VOM WESEN DER KÜHE


„Beim Einfangen der Mutterkühe mit Kalb sind wir noch in den Anfängen. Die neuste Praxis: Weideschlachtung. Dabei werden die Tiere auf dem Feld mit einem Schuss aus dem Gewehr betäubt, mit Seilwinden in eine mobile Schlachtbox gezogen, dort so schnell wie möglich ausgeblutet. [...] Ständig laufe ich mit Warntafeln herum und schlage sie strategisch in den Boden. Hänge deutsch-englisch-romanische Bittschriften auf. Bei den ‚Gates’. Ich bin der Staff, der Alp Staff. Graubünden-Bike dankt in drei Sprachen dem Biker, grateful, dass er das ‚Gate’ wieder schliesst. Auch in romanisch, nicht aber in frühfranzösisch. Denn die meisten Biker sind eigentlich Romanen. Das weiss man nicht. Sonst wäre es ja wieder so ein Ethno-Gag, diesmal ein sprachlicher. Eine Verarschung. Des Bikers sichtbarster Teil. Hinterteil. Die Ethnowelt: Steinböcke und Capuns. Zuerst dachte ich an Bill Gates. Your Gate. My Gate. Gate by Gate. Gates. Bill Gates. [...] Ein Gewitter überrascht mich auf der Weide. Donnergrollen mischt sich mit dem Geläut der Glocken. Hinter dem Brandenburger Tor geht die Sonne auf. Auf der Zündholzschachtel. Man feuert oft den Ofen ein in diesem Sommer. Si j etais un charpentier, et sie tu t’ appelais Marie... (Johnny Hallyday). Dies Lied hatte ich im Sinn. Wie ich Leonie mit ihrem Kalb gegenüberstand. Auch da, kein Zusammenhang ..... Ich habe Leonie 9003 auf die Abkalbungsweide geführt. Lorelei (Eva Grau) hat draussen in der Wildnis gekalbert. Sie will mich töten. Ich floh ihr. Versuchte es mit Heil Hitler. Ich will nur frei sein, schreit sie wütend, frei. Freedom. Mal sehen, wenn der Schnee kommt. Böses Mädchen. Eva Grau. Mir graut vor dir.“
Vladimir Kurtz, ALPJOURNAL VIII, 2017



Almabtrieb von einer Zillertaler Alm, die alljährlich im Winter bis Mitte Jänner mit 10 Kühen und Jungvieh bewirtschaftet wurde. Die Kalbzeit wurde auf der Alm verbracht. Die Bauern hielten das Vieh so lange auf der Alm, um das Bergheu bestmöglich zu nutzen. Die Aufnahme entstand zu Beginn der 1940er Jahre. Ein Bauer mit seinen Kühen in tiefstem Schnee. Von „Abtrieb“ kann keine Rede sein. Es bedurfte keiner Schläge. Mensch und Tier waren aufgehoben in einer Bewegung. Gleichermaßen hatten sie manch gefährliche Stelle zu passieren. Ein über Jahrhunderte eingeübtes und tradiertes Zusammenspiel.

Das Verhalten der Bauern färbte auf die Kühe ab, jenes der Kühe auf die Bauern. Es gab einen wechselseitigen Kontakt von Mensch und Tier. Kühe wurden gemolken, gestriegelt, getrieben, hin und her dirigiert, nicht selten auch geschlagen. Anlehnungen. Berührungen. Aufnahmen von jungen Frauen etwa, die ein störrisches Rind an den Hörnern festhalten, machen dies deutlich. Kinder hatten nicht die geringste Scheu, behornte Kühe anzubinden. Stellten sich bäuerliche Familien gemeinsam mit ihren Kühen dem Fotografen, so ist das nicht erstaunlich. Kleine Bauern konnte ein Gefühl von Trauer überfallen, blieb ein Platz im Stall leer, wurde eine Kuh verkauft oder geschlachtet, stand der ganze Stall leer, hatte man das Vieh auf die Alm getrieben. Dieses Verhältnis war jedoch stets ambivalent. Das domestizierte Tier durfte nicht zu sehr in die Nähe des Menschen rücken. Wie hätte man es sonst schlachten können? Gerade ihre Nähe zu den Tieren ließ die kleinen Bauern den Unterschied zwischen Mensch und Tier nicht vergessen.



