DER VORHANG UND DAS VOLK DER MÄUSE
 |
|
„In unserem Volke kennt man keine Jugend, kaum eine winzige Kinderzeit. Es
treten zwar regelmäßig Forderungen auf, man möge den Kindern eine besondere
Freiheit, eine besondere Schonung gewährleisten, ihr Recht auf ein wenig
Sorglosigkeit, ein wenig sinnloses Sichherumtummeln, auf ein wenig Spiel,
dieses Recht möge man anerkennen und ihm zur Erfüllung verhelfen; solche
Forderungen treten auf und fast jedermann billigt sie, es gibt nichts, was
mehr zu billigen wäre, aber es gibt auch nichts, was in der Wirklichkeit
unseres Lebens weniger zugestanden werden könnte, man billigt die
Forderungen, man macht Versuche in ihrem Sinn, aber bald ist wieder alles
beim alten. Unser Leben ist eben derart, daß ein Kind, sobald es nur ein
wenig läuft und die Umwelt ein wenig unterscheiden kann, ebenso für sich
sorgen muß wie ein Erwachsener; die Gebiete, auf denen wir aus
wirtschaftlichen Rücksichten zerstreut leben müssen, sind zu groß, unserer
Feinde sind zu viele, die uns überall bereiteten Gefahren zu unberechenbar –
wir können die Kinder vom Existenzkampfe nicht fernhalten, täten wir es, es
wäre ihr vorzeitiges Ende. Zu diesen traurigen Gründen kommt freilich auch
ein erhebender: die Fruchtbarkeit unseres Stammes. Eine Generation – und
jede ist zahlreich – drängt die andere, die Kinder haben nicht Zeit, Kinder
zu sein.“
Franz Kafka, „Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“, 1923/24
Der Raum ist durch einen Vorhang nach außen abgeschirmt. Da er vor allem
einer Hörerfahrung dient, lag es in der graphischen Gestaltung des Vorhangs
nahe, sich auf Franz Kafkas Erzählung „Der Bau“ zu beziehen, findet sich
doch in der Literaturgeschichte kaum ein Text, der sich so sehr um das Hören
dreht. Mit bergbäuerlicher Rinderhaltung hat die Erzählung nichts zu tun,
verweist aber, wenn auch in mehrfacher Umkehrung, auf das Hören selbst wie
auf Alltagserfahrungen bäuerlichen Lebens. Wir haben es nicht mit einem
Höhlensystem zu tun, aber doch mit einem abgedunkelten Raum. Und was zu
hören ist, muss nicht, kann aber durchaus als bedrohlich wahrgenommen
werden. Dabei gibt es nicht die geringste Bedrohung. Wir sind um Sicherheit
bemüht wie auch um andere Bedürfnisse.
Im Garten, also unmittelbar vor dem Vorhang, hat sich eine Kolonie Feldmäuse
dank des trockenen Wetters geradezu explosionsartig vermehrt. Man sieht
nicht einen einzigen Erdhaufen, nur zahllose Löcher, was auf ein
weitverzweigtes Tunnelsystem verweist: „Ein von Mäusen durchlochtes Feld.“
Verdorrt etwa der Salbei, so kann man sicher sein, dass sich darunter ein
Mäusegang befindet. Übrigens sind Mäuse wählerisch. Anemonen lassen sie in
Ruhe, auch Löwenmäulchen. Die kreuzblättrige Wolfsmilch, von der immer
wieder behauptet wird, sie halte Mäuse fern, fällt ihnen wie viele andere
Gewächse zum Opfer. Um eine Vorstellung von den Ausmaßen des Tunnelsystems
zu geben: Mühelos lässt sich in eines der vielen Löcher, deren Durchmesser
zumeist nicht viel mehr als zwei Zentimeter beträgt, ein halber Kübel Sand
hineingießen, wenn man mit dem Finger oder einem Hölzchen nachstopft.
Während wir es in Kafkas Erzählung mit einem Einzeltier zu tun haben, leben
im Augenblick im Tunnelsystem des Gartens hunderte von Feldmäusen. Gemeinsam
schaffen und nutzen sie dieses System. Die Weibchen bilden
Nistgemeinschaften und säugen auch fremden Nachwuchs. Wir haben es also mit
sozialen, in hohem Maß kooperierenden Tieren zu tun. Das Tunnelsystem dient
zwar als Schutz vor Feinden, der Fortbestand der Kolonie verdankt sich
allerdings weniger dieser Maßnahme oder dem Anlegen von Vorräten als
vielmehr einer r-Strategie, also einer unter günstigen Bedingungen sehr
hohen Reproduktionsrate, von Kafka in seiner Erzählung „Josefine, die
Sängerin oder Das Volk der Mäuse“ großartig beschrieben. Weibchen sind
bereits nach 12 bis 14 Tagen geschlechtsreif, also nur wenige Stunden,
nachdem sich ihre Augen geöffnet haben, und während sie noch gesäugt werden.
