrfach an Weben, Stricken oder Sticken denken. Die Texturen stehen zu Geweben aus Stoff in einem Naheverhältnis. Dort ein nahezu endloser sich von einem Knäuel oder einer Spule abrollender Faden, da ein Tintenstrich, der im Idealfall gleichbleibend aus einer Patrone rinnt. Und wie beim Stricken oder Sticken schafft es eine gewisse Befriedigung, sehe ich wie das Gewebe zwar langsam, aber doch stetig wächst, Form annimmt. Auch ich habe es mit Mustern, Pattern zu tun, wenngleich diese am Ende nur noch bedingt zu erkennen sind. Ich muss mir ja überlegen, welche Textstelle sich zu der eben geschriebenen fügen ließe. Hier ist der entscheidende Unterschied zu sehen. Während sich Stricken oder Sticken bis zu einem gewissen Grad automatisieren lässt, man dabei nur halb bei der Sache sein muss, bin ich unmittelbar mit dem Textmaterial beschäftigt, stolpere ich über einzelne Sätze oder Worte, bleibe an ihnen hängen, die ich überfliegen würde, schriebe ich sie nicht. Nein, wer stickt oder strickt, der muss den Faden nicht Millimeter um Millimeter untersuchen.

Natürlich ist all das völlig sinnlos, hat es doch nicht die geringste Auswirkung auf den Krieg in der Ukraine. Aber eines lässt sich schon sagen: Schreibt man Buchstabe um Buchstabe, Wort für Wort, bleibt man an Worten oder Sätzen hängen, dann beginnt man vieles anders zu sehen. Es ist eben ganz anders als in der heutigen Wischgesellschaft, die einem Häppchen um Häppchen vorsetzt, in der man sich von einer Information zur nächsten wischt und nicht bemerkt, dass das eben Gelesene oder besser gesagt Überflogene schon im Verlöschen begriffen ist. Deshalb lohnt es sich, immer wieder Texte herauszusuchen, die bereits verworfen, vergessen sind, Texte etwa, die kurz nach dem 24.2. geschrieben wurden, so etwa eines der Gedichte von Alexander Delfinov: "Gospodin president, den infamen Befehl gaben Sie, / Man bläst Märsche, als ob Sie den Krieg schon gewonnen hätten, / Und obwohl Sie so viele betrügen, uns täuschen Sie nie, / Keine Mauer, kein Turm Ihres hohen Palasts wird Sie retten. / Gospodin president, nein, kein Zar sind Sie, sondern ein Dieb, / Usurpator und Schuft auf den Trümmern des alten Imperiums, / Und die Schande nur werden Sie ernten, bestimmt keinen Sieg ..."

© Bernhard Kathan, 2022