Verplunderung der Welt
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Nach den Demonstrationen zum Tag der Arbeit, die am 1. Mai 1972 auf dem Karl
Marx-Platz im damaligen West-Berlin stattfanden, fegte Joseph Beuys,
unterstützt von einem afrikanischen und einem koreanischen Studenten jene
Abfälle zusammen, welche die Demonstranten hinterlassen hatten. Der damals
zusammengekehrte Müll befindet sich heute in einer etwa zwei Meter langen,
von Beuys entworfenen Vitrine. Die symbolträchtige Arbeit trägt den Titel:
„Ausfegen. 1. Mai 1972. Berlin Karl Marx Platz.“ Neben einem
Straßenkehrerbesen ist nichts als Kehricht zu sehen, Schmutz, weggeworfene
Zigarettenkippen, Dosen, Flaschen, Zeitungspapier etc. Abgesehen von der
politischen Intention des Projektes, die diese Vitrine dokumentiert, macht
sie deutlich, dass sich Straßenabfälle in den letzten 40 Jahren sehr
gewandelt haben. Aludosen waren selten, Verpackungen aus dem Fast
Food-Bereich gab es noch nicht. Der Kunststoffanteil war wesentlich geringer.
Blickt man in diese Vitrine, dann wird der grundlegende Bedeutungswandel
offensichtlich, den Müll seit damals erfahren hat. Während man damals
versuchte Abfälle, insbesondere den Hausmüll, auf Deponien zum Verschwinden
zu bringen, werden diese heute zu einem beträchtlichen Anteil wieder in den
Produktionsprozess zurückgeführt. Statt von Abfällen sprechen wir von
„Wertstoffen“, aus der Mülltonne ist die „Wertstofftonne“ oder
„Rohstofftonne“ geworden, Fahrzeuge der Müllabfuhr heißen heute
„Wertstoffsammelfahrzeuge“, statt von einer Mülldeponie ist von einem
„Deponiepark“ die Rede. Große Mülldeponien, die bislang nicht saniert
wurden, werden heute als „Rohstofflager“ betrachtet. Probebohrungen haben
ergeben, dass sich etwa vier Prozent Metalle darin finden.
Abfälle gelten heute als Rohstoffe, die für das Funktionieren der Wirtschaft
längst unabdingbar geworden sind. Leiterplatten weggeworfener Handys oder
alter Computer enthalten, wenn auch in kleinsten Mengen, Gold und andere
wertvolle Edelmetalle. 41 Handys sollen etwa so viel Gold enthalten wie sich
aus einer Tonne Golderz gewinnen lässt. Recycling, also die Herstellung
neuer Produkte aus Abfällen, ist in Ländern wie Österreich höchst positiv
besetzt. Auferstehungsvorstellungen in der Warenwelt. Suggeriert wird ein
ständiger Wandlungsprozess, die Vorstellung einer ständigen
Kreislaufbewegung, eines gleichbleibenden Prozesses der Organisation und des
Zerfalls.
Der organischen Chemie des neunzehnten Jahrhunderts verdankt sich das
Wissen, dass sich alle organischen Abfälle, ob tierische oder menschliche
Ausscheidungen, Gras, Laub, Weintrester, Rüben- und Rapstrester,
Knochenmehl, gekochtes und zerschrotetes Fleisch, Blut, Wollabfälle aus den
Tuchwebereien, als Dünger verwenden lassen. Land und Stadt, längst
auseinandergefallen, sollten, so das Versprechen, wieder zu einem Ganzen
zusammengefügt werden. Fäkalstränge aus den großen Städten in ländliche
Gebiete, an die Peripherie. Stinkende Fäkalien, Abfälle aus Abdeckereien und
Fabriken sollten dort ihre Reinigung erfahren, um dann als Getreide, Obst,
Gemüse oder Fleisch wieder in die Mägen der Stadtbewohner zu gelangen. Ein
endloser Kreislauf, so glaubte man, der sich in Gang setzen ließe, gäbe es
einmal die dafür nötigen technischen Anlagen wie Kanalsysteme,
Eisenbahnlinien, Geräte, um Fäkalien auf den Feldern auszubringen oder das
Getreide zu ernten. Man dachte an Kläranlagen, die der Fischzucht, also der
Ernährung dienen sollten.
Bereits im achtzehnten Jahrhundert formulierte der französische
Naturforscher Comte de Buffon dieses Modell ziemlich genau, wusste er auch
weder etwas von Mikroorganismen, noch von der Photosynthese. Alles Leben
habe Zerstörung zur Voraussetzung, aus dem Abgestorbenen entfalte sich
wieder neues Leben: Die „Theilchen gehen von Körper zu Körper über und
dienen gleicher Weise zum wirklichen Leben und zur Fortsetzung des Lebens,
zur Nahrung, zum Wachsthum jedes Einzelwesens; und nach der Auflösung des
Körpers, nach seiner Zerstörung, seiner Verwandlung in Asche, leben diese
Theilchen, über welche der Tod nichts vermag, fort, kreisen im Weltall,
gehen in andere Wesen über und bringen Nahrung und Leben in sie. Alle
Hervorbringung, alle Erneuerung, alles Wachsthum durch Zeugung, durch
Nahrung, durch Entwickelung, setzen also eine vorhergehende Zerstörung, eine
Substanzverwandlung, eine Uebertragung dieser organischen Theilchen voraus,
die sich nicht vermehren, aber stets in gleicher Zahl fortbestehend machen,
daß die Natur immer gleich lebendig, die Erde gleich bevölkert ist und sie
immer gleich von dem ersten Ruhme dessen, der sie geschaffen hat,
wiederstrahlt.” Hundert Jahre später verschwand Gott aus solchen
Beschreibungen. Mit Hilfe besserer Analysemethoden ließ sich jeder
organische Körper zerlegen, nicht viel anders, als dies in Verwesungs- und
Fäulnisprozessen durch die niedrigsten Organismen geschieht, die den Körper
nach dem Tod innerhalb kurzer Zeit zersetzen.
Im neunzehnten Jahrhundert wurden in Fabriken Verfahren entwickelt, die es
erlaubten, Abfälle zu zerlegen und zu völlig neuen Produkten
zusammenzufügen. Der technische Fortschritt schien es möglich zu machen, aus
allen anfallenden Abfällen etwas Neues herzustellen, vorausgesetzt, das
Material war in ausreichender Menge vorhanden. Abfall im eigentlichen Sinn
konnte nur etwas sein, was sich am falschen Platz befindet. In Otto Wendts
1863 erstmals erschienenen „Familienlexikon für das alltägliche Leben in der
Stadt und auf dem Lande“ findet sich einer der ersten ausführlichen Einträge
in einem Lexikon zum Thema Abfall. Das Bevölkerungswachstum mache es nötig,
jedes Produkt der Erde möglichst auszunutzen. Wendt listet eine Vielzahl von
aus Abfällen hergestellten Produkten auf: „Es gibt ‚Abfallkrämer’, welche
alle Fetzen von Wollenstoffen aufkaufen und sie an Fabriksbesitzer
verkaufen. Wollene Lumpen, so schmutzig sie sein mögen, werden zu Fetzen
zerrissen, gereinigt in ein geringhaltigeres Schoddy verwandelt und zu den
wohlfeilsten Arten von Matrosentüchern, zu Beaverteens, Petershanes,
Mohairs, Raglans, Paletots und andern stolznamigen Wollenfabrikaten
verarbeitet. Diese Lumpen können die Ueberbleibsel von abgetragenen
Kleidungsstücken, Schneiderabschnitzeln, alten wollenen Strümpfen, Teppichen
etc. sein. Ein geringer Theil wird für Zwecke der Tapezierer verarbeitet,
und ein anderer dient zur Bereitung von Preußisch-Blau. Alle die zarten
Materialien für Damenkleider, bekannt unter dem Namen Balzarines, Orleans,
Koburgs, Alpacas etc., werden jetzt durch Mischungen von Wolle und Baumwolle
nachgeahmt, obgleich sie ursprünglich rein wollen gewesen sein mögen. Diese
Mischungen werden, wenn sie durch langes Tragen zu Lumpen geworden sind,
wieder von einander getrennt; man verwendet chemische Mittel, um die
Baumwolle zu zerstören, und der Ueberrest wird dann mit ein wenig Wolle zu
neuem Tuch verarbeitet.“ Die meisten der von Wendt erwähnten Abfälle fielen
damals im Produktionsprozess an, in großen Schlachthöfen, in Textilbetrieben
oder Kohlegruben.
Im neunzehnten Jahrhundert gab es zwar wie bereits lange zuvor
Lumpensammler, die Nutzungsdauer von Kleidungsstücken war aber verglichen
mit unserer Zeit um ein Vielfaches länger. Unlängst schenkte mir jemand im
Zuge einer Haushaltsauflösung mehrere Schachteln Unterwäsche, die um 1900
gefertigt wurde. Großbürgerliche Wäsche. Beste Qualität. Zu meinem Erstaunen
sehr oft geflickt. Solche Unterwäsche tragen wir heute nicht mehr. Heute
soll die Unterwäsche eng anliegen, den Körper zur Geltung bringen. Heutige
Unterwäsche ist wie alles, was uns umgibt, sehr kurzlebig.
Bis in unsere Zeit haben viele Dinge des täglichen Gebrauchs manchmal
Generationen überdauert. Sie wurden von der Mutter auf die Tochter, von
dieser auf ihre Tochter, vom Vater auf den Sohn übertragen, weitergegeben.
So teilten all diese Dinge eine Geschichte von Menschen mit. Es waren
wichtige, beredte Objekte der Tradierung, die einen nicht vergessen ließen,
selbst nur Besucher oder Gast auf dieser Welt zu sein. Wir dagegen umgeben
uns mit Dingen, deren Halbwertszeit in der Regel nicht einmal ausreicht,
ihre Gebrauchsanleitung zu Ende zu lesen, sind mit Objekten beschäftigt,
welche Zeichen von Abfall an sich tragen, kaum dass wir sie gekauft haben.
Wirtschaftswachstum, so es überhaupt noch möglich ist, verdankt sich zu
einem wesentlichen Teil einer immer kürzeren Lebenszeit von Gebrauchsgütern.
Die meisten Produkte kennen bezüglich ihrer Lebensdauer Sollbruchstellen,
die ihre Entsorgung nach einer gewissen Zeit erzwingen. Man denke an
Waschmaschinen oder Autos. Man wird zu neuer Kleidung gezwungen, entspricht
die vor Monaten gekaufte nicht mehr der neuesten Mode. Computer sind nach
kürzester Zeit nicht mehr kompatibel. Will man mit anderen kommunizieren,
muss man sich einen neuen anschaffen. Kaum haben wir uns eines dieser Geräte
gekauft, werden wir daran erinnert, dass es bessere Modelle oder neuere
Programme gibt.
War es IKEA, KIKA oder MÖBELIX? Ich kann mich jetzt nicht mehr daran
erinnern. Vor der Abholrampe stehend, auf die Ausgabe eines Möbelstücks
wartend, dachte ich mir, alles laufe darauf hinaus, die eben gekauften Möbel
an der Abholrampe zu zertrümmern und in Abfall zu verwandeln, um das eben
Gekaufte unmittelbar wieder in den Produktionsprozess einzufügen.
Tatsächlich handelt es sich bei dem, was wir kaufen, weniger um Möbel als um
Abfall, buchstäblich, werden doch Hartfaser- oder Pressspanplatten, aus
denen heutige Möbel zu einem beträchtlichen Teil bestehen, aus sogenanntem
„Gebrauchtholz“, also aus Abfall gefertigt. Selbst der während der
Produktion anfallende Staub wird, sofern er nicht zur Energiegewinnung
verbrannt wird, für die Deckschicht verwendet. Ich musste mir dann
allerdings erklären lassen, dass es, sollte ich das Möbelstück in Trümmer
schlagen, meine Aufgabe wäre, diese im städtischen Bauhof zu entsorgen. Wir
sehen also, das Ideal der Kreislaufwirtschaft ist noch lange nicht erreicht.
Ich zähle in meinem Umfeld zu den wenigen, die noch Stofftaschentücher
verwenden. Diese sind nicht nur angenehmer als Papiertaschentücher. Sie
kennen eine Geschichte, die im Gegensatz zu recycelten Materialien höchst
konkret ist. Die von mir verwendeten Taschentücher wurden von anderen
Menschen vor mir benutzt, sei es zum Schneuzen, zum Reinigen von
verschmierten Kindergesichtern, oder auch dazu, um sich Tränen aus den Augen
zu wischen. Manche der Taschentücher tragen Initialen, die deutlich machen,
dass sie bereits früher von anderen übernommen wurden. Manche meiner
Taschentücher sind inzwischen Jahrzehnte in Gebrauch, nicht wenige davon
dürften noch aus einer Zeit stammen, in der ich noch nicht auf der Welt war.
Ich kann nur erstaunt sein, wie viel Mühe man sich gab, Initialen in
Taschentücher zu sticken. In einem gewissen Sinn waren Taschentücher
kostbar. Es versteht sich von selbst, dass Taschentücher ihre
Differenzierungen nach Alter, Geschlecht und Anlass kannten. Es gab solche
für Werktage und solche für Sonn- und Feiertage. Erstere waren zumeist aus
bunten Stoffen, letztere aus feineren weißen Stoffen gefertigt. Wir sprechen
zwar immer noch von Taschentüchern, mit Tüchern haben wir es nicht mehr zu
tun.
Otto Wendts Familienlexikon kennen nur wenige. Dabei finden sich darin kluge
essayistische Texte, ist es als Quelle für jeden lohnend, der sich mit der
Kulturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts beschäftigt. Im Eintrag zur
Wiederverwertung von Abfällen klingt bei Wendt noch an, dass Produkte so
etwas wie Geschichte in sich tragen: „Manche schöne Stirn wird mit ‚Eau de
Millefleurs’ befeuchtet, ohne daß man weiß, daß dessen wesentlicher
Bestandtheil von der Trockenlegung von Kuhställen herrührt.“ Wohlgerüche
können sich also stinkenden Abfällen verdanken. Kleidungsstücke, die wir
tragen, können auf andere verweisen: „Es ist daher nicht ganz
unwahrscheinlich, daß einiges von der Wolle in dem heurigen Balzarinekleid
einer Dame einen Theil von ihres Mannes vorjährigem Oberrock bildete.“
In der heutigen Hygienekultur steht das Schöne und Saubere nicht länger im
Verdacht, nur eine andere Erscheinungsform des Schmutzes, das Wohlriechende
nur eine Wandlung von Gestank zu sein. Wir kennen die Angst nicht mehr,
künstlich hergestellte Dinge könnten so etwas wie Geschichte besitzen,
Lebensspuren in sich tragen, die auf Begehren, Lust und Tod verweisen. Bei
Wendt drängten sich nicht zufällig die „Damen“ in seine Überlegungen über
den Abfall. Die Frau, vergänglich, immer an der Kippe zwischen Schönheit und
Schmutz, bezeichnet die Angst vor der Erinnerung an Lebensspuren. Ihr
neuestes Balzarinekleid lässt nicht nur an den vorjährigen Oberrock ihres
Mannes denken, sondern ebenso an einen anderen Mann. So steht sie selbst im
Verdacht, nicht unberührt zu sein. Damit haben heutige Menschen nur noch
wenig Probleme. In der Regel sind wir uns dessen nicht bewusst, dass wir bei
jedem neuen und sauber verpackten Produkt, Abfälle einkaufen. Als ich auf
der Suche nach einem Wackelkontakt das Armaturenbrett meines Autos ausbaute,
war ich höchst überrascht, als ich die Rückseite der glatten
Kunststofffläche betrachtete: Eine Masse aus zerschreddertem und gepresstem
Abfall wie Cola-Dosen. Bruchstücke von Beschriftungen waren noch zu
entziffern.
Die zunehmend kürzere Lebensdauer von Dingen des alltäglichen Gebrauchs
wirkt auf die Benutzer zurück, die trotz einer Lebenserwartung, von der vor
hundert Jahren noch niemand zu träumen gewagt hätte, vom Gefühl geprägt
sind, das Leben zerrinne zwischen den tastenschlagenden oder mausschiebenden
Fingern. Ginge es nur um Dinge, um Spülmaschinen, Computer, Videorekorder
oder ähnliches. Die Vorstellung, das Leben sei nichts anderes als Ausdruck
sich ständig ereignender Umwandlungsprozesse, hat nicht nur den Tod all
seiner Bedeutungen beraubt, sondern das Leben selbst entwertet. Pasolini
meinte, dass eine Gesellschaft, in der Dinge des täglichen Lebens so
leichtfertig in Abfall verwandelt würden, das Leben selbst entwerte. Nicht
viel anders Günther Anders, der von „Liquidationsschlacke“ sprach, die
keinen Unterschied zwischen Menschen und Konsumgütern kenne. Der Überfluss
an Dingen führt zu ihrer konsequenten Entwertung, genaugenommen zu einer
Entwertung der Arbeit, letztlich des Menschen selbst. Es erstaunt nicht,
dass viele der heute Lebenden die Grundangst kennen, überflüssig zu sein,
umgeben wir uns doch mit Dingen, die überflüssig sind, letztlich ohne jeden
realen Gebrauchswert.
Das archaische Opfer kannte die Vorstellung, dass nichts verloren gehen
dürfe. Was sich wie Knochen nicht verzehren ließ, wurde aufgehoben. Diese
Vorstellung ist uns abhanden gekommen, findet ihre Fortsetzung aber dort, wo
wir denken, von den Abfällen dürfe nichts verloren gehen. Diese müssten
wieder dem Kreislauf der Ökonomie zugeführt werden. Im Gegensatz zu
agrarischen Gesellschaften, die tatsächlich in einer Kreislaufwirtschaft
aufgehoben waren, setzt das Funktionieren der heutigen Ökonomie permanentes
Wachstum voraus. Wird sich bis zum Jahr 2050 das Wachstum der Weltwirtschaft
– wie von manchen Experten berechnet – verdoppelt haben, so werden wichtige
Rohstoffe wesentlich rascher zur Neige gehen als bislang angenommen. 2009
wurden 1,3 Milliarden Handys und 300 Millionen Laptops verkauft, darin
verbaut sind drei Prozent der jährlichen Silberförderung und vier Prozent
der Weltproduktion an Gold. Ohne „urban mines“ werden diese Edelmetalle bald
aufgebraucht sein. Die angestrebte „Kreislaufwirtschaft“ lebt von der
Vorstellung, dass eingesetzte Rohstoffe nach dem Verbrauch einer Ware wieder
in den Produktionsprozess zurück gelangen. Solchen Bemühungen sind Grenzen
gesetzt. Auch in absehbarer Zeit wird sich eine Vielzahl von Abfällen nicht
in den Produktionsprozess zurückführen lassen. Recycling kommt einer
Entschuldigung gleich. Es gibt uns das trügerische Gefühl, folgenlos
verschwenden zu können. Die behauptete Kreislaufwirtschaft zählt zu den
zentralen Mythen einer Ökonomie, deren Funktionieren ein stetes
Wirtschaftswachstum zur Voraussetzung hat. Mythen verkehren das eigentliche
Problem in ein Versprechen, besonders erfolgreich dann, wenn sie einen
realen Kern haben. Der Anteil recycelter Abfälle in Rohstoffen hat in den
letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen und wird sich dank technologischer
Fortschritte weiter steigern lassen. Ein wirklich geschlossener Kreislauf
wird auch in Zukunft undenkbar sein. Slavoj Žižek sieht in der Vorstellung,
die Welt würde wieder heil, würden die Menschen nur sorgsam mit der Natur
umgehen, nichts anderes als eine säkulare Variante des Sündenfalls.
Wir haben es gleichermaßen mit einem psychologischem wie einem räumlichen
Phänomen zu tun. Das lässt sich gut am Beispiel der erwähnten Unterwäsche
erklären. Da es um 1900 weder Gummizüge, noch elastische Stoffe gab, musste
Maß genommen werden. Man musste, zumindest in besseren Kreisen, zu einem
Schneider, zu einer Schneiderin. Das maßgeschneiderte Produkt kannte seinen
konkreten Ort, konkrete Menschen. Es hatte eben Geschichte. Diese Art von
Geschichte hat sich im Zuge der Industrialisierung und Globalisierung
vollkommen aufgelöst. Dadurch betrachten wir das Erworbene nicht nur anders,
wir gehen auch mit Abfällen völlig anders um.
Bernhard Kathan, 2013