Im Melken fand sich einmal ein unmittelbarer Kontakt zwischen dem Bauern und seinen Kühen. Wer über Jahre hinweg zweimal täglich eine Kuh melkt, der kennt die Beschaffenheit eines Euters, sein Kopf, der sich in die Seite der Kuh drückt, weiß um die Befindlichkeiten des Tieres. Es ist ein wechselseitiges Verhältnis. Gibt es einmal Selbsttränken, dann ist es nicht länger nötig, Kühe und Rinder zweimal täglich zu einem Brunnen zu führen. Gibt es einen elektrischen Weidezaun, dann braucht niemand mehr das Vieh hüten. Die leichten Pflöcke sind schnell aufgestellt, der Draht ebenso rasch gespannt. Gibt es Bürstautomaten, muss man die Kühe nicht mehr striegeln. Wie alle technologischen Neuerungen in der Rinderhaltung haben auch Melkmaschinen zersetzend auf das wechselseitige Verhältnis zwischen Mensch und Tier gewirkt. Melkroboter setzen nicht einmal die Anwesenheit eines Menschen voraus. Anbieter solcher Systeme versprechen, nun könne der Bauer eine bessere Beziehung zu seinen Tieren aufbauen, da der mit einem gewissen Zwang verbundene enge Kontakt während des Melkens nicht länger notwendig sei. Aber man kann sich nur schwer vorstellen, dass einer von ihnen abends nach getaner Arbeit, so wie Bauern das früher oft taten, mit Wohlbehagen im Stall bei den Kühen sitzt. Wer nicht jeden Tag zweimal jede seiner Kühe „umhalse“, also vor oder nach dem Weidegang ab- oder anbinde, der kenne keine Kuh mehr, meinte alte Bäuerin. Nun heißt es: „Der Computer kennt die Kuh.“



Längst ist das einstmals enge Band zwischen den Bauern und ihren Kühen zerrissen. In milchproduzierenden Betrieben bewegen sich Kühe in technischen Habitaten, in denen alle Abläufe weitgehend automatisiert sind. In alpinen Lagen macht eine so organisierte Rinderhaltung keinen Sinn. Die Betriebsgrößen sind in der Regel viel zu klein, Maisanbau nur sehr eingeschränkt möglich. Es lohnt sich nicht für sechs Kühe eine den geforderten Hygienestandards entsprechende Milchkammer einzurichten, die Milch womöglich zwei Kilometer den Berg hinunter zu fahren und dort auf den Milch-LKW zu warten. Aus diesen wie anderen Gründen setzen heute die meisten der noch verbliebenen Bergbauern auf extensive Mutterhuhhaltung. Auch diese Haltungsform setzt wenig Kontakt mit den Rindern voraus. Rinderattacken, die auch tödlich enden können, belegen die wechselseitige Entfremdung. Da wie dort wird auf Spezialisierung gesetzt, auf größtmögliche Stückzahlen bei geringstmöglichem Arbeitsaufwand.



Ein diesbezüglich treffendes Beispiel: Ich rief einen Bauern an, den ich kenne, da eine seiner Mutterkühe einen elektrischen Weidezaun übersprungen hatte. Hätte ich es nicht getan, über kurz oder lang wäre die ganze Herde durchgebrochen. Ich sagte ihm, ich würde vorerst nach dem Rechten sehen. Da der Bauer auf sich warten ließ, stellte ich, Stöcke und Elektrobänder lagen herum, in einem gewissen Abstand einen zweiten Weidezaun auf. Die Kuh auf meiner Seite verhielt sich mir gegenüber böswillig, rannte wiederholt mit gesenkten Kopf auf mich zu. Nach längerem Warten kamen mehrere Autos angefahren, um diese eine Kuh wieder einzufangen. Zu einem der Buben sagte ich: „Ihr seid ja fast eine ganze Fußballmannschaft.“ Er: „Anders geht das nicht.“

Heutige Kühe haben nur noch wenig mit den Rindern der Vergangenheit zu tun. Rinder gelten heute als gefährliche Tiere. Auf Almen finden sich einschlägige Hinweisschilder. Landwirtschaftskammern lassen Broschüren mit den „Grundregeln für den Umgang mit Rindern“ drucken: „1. Ruhe bewahren! Hektische Menschen verursachen bei Tieren Stress. Stress erhöht die Unfallgefahr durch Angst- und Abwehrreaktionen der Tiere ganz wesentlich! / 2. Beim Herantreten die Tiere ansprechen! / 3. Keine plötzlichen, schnellen Bewegungen! / 4. Keine lauten Geräusche! / 5. Stall möglichst fliegenfrei halten! / 6. Sicherheitsschuhe oder Sicherheitsstiefel tragen! / 7. Tiere beobachten und Leittiere aufmerksam im Auge behalten! / 8. Ställe oder Weiden, in denen Zuchtbullen mit der Herde laufen, nie allein betreten! / 9. Tierbereich auf der Weide grundsätzlich nur mit Stock, Knüppel oder Viehtreiber betreten, damit angreifende Tiere abgewehrt werden können! Zusätzlich für eine Rückzugsmöglichkeit (z. B. Fahrzeug) sorgen! / 10. In der Weide in Anwesenheit der Tiere nur unbedingt notwendige Arbeiten verrichten! / 11. Mutterkuhherden sind auf Weiden nur sicher und wirtschaftlich zu behandeln, zu impfen und zu markieren, wenn ein Fang- und Behandlungsstand zur Verfügung steht. / 12. Neugeborene Kälber in Mutterkuhherden nie in Anwesenheit der Mutter anfassen, behandeln oder markieren! / 13. Zur Behandlung von Tieren in Laufställen müssen Einrichtungen vorhanden sein, mit denen die Tiere gefahrlos gefangen und in ihrer Bewegungsfähigkeit eingeschränkt werden können (z. B. Fangfressgitter). / 14. Wasserfässer auf der Weide außerhalb des Tierbereiches positionieren! / 15. Kälber gegen Hornbildung behandeln! Besser: Herde Zug um Zug auf genetisch hornlose Tiere umstellen. / 16. Bösartige Tiere umgehend zur Schlachtung geben!“ In der Mutterkuhhaltung können Kühe „verwildern“. Wirft eine Kuh ihr Kalb auf der Weide, säugt sie es, dann wird sie es auch verteidigen, selbst dann, wenn von Menschen nicht die geringste Gefahr ausgeht.

Die Bedeutung, die Kühe einmal im Leben der Menschen im Alpenraum hatten, belegen zahllose Votivtafeln, auf denen Kühe abgebildet sind. Votivtafeln spiegeln Nöte und Unglücksfälle, unter denen Bauern litten. Nicht zufällig finden sich auf Votivtafeln viele Rinderabbildungen. Manchmal kam eine Kuh nur deshalb ins Bild, weil sie vor einen Heuwagen gespannt war, von dem ein Bauer stürzte. Aber sehr oft wurden Votivtafeln für Kühe gestiftet, sei es, dass sie erkrankt, von Seuchen, Feuersbrünsten oder anderen Katastrophen bedroht waren. Verendete eine Kuh, so konnte dies das Überleben der gesamten Familie gefährden. Zumindest für kleine Bauern konnte der Tod einer Kuh schwerer wiegen als der eines Kindes.



Bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts waren Kühe in den Dörfern allgegenwärtig. In kleinbäuerlich geprägten Regionen gab es kaum ein Haus, in dessen Stall nicht ein, zwei oder drei Kühe standen. Kühe wurden auf Weiden getrieben, vor den ersten Selbsttränken zwei Mal täglich zu einem Brunnen. Ursprünglich lebten die meisten kleinen Bauern des Alpenraumes in Stallwohnungen. Hier kochten, aßen und schliefen sie. Frauen brachten (nicht nur in der Bibel) ihre Kinder in Ställen zur Welt, nur notdürftig von den Tieren abgegrenzt, zumindest Wand an Wand, so nahe, dass sie nachts das Atmen und Wiederkäuen der Kühe hörten. In manchen Regionen gab es solche Stallwohnungen noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Segantini etwa ließ sich davon inspirieren. Nach der Trennung von Stall- und Wohnbereich teilten Kühe mit Menschen immer noch den öffentlichen Raum. Heute sind die Räume von Kühen endgültig von jenen der Menschen geschieden.

Kühe werden heute nicht mehr gehalten, sie werden bewirtschaftet. Wie andere Gebrauchsgüter tragen all diese Tiere von Beginn an den Keim des Abfalls in sich und werden in ähnlicher Weise entsorgt und recycelt. Noch vor wenigen Jahren wurden verendete Kühe mit anderen Tierkadavern oder Schlachtabfällen zu Tiermehl verarbeitet und auch an Rinder verfüttert. Wo immer Güter industriell produziert werden, haben wir es mit Massen, mit Stückzahlen, Wiederholungen ein und desselben zu tun. In der heutigen Rinderhaltung werden die Tiere analog zur industriellen Fertigung von Gütern als Serien gedacht. Färben Kühe heute noch auf den Menschen ab? Nein. Es ist die Technik, die Bewirtschaftungstechnik. Diese färbt auf die Bauern ab. Auch sie werden bewirtschaftet.



Melkstand in einem Demeterbetrieb. An der Stirnseite hängt eine Kopie von Segantinis Gemälde „Die beiden Mütter“ (1889/90).

© Bernhard Kathan, 2017
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