Sie können bis zu 13 Junge werfen und sind unmittelbar nach der Geburt
erneut begattungsbereit. Unter optimalen Bedingungen können sie alle zwanzig
Tage werfen. Wie rasch eine solche Kolonie anwachsen kann, lässt sich leicht
ausrechnen.
Feldmäuse sind lästig. Sie können einen Garten verwüsten. Eine Bedrohung
sind sie nicht, nicht mehr. In der Vergangenheit jedoch stellten Mäuse für
kleine Bauern ernsthafte Nahrungskonkurrenten dar. Sie waren allgegenwärtig.
Und sah man sie nicht, dann verriet Mäusekot ihre Anwesenheit. Nachts hörte
man sie hinter Wänden oder in den Zwischendecken laufen. Vergaß man abends
den Milchkrug abzudecken, so konnte sich am nächsten Morgen eine ertrunkene
Maus darin finden. Früher – ich kann mich noch daran erinnern – konnten
Kinder, wenn sie eine Maus über das Feld laufen sahen, was während der
Mäharbeiten häufig vorkam, diese verfolgen und mit ihren unbeschuhten Fersen
in den Boden stampfen, mit Heugabeln oder anderen Werkzeugen erschlagen.
Heute würden wir auf ein solches Verhalten geradezu entsetzt reagieren.
Tatsächlich handelte es sich um ein lange tradiertes Verhalten.
Verständlicherweise zeigten die kleinen Bauern den Mäusen gegenüber wenig
Mitgefühl, was der Umgang von Kindern mit Mäusen gut belegt. Die bäuerliche
Architektur kennt eine Vielzahl von Lösungen, um das mühsam
Zusammengetragene vor Mäusen oder Ratten zu schützen. Man denke an sinnreich
konstruierte Getreidespeicher, an hölzerne Stelzen und große, flache
Bachsteine, auf denen der Speicher ruhte. Die aktuelle Mäuseplage im Garten
verdankt sich auch dem Umstand, dass das Grundstück nicht anders als vor
hundert Jahren von Hand bewirtschaftet wird. Es fänden sich überall mehr
Mäuse, würden Felder und Wiesen nicht mit schweren Maschinen befahren,
wodurch die Böden verdichtet und die Gänge eingedrückt werden, ganz zu
schweigen von all den Mäusen, so sie auf solchen Flächen überhaupt noch
vorkommen können, die wie andere Tiere in schnell rotierenden Mähwerken
enden.
Kafka interessierte sich für Landwirtschaft, aber Mäuse, wohl auch das
bäuerliche Leben, blieben ihm fremd. 1917 schrieb er an Brod, dass er vor
Mäusen eine „platte Angst“ habe: „Gewiß hängt sie wie auch die
Ungezieferangst mit dem unerwarteten, ungebetenen, unvermeidbaren,
gewissermaßen stummen, verbissenen, geheimabsichtlichen Erscheinen dieser
Tiere zusammen, mit dem Gefühl, daß sie die Mauern ringsherum hundertfach
durchgraben haben und dort lauern, daß sie sowohl durch die ihnen gehörige
Nachtzeit als auch durch ihre Winzigkeit so fern uns und damit noch weniger
angreifbar sind. Besonders die Kleinheit gibt einen wichtigen
Angstbestandteil ab, die Vorstellung z.B., daß es ein Tier geben sollte, das
genau so aussehn würde wie das Schwein, also an sich belustigend, aber so
klein wäre wie eine Ratte und etwa aus einem Loch im Fußboden schnaufend
herauskäme – das ist eine entsetzliche Vorstellung.“
War Kafka am Land, so litt er unter den „Mäusenächten“: „Eine Mäusenacht,
ein schreckliches Erlebnis. Ich selbst bin ja unangetastet und mein Haar ist
nicht weißer als gestern, aber es war doch das Grauen der Welt. Schon früher
hatte ich es hie und da (ich muß jeden Augenblick das Schreiben
unterbrechen, Du wirst den Grund noch erfahren), hie und da in der Nacht
zart knabbern gehört, einmal war ich sogar zitternd aufgestanden und habe
nachgesehn, es hörte dann gleich auf – diesmal aber war es ein Aufruhr. Was
für ein schreckliches stummes lärmendes Volk das ist. Um zwei Uhr wurde ich
durch ein Rascheln bei meinem Bett geweckt und von da an hörte es nicht auf
bis zum Morgen. Auf die Kohlenkiste hinauf, von der Kohlenkiste hinunter,
die Diagonale des Zimmers abgelaufen, Kreise gezogen, am Holz genagt, im
Ruhen leise gepfiffen und dabei immer das Gefühl der Stille, der heimlichen
Arbeit eines gedrückten proletarischen Volkes, dem die Nacht gehört.“ Das
Rascheln und Knabbern der Mäuse ließ ihn nicht einschlafen, er saß „mit
gespitzten Ohren und Feueraugen aufrecht oder vorgebeugt im Bett“, horchte,
und morgens konnte er „vor Ekel und Traurigkeit“ nicht aufstehen: „Du
glaubst, Du habest nichts gegen Mäuse? Natürlich, Du hast auch gegen
Menschenfresser nichts, aber wenn sie in der Nacht unter allen Kisten
hervorkriechen und die Zähne fletschen werden, wirst Du sie bestimmt nicht
leiden können.“ Andererseits, und das lässt wieder an seine Erzählung „Der
Bau“ denken, schreibt er, sein Gehör habe sich tausendmal verfeinert und sei
ebenso viel unsicherer geworden. Streiche er mit dem Finger übers Leintuch,
dann könne er nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, ob er eine Maus höre oder
ob er sich dies nur einbilde. Aber Phantasien seien die Mäuse deshalb nicht.
Dem Vorhang kommt nicht nur die Funktion zu, den Raum selbst abzudunkeln,
sondern innen und außen zu trennen, um genauer zu sein, einen Übergang zu
markieren, Besucher eintreten zu lassen. Die Abgrenzung nach außen soll
nicht übertrieben werden. Der Raum selbst ist alles andere als
schallisoliert. Es stört keinesfalls, sind Umweltgeräusche zu hören, der
Lärm landwirtschaftlicher Maschinen (nur an manchen Tagen) oder ein
Rettungshubschrauber, der das HIDDEN MUSEUM überfliegt. Kafkas Erzählung
fügt sich nicht zuletzt deshalb in die Geschichte, weil es darin doch um die
Verschränkung von Innen- und Außenraum geht. In Kafkas Werk finden sich
diesbezügliche Schnittstellen oft genug behandelt. Neben Türen und Fenstern
finden sich auch Vorhänge darin, so etwa in seiner Erzählung „Amerika“: „Man
trat in vollständiges Dunkel ein. Der Vorhang der Balkontür, ein Fenster war
nicht vorhanden, war bis zum Boden hinabgelassen und wenig durchscheinend,
außerdem aber trug die Überfüllung des Zimmers mit Möbeln und herumhängenden
Kleidern viel zu seiner Verdunkelung bei. Die Luft war dumpf, und man roch
geradezu den Staub, der sich hier in Winkeln, die offenbar für jede Hand
unzugänglich waren, angesammelt hatte. Das erste, was Karl beim Eintritt
bemerkte, waren drei Kasten, die knapp hintereinander aufgestellt waren. Auf
dem Kanapee lag die Frau, die früher vom Balkon hinuntergeschaut hatte. Ihr
rotes Kleid hatte sich unten ein wenig verzogen und hing in einem großen
Zipfel bis auf den Boden, man sah ihre Beine fast bis zu den Knien, sie trug
dicke weiße Wollstrümpfe; Schuhe hatte sie keine. ‚Das ist eine Hitze,
Delamarche‘, sagte sie, wandte das Gesicht von der Wand, hielt ihre Hand
lässig in Schwebe gegen Delamarche hin, der sie ergriff und küßte. Karl sah
nur ihr Doppelkinn an, das bei der Wendung des Kopfes auch mitrollte. ‚Soll
ich den Vorhang vielleicht hinaufziehen lassen?’ fragte Delamarche. ‚Nur das
nicht’ ...“
© Bernhard Kathan, 2017
Abbildungen:
Oben: Der Vorhang; Graphik: Günter Gstrein, Foto: Bernhard Kathan
Unten: Ehemaliger Getreidespeicher, zu einer Garage umgebaut, Lesachtal.
Foto: Bernhard Kathan, 2014