Hätte sich Simone Weil mit Walt Whitman beschäftigt, womöglich hätte sie
ihren Wunsch, als Frontkrankenschwester umzukommen, überdacht. Freilich ist
das nicht anzunehmen, war sie doch in einem "Programm" gefangen, welches auf
ihre Selbstauslöschung hinauslief. Auch hatte sie Antworten parat, um jeden
Einwand zurückzuweisen. Dabei hätte sie bei Walt Whitman die entscheidenden
Antworten finden können. Die beiden hatten Vieles gemein. Auch ihn trieb es
auf das Land, hin zu einfachen Menschen. Auch er erlebte eine Art mystischer
Erfahrung, eine "kosmische Erleuchtung", über deren Inhalt und Anlass sich
Literaturwissenschaftler bis heute nicht einig sind. Auch in ihrer
Metaphorik finden sich zahllose Parallelen. Man denke an den Korngott, an
die vielen Vegetations- und Körperbilder. Während Simone Weil in einer
bildungsbeflissenen Familie aufwuchs, kam Walt Whitman als Kind eines
einfachen Zimmermanns zur Welt und genoss nur eine sehr rudimentäre
Ausbildung. Und doch war er wie sie bemüht, Sprachlosen zur Sprache zu
verhelfen, zumindest das auszudrücken, was er als ihre "lebendig begrabene
Sprache" bezeichnete ("Schlendre mit mir durch das Gras, löse den Stöpsel
aus deiner Kehle"). Auch er beschäftigte sich mit der Entwurzelung des
Menschen (die Soldaten in den Lazaretten betrachtete er vor allem als
Entwurzelte), auch ihn trieb die Vorstellung einer spirituell organisierten
Gesellschaft.
1862 reiste Walt Whitman nach Washington, um nach seinem Bruder George zu
sehen, der während des amerikanischen Bürgerkrieges verwundet worden war. In
einem Saal des Campbell Hospital lagen Dutzende von Verwundeten. Whitman
tröstete einen Jungen, der vor Schmerzen stöhnte und um den sich seit seiner
Einlieferung, das brachte er bald in Erfahrung, kein Arzt gekümmert hatte.
Er setzte sich an sein Bett und ließ sich von ihm einen Brief an seine
Angehörigen diktieren. Whitman gab ihm etwas Geld, damit er sich Milch von
einer Frau kaufen konnte, die jeden Nachmittag durch die Station kam. Diese
Begegnung berührte ihn so tief, dass er begann, täglich Krankenhäuser und
Lazarette aufzusuchen und sich um Verwundete zu kümmern. Innerhalb zweier
Jahre habe er, so Whitman, über 600 Krankenbesuche gemacht und sei "bei etwa
18 bis 20 000 Verwundeten und Kranken gewesen und habe ihnen Seele und Leib,
wenigstens in einigem geringen Maße, in der Stunde der Not gestärkt."
Die Zustände in den Lazaretten waren katastrophal. Bei einem seiner ersten
Besuche stand er in einem Garten unerwartet vor einem Haufen amputierter
Füße, Beine, Arme, "abgeschnitten, blutig, schwarzblau, dick geschwollen und
ekelerregend". Die überfüllten Lazarette waren nur notdürftig eingerichtet:
"alles improvisiert, kein System, alles ziemlich schlecht, aber zweifellos
so gut, als es sich eben machen läßt; alle Wunden sehr schwer, einige
furchtbar; die Leute noch in ihren vertragenen Uniformen, schmutzig und
blutig." Oft lagen die Verwundeten am Boden. Es mangelte am Nötigsten, vor
allem an Personal, weshalb Whitman bei nahezu allen Tätigkeiten innerhalb
des Stationsbetriebes mitwirken konnte. Er hielt Nachtwache bei Sterbenden,
saß am Bett von Fiebernden, säuberte Wunden, legte Verbände an und
assistierte bei Operationen. Er assistierte sogar, als Ärzte das Bein eines
Soldaten amputierten, in den er sich verliebt hatte.
Whitman schrieb Briefe an Angehörige, bat Freunde um Geld, um den
Verwundeten etwas kaufen zu können, verteilte Essen, fütterte jene, die
aufgrund ihrer Verletzungen nicht mehr in der Lage waren, selbst zu essen:
"Ich versuche ausnahmslos jedem ein Wort oder eine Kleinigkeit zu schenken,
mache regelmäßig die Runde bei allen. Ich gebe ihnen jede Art von
Unterstützung, Brombeeren, Pfirsiche, Zitronen mit Zucker, Weintrauben,
Konserven aller Art, eingelegtes Gemüse, Brandy, Milch, Hemden &
Unterwäsche, Tabak, Tee, Taschentücher &c &c &c. Ich gebe auch immer
Briefpapier, Umschläge, Briefmarken &c ... Vielen schenke ich auch (wenn ich
habe) kleine Geldbeträge - die Hälfte der im Hospital liegenden Soldaten hat
keinen Cent." Statt großer Gesten kleine Aufmerksamkeiten. Whitman selbst
lebte äußerst bescheiden. Um seinen Lebensunterhalt bestreiten und für die
Verwundeten "Leckerbissen" (Eiscreme etwa), Bücher, Schreibpapier, Tabak wie
allerhand Kleinigkeiten kaufen zu können, verfasste er Zeitungsartikel.
Hatte er genügend Zeit, so las er einzelnen oder der ganzen Station
Nachrichten, Frontberichte, beliebte Romane, die Odyssee, Texte von
Shakespeare oder Scott, manchmal auch eigene Gedichte vor. War abends alles
ruhig, dann blieb er noch, setzte sich in eine Ecke und schrieb den einen
oder anderen Brief: "Es ist eine sonderbare Szenerie: die Station vielleicht
vierzig Meter lang, jedes der Feldbetten mit einem weißen Mückennetz
ausgestattet, alles sehr still, ab und zu hört man ein Seufzen oder Stöhnen,
und oben in der Mitte der Station sitzt die Schwester an einem Tischchen und
liest bei einer abgedunkelten Lampe, Wände, Decke &c allesamt weiß getüncht,
vorne & hinten in der Station Licht von niedrig gestellten Gasbrennern." Um
Abstand zu gewinnen, ließ Whitman all die Bilder schrecklicher Verwundungen,
Verstümmelungen und Amputationen, die tagsüber in ihn eindrangen, vor allem
das, was er im Umgang mit seinen Pfleglingen erlebte, nachwirken, nicht ohne
sich dabei gedanklich auf den nächsten Tag vorzubereiten. Er führte über
seine Pfleglinge Buch und hielt deren Wünsche und Bedürfnisse fest. Da er
davon überzeugt war, dass sich seine heilende Wirkung seiner Gesundheit wie
der "reinen Ausstrahlung seiner ganzen Persönlichkeit" verdanke, pflegte er
sich auf seine Besuche sorgfältig vorzubereiten. Wenn nur möglich, so
unternahm er Spaziergänge in der Natur. War es sehr drückend heiß, so ging
er mit Sonnenschirm und Fächer aus: "Es war meine Gewohnheit, wenn es sich
machen ließ, mich auf jeden meiner täglichen oder nächtlichen Rundgänge, die
zwei bis vier oder fünf Stunden dauerten, dadurch vorzubereiten, daß ich
mich zuvor durch Ruhe, Baden, frische Kleidung, eine gute Mahlzeit und ein
möglichst heiteres Aussehen stärkte." Heilung, so dachte Whitman, setze
"bloße Anwesenheit" voraus. Er glaubte mehr an die "Ausströmung von
einfachem Frohsinn und Magnetismus" als an ärztliche Kuren. Selbst
mitgebrachten Leckerbissen oder kleinen Geldgeschenken wies er nur eine
untergeordnete Bedeutung zu. Seine besten Bücher verschenkte er übrigens
nicht. Er ließ sie im Lazarett zirkulieren: "Die Leute sind immer sehr
pünktlich mit dem Zurückgeben."
Whitman hatte nicht die geringste Scheu davor, sich auf das Bett eines
Verwundeten zu setzen, um diesem etwa einen Pfirsich zu schälen, in Stücke
zu schneiden und mit Zucker zu bestreuen, also vor Gesten, die in der
Medizin längst verpönt sind: "Ich habe seit langem alle steifen Konventionen
abgelegt (der Tod und die Qualen lösen alles Zeremonielle zwischen meinen
Kerlen & mir auf) - ich streichele sie, manchen tut das so gut, sie sind so
schwach - einsam -, und wenn ich abends gehe, küsse ich sie rechts & links -
die Ärzte sagen mir, dass ich den Patienten eine Medizin gebe, die all ihre
Pillen & Tinkturen & Pulver nicht zu spenden vermöchten."
"Heute Nachmittag, am 22. Juli, blieb ich lange bei Oskar F. Wilbur,
Kompagnie G, 154 Rgt. New York, der an Dysenterie und auch einer schlimmen
Wunde daniederliegt. Er bat mich, ihm ein Kapitel aus dem Neuen Testament
vorzulesen. Ich willigte ein und fragte ihn, was ich lesen solle. Er sagte:
‚Wähle selbst!' Ich schlug den Schluß eines der ersten Evangelien auf und
las die Kapitel vor, worin die letzten Stunden Christi und die Vorgänge bei
der Kreuzigung beschrieben sind. Der arme verfallene junge Mensch bat mich,
auch das folgende Kapitel vorzulesen, wo Christus wieder auferstand. Ich las
sehr langsam, denn Oskar war schwach. Es gefiel ihm sehr gut, aber die
Tränen standen ihm in den Augen. Er fragte mich, ob ich auf Religion etwas
halte. Ich sagte: ‚Vielleicht nicht in der Weise, wie du meinst, mein
Lieber, und doch kommt es wohl auf dasselbe hinaus.' Er sagte: ‚Sie ist mein
ganzer Trost.' Er sprach vom Tode und sagte, er fürchte ihn nicht. Ich
sagte: ‚Wie, Oskar, glaubst du denn nicht, daß du wieder gesund wirst?' Er
sprach mit Fassung von seinem Zustand. Die Wunde war sehr schlimm, sie
eiterte stark. Dann hatte ihn die Dysenterie sehr mitgenommen, und ich
fühlte, daß er schon in diesem Augenblick so gut wie im Sterben lag. Seine
Haltung war sehr mannhaft und zärtlich. Den Kuß, den ich ihm beim Abschied
gab, erwiderte er vierfach. Er gab mir die Adresse seiner Mutter. Ich war
öfter so mit ihm zusammen. Er starb wenige Tage nach dem eben Beschriebenen."
Obwohl Whitman mit sehr vielen Verwundeten zu tun hatte, er erwähnt immer
wieder ihre große Anzahl, so war er bemüht, jeden seiner Pfleglinge in
seiner Einzigartigkeit wahrzunehmen. Jeder Fall habe seine Besonderheit und
verlange eine neue Anpassung. Er habe gelernt, sich jedem Bedürfnis
anzupassen nach seiner Art und Weise und werde jedem gerecht nach seinen
Umständen, "so trivial oder feierlich sie sein mögen". Seine Antworten
fielen denn auch oft genug sehr verschieden aus. Erst wenn es ihm gelänge,
"in ein vertrautes und oft zärtliches Verhältnis" zu kommen, dann erst
begänne das "eigentliche Gute", also das, was möglich sei: "Und dann erst,
das gestehe ich egoistischerweise, bin ich so recht in meinem Element.
Selbst vom ärztlichen Standpunkt aus ist das von größter Bedeutung; ich kann
bezeugen, daß Freundschaft buchstäblich ein Fieber und die Arznei täglicher
Zärtlichkeit eine schlimme Wunde geheilt hat." Darin liege das letzte
Geheimnis einer erfolgreichen Tätigkeit als Krankenpfleger. Vor allem war
Whitman bemüht, die Verwundeten davor zu bewahren, sich selbst aufzugeben.
"Einen Soldaten, der schwer typhuskrank vor etwa vierzehn Tagen
hierhergebracht wurde, habe ich in meine ganz besondere Obhut genommen, da
ich ihn in einem Zustand fand, der nahe am Sterben war, infolge von
Vernachlässigung und einer furchtbaren Reise von vierzig Meilen, schlechten
Wegen und schnellem Fahren; und dann wurde er, als er hierher kam, ebenfalls
vernachlässigt, da er ein einfacher Junge vom Lande ist, sehr scheu und
schweigsam und sich nie beklagte. Ich machte den Arzt auf ihn aufmerksam,
setzte die Pflegerinnen in Bewegung, ließ ihn mit Spiritus waschen, gab ihm
Stücke Eis zu schlucken und Eis auf den Kopf . . . Er war sehr ruhig, ein
sehr vernünftiger Mensch, altmodisch; er wollte nicht sterben, und ich mußte
ihn fortwährend belügen, denn er glaubte, ich wisse alles. Und ich tat
natürlich, als ob ich ihm stets die volle Wahrheit sagte und es ihm
mitteilen und nicht verheimlichen würde, wenn es einmal gefährlich um ihn
stehen sollte. Schwer Fieberkranke werden in der Regel aus den allgemeinen
Sälen in eine besondere Baracke geschafft, und wie mir der Arzt sagte,
sollte er auch dorthin gebracht werden. Ich brachte es ihm schonend bei,
aber der arme Junge bildete sich sofort ein, daß er als hoffnungslos
aufgegeben sei und deshalb dorthin gebracht werde. Dieser Gedanke
erschütterte ihn; und obwohl ich ihm diesmal die Wahrheit sagte, hatte ich
damit weniger Erfolg als vorher mit meinem Flunkern. Ich überredete den
Arzt, ihn dazulassen. Drei Tage lang schwebte er zwischen Leben und Tod,
eher noch näher dem Tode. Um es aber endlich kurz zu machen, liebe Mutter,
er ist jetzt über die größte Gefahr hinaus. Die ganze Zeit über war er bei
vollem Bewußtsein. - Jetzt beginnt er ein wenig Nahrung zu sich zu nehmen
(eine Woche lang aß er nichts; ich mußte ihn zwingen, dann und wann eine
Viertel-Orange zu nehmen), und, mag man es nun Anmaßung nennen oder nicht,
ich möchte sagen, daß, wenn er wieder aufkommt und gesund wird, ich ihm das
Leben gerettet habe."
Whitman behandelte die Männer, als seien sie seine eigenen Kinder oder
kleinen Brüder. Die meisten von ihnen waren sehr jung, "zu früh aus ihrem
Schoße genommen ... viele von ihnen erst Knaben an Jahren." Er sorgte sich
um sie wie dies Eltern mit einem kranken Kind tun würden. In Dankschreiben
wird er als "lieber Vater" angesprochen: "Kein Vater hätte sein Kind besser
pflegen können, als Du mich gepflegt hast." Manche sollten später ihre
Kinder nach ihm benennen. Whitman war sich durchaus bewusst, dass sich seine
Zufriedenheit und Kraft nicht zuletzt der Dankbarkeit verdankte, die ihm
entgegengebracht wurde, "... dass solcher Dienst für den Dienenden selbst
ebenso ein Segen ist wie für den Gepflegten. Ich war nie glücklicher als in
einigen dieser Stunden meiner Arbeit im Lazarett."
Whitmans Haltung kannte gleichermaßen Aktivität wie Passivität, Geben und
Nehmen: "Mein Aus- und Einatmen, mein Herzschlag, das Strömen von Luft und
Blut durch meine Lungen." Stolz und Mitleid sollten sich die Balance halten:
"Die Seele ist von dem grenzenlosen Stolz erfüllt, niemals eine Lehre oder
Erfahrung anzuerkennen als nur ihre eigene. Aber ebenso grenzenlos wie ihr
Stolz ist auch ihr Mitgefühl, eines gleicht das andere aus, und keines von
beiden kann jemals übers Ziel schießen, solange es mit dem andern vereint
ist. Die innersten Geheimnisse der Kunst schlummern in diesem
Zwillingsbunde." Zwischen diesen beiden Polen sah er "die Geheimnisse der
Kunst", und das sicher auch im Umgang mit Kranken und Sterbenden. Sich
abgrenzend öffnen, überlassen, dem Durchgang der Dinge durch den Körper
folgen. Unter Stolz verstand er Selbstgewissheit, nicht Hochmut: "Verwirf
alles, was deine Seele beleidigt."
"Dies ist also Berührung, bebend von eines andern Nähe?
Flammen und Äther stürzen in meine Adern,
Verräterischer Fühler, der sich streckt und drängt aus mir, um ihnen zu helfen,
Blitze spielen aus meinem Fleisch und Blut, um das zu treffen, was doch mir
selber gleicht,
Auf allen Seiten ein Reiz und Kitzel, der mir die Glieder strafft
Und letzten Tropfen aus meines Herzens Euter presst,
Toll mit mir umgeht und sich nicht abweisen lässt,
Mich wie mit Absicht des Besten beraubt,
Die Kleider mir aufknöpft und mich fasst um den bloßen Leib,
Meine Verwirrung narrt mit der Ruhe sonnigen Weidelands,
Rücksichtslos die Brudersinne verdrängt,
Sie besticht, der Berührung das Feld zu räumen und fern an meinen äußersten
Rändern zu grasen,
Ohne Schonung für meine sinkende Kraft, ohne Acht auf meinen Zorn [...]
Ich bin von Verrätern verlassen,
Ich rede irre, ich habe den Verstand verloren ..."
Liest man Texte über Walt Whitmans Lazaretterfahrungen, so werden stets die
vielen Dinge aufgelistet, die er gemacht hat. Um Vieles bemerkenswerter ist
seine Passivität, seine Wahrnehmungsbereitschaft, sein Bemühen, anwesend zu
sein, ohne gleich etwas zu tun. Zweifellos bedeutete dies für ihn eine
enorme seelische Belastung: "Es ist schrecklich, so viel zu sehen und nicht
helfen zu können." Hier spricht er zwar von "sehen", wahrgenommen hat er mit
seinem ganzen Körper. Begegnung als fleischlicher Verkehr, in dem sich alles
um Brot und Zungen, Hände und Herzen dreht. Mag auch zutreffen, dass er
viele seiner Wünsche und Phantasien nur unter den extremen Bedingungen des
Lazaretts ausleben konnte, so ist doch nicht zu übersehen, dass er sich
dabei bis an die Grenzen des Erträglichen exponierte.
"Kein Cholerakranker liegt im letzten Krampf, ich läge denn auch im letzten
Krampf,
Mein Gesicht aschfahl, meine Sehnen verkrümmt, die Menschen fliehen vor mir.
Bittende sind verkörpert in mir, und ich bin verkörpert in ihnen,
Ich streck meinen Hut hin, sitze mit dem Gesicht der Scham und bettle."
Wirkliche Hingabe hieß für Whitman, die Welt aus der Perspektive derer
wahrzunehmen, die er betreute. Eine solche Hingabe ist auf Dauer, trotz der
dabei erlebten Glücksmomente, ohne Verwundungen nicht möglich: "Mit meinem
Leib eines andern Leib zu berühren, ist fast so viel schon, wie ich ertragen
kann." Abgrenzung tut not: "Ihr Faulpelze dort auf der Wache! Auf zu den
Waffen! In die eroberten Tore dringen sie ein! Ich bin erstürmt! Ich
verkörpere alle Wesen geächtet und leidend ..." Die erlebte Überforderung
wird etwa in Bemerkungen offensichtlich wie: "Legen sie nicht immerfort
zerfressene Leichen hinein? Sind nicht alle Kontinente durchsetzt mit
bitteren Toten?" Zweifellos erlebte Whitman in den Wunden der Soldaten und
ihrer Fäulnis die eigene Verletzlichkeit, wurde ihm die eigene
Vergänglichkeit nur zu bewusst. Sterben und Tod, Whitmans Grashalme wuchsen
bereits vor seiner Lazarettzeit oft genug auf Gräbern, waren bedrohlich
nahe. Er suchte dem durch eine Art Todesphilosophie zu begegnen:
"Aus seiner Furche erhebt sich der gelbe Maisstrunk, in den Gärten blühen
die Lilien,
Unschuldig, fast verächtlich steht der Sommerwuchs über all jenen Schichten
von bitteren Toten.
Welch eine Chemie!
Dass die Winde wirklich nicht ansteckend sind,
Dass sie nicht trügt, diese hellgrüne Strömung des Meeres, die mich so
lieblich umspült,
Dass es sicher ist, meinen nackten Leib von ihren Zungen belecken zu lassen,
Dass mich all das darin abgelagerte Fieber nicht heimsuchen wird ..."
Hingabe und Verfall stehen bei Whitman in enger Verbindung. In seiner
Metaphorik, so Lewis Hyde, nehme das mitfühlende Selbst die Außenwelt (ob
Gegenstände oder den Geliebten) mit Furcht und Wonne in sich auf, um dann
eine Art Tod zu erleiden, aus dem die "Chemie der Natur" den
Frühjahrsweizen, neue Sprossen, Gras auf Gräbern hervorbringe.
Whitmans Haltung den Männern gegenüber war alles andere als distanziert.
Gleichermaßen wollte er körperliche Zuneigung geben wie auch empfangen. Die
diesbezügliche Zurückhaltung der anderen Betreuer, "so kalt & förmlich aus
Furcht, die Männer zu berühren", war ihm fremd. Die jungen Männer, so
schrieb er, bräuchten eine "mitfühlende Pflege", "persönliche Zuwendung",
sie hungerten nach "nährender Liebe", sie reagierten "elektrisch und
unfehlbar auf Zuneigung". "Anwesenheit & Anziehungskraft" betrachtete
Whitman als besondere Medizin, die kein Arzt zu verschreiben vermag. Whitman
umarmte, streichelte sie, wechselte Küsse mit den Soldaten: "manche winden
sich derart um dein Herz und bekommen einen Gutenachtkuss wie Kinder -
obwohl sie zwei Jahre Feld- und Lagerleben hinter sich haben." Es sind nicht
nur väterliche Küsse, oft genug küsst er wie ein Liebhaber, so einen Jungen,
über den er in einem Brief schreibt: "Er ist so gut, so liebevoll - als ich
vorüber kam, hielt er mir das Gesicht hin, ich legte den Arm um ihn, und wir
küssten einander, eine halbe Minute lang." Die Soldaten erwiderten seine
Liebe, aber ganz anders als er sich dies wünschte. Sie sahen in ihm stets
nur den "lieben Vater", nie aber den "Geliebten". Whitman war sich der damit
verbundenen Probleme durchaus bewusst.
"Zu jedem Sterbenden eil ich und drehe den Türknopf auf [...]
Ich packe den sinkenden Mann und heb ihn mit unwiderstehlichem Willen.
O Verzweifelter! Hier ist mein Nacken,
Bei Gott, du sollst nicht untergehn! Hänge dein ganzes Gewicht an mich,
Ich blase dich voll mit gewaltigem Odem ..."
Whitman pflegte Pockenkranke und versorgte freiwillig Wundpatienten mit
schwerstem Fieber ("Ich gehe hin - da niemand sonst es tut"). In der Folge
zog er sich eine schwere Blutvergiftung zu, die ihm beinahe einen Arm
gekostet hätte. Er litt unter Kopfschmerzen, Schwindelanfällen und
vorübergehenden Lähmungen. Kurze Zeit dachte er daran, seine Lazarettbesuche
aufzugeben. Diese waren ihm dann aber doch zu wichtig: "Es fängt jetzt an,
ein wenig an mir zu zehren, so viele böse Wunden, viele brandig ... aber wie
es aussieht, werde ich sicherlich hier bleiben ... denn es wäre mir
unmöglich, bestimmte Fälle nicht mehr zu sehen & zu pflegen & das verwickelt
mich in andere & so fort ..." Er blieb kränkelnd, seine Krankheit erwies
sich als "beharrlich, eigensinnig und etwas hinderlich". Er litt am "Virus
der Lazarette ... das sich einer regulären Behandlung entzieht". Fortan
wurde es ihm zur Gewohnheit, Gebrechlichkeit wie Krankheit auf das
"Lazarettgift" zurückzuführen, das Jahre zuvor vor in ihn eingedrungen war.
Selbst den Schlaganfall, den er 1873 erlitt und der ihn linksseitig lähmte
und monatelang ans Bett fesselte, brachte er mit seinen Lazaretterfahrungen
in Verbindung: "Es brodelte innerlich schon seit sechs oder sieben Jahren
... Jetzt eine schwere Attacke, ohne Aussicht auf Heilung." Andererseits
fällt auf, dass er erst nach dem Krieg, also nach seinen Lazaretterfahrungen
intensive und andauernde Beziehungen eingehen konnte. Übrigens weigerte sich
Whitman, selbst als er alt und krank war, einem Gesuch um eine staatliche
Rente für sein Engagement in den Lazaretten zuzustimmen.
Walt Whitmans Lazaretterfahrungen illustrieren in bester Form das Drama der
Nähe, gleichermaßen die Hoffnung, sich durch Liebe zu reinigen wie die damit
verbundene "Chemie der Fäulnis". Darin findet sich auch der wesentliche
Unterschied zu Simone Weils Phantasien. Während er körperliche Nähe suchte,
dachte Simone Weil, man könne sich Verwundeten und Sterbenden gleichsam mit
Stäbchen nähern. Simone Weil suchte keine Nähe, schon gar keine körperliche
Nähe. Im Gegensatz zu Walt Whitman dachte sie an ein Selbstopfer, an eine
Selbstauslöschung. Hätte sie den Befehl in sich gespürt, so hätte sie, nicht
viel anders als Katharina von Siena auch eine Schale mit Eiter getrunken.
All das war Walt Whitman fremd. Er dachte nicht an Befehle. Er dachte an
Berührung. Simone Weils Frontkrankenschwesternphantasien lassen an einen
Kippschalter denken, an + und -. Dazwischen nichts. Walt Whitman dagegen war
ein Meister der feinen Nuancen, der Berührung eben.
In der NZZ stand anlässlich der Neuübersetzung von Whitmans Gedichten durch
Jürgen Brôcan zu lesen, zwar sei "das thematisch und sprachästhetisch
Revolutionäre" seiner Gedichte durchaus noch nachvollziehbar, aber eine
berauschende Wirkung stelle sich nicht mehr ein. Whitmans Gedichte seien
gefangen "in einer Mischung aus vitalistischer Naturverehrung und
realistischer Alltagsbeschreibung, aus patriotischem Idealismus und
poetischem Sendungsbewusstsein." Melvilles Romane oder Emersons Essays könne
man dagegen immer noch lesen. Tatsächlich sind Whitmans Gedichte heute nur
bedingt zugänglich. In Zeiten des Internets wirkt seine üppige sexuelle
Metaphorik verstaubt, schwülstig. Viele seiner Metaphern sind
poulärwissenschaftlichen Publikationen seiner Zeit entlehnt. Und doch lohnt
es sich, seine Gedichte zu lesen. Wie kein anderer hat Whitman menschliches
Sein als ständiges Geben und Nehmen mit all den damit verbundenen Konflikten
durchgespielt, in seinen Texten, in seinem Leben.
Da sitzt einer,
dem das Haar ausfiel,
dort eine junge Frau
mit früh gealtertem Gesicht.
In einem Rollstuhl ein Mann,
abgestellt und vergessen
wie ein Gepäckstück,
das keiner als das seine behauptet,
keines Diebes Begehrlichkeit weckt.
Warten. Langes Warten.
Und doch ist meine Stimmung heiter.
Wandernde Organe,
Sprachfetzen und Worte,
die sich zu neuem Sinn zusammenfügen.
Ob Ärzte oder Schwestern,
sie sind mit Papier beschäftigt.
Da tragen sie dich
und mich herum.
So leicht kann mein Leben sein.
Während meiner Beschäftigung mit Walt Whitman dachte ich mir wiederholt, es
wäre doch eine schöne Sache, mit Krankenpflegeschülern seine
Lazaretterfahrungen aufzuarbeiten, also all die Konflikte durchzuspielen,
die wirkliche Nähe mit sich bringt. Warum nicht ausgehend von seinen Texten
ein Theaterstück erarbeiten? Das wäre undenkbar. Heute werden nur noch
instrumentelle Techniken vermittelt. Heutigen Pflegenden wird jede
zwischenmenschliche Unschärfe gründlich ausgetrieben. Statt Begegnung
Oberflächenbetreuung. Inzwischen werden Patienten ähnlich betrachtet wie die
Geräte, die zu ihrer Bewirtschaftung dienen. Elektronische
Pflegedokumentationssysteme kennen keine Fragen. Es wird abgefragt. Alles
ist bereits vorgegeben, in einem gewissen Sinn automatisiert. Der Patient
ist bekannt, noch ehe man ihn gesehen hat. Er existiert als Kombination
bekannter Erscheinungsformen. Laut Baudrillard wird so der Zyklus der
Bedeutung "unendlich verkürzt zum Zyklus der Frage/Antwort, des Bit, der
kleinsten Einheit von Energie/Information, der auf seinen Ausgangspunkt
zurückverweist und dabei nur die ständige Reaktualisierung desselben Modells
darstellt." Die Frage verschlinge die Antwort, das binäre
Frage/Antwort-Schema zerstückele jeden Diskurs, es schließe alles kurz.
Elektronische Pflegedokumentationssysteme setzen die Zerlegung von
Arbeitsabläufe in kleinste Einheiten voraus, wodurch sich, wie Eduard Kaeser
anmerkt, Engagement, physische Geschicklichkeit und Erfahrung, also die
Grundmomente lebendiger Arbeit, auflösen: "Arbeit verwandelt sich in einen
Prozess, der vom Management geplant und günstigstenfalls von der Maschine
durchgeführt wird. Dem Arbeiter bleibt nichts anderes übrig, als selbst
maschinenhaft zu werden. Und damit austauschbar. Das ist die Logik des
Fließbandes, die Religion der Effizienz."
Dem Abgespeicherten kommt die Funktion eines im Nachhinein nicht mehr
korrigierbaren Dokuments zu. Es wird nicht einmal darüber nachgedacht, dass
Pflegepersonen sehr unterschiedlich mit Patienten umgehen, über sehr
unterschiedliche Interaktionskompetenzen verfügen. Patienten können einer
Krankenschwester etwas erzählen, was sie einer anderen eben nie erzählen
würden. Wir haben es also nicht einfach mit Fakten, sondern mit
Interaktionen, mit einem Interaktionsfeld zu tun, dem
Datenverarbeitungssysteme keinesfalls gerecht zu werden vermögen. Es wird
eine Objektivität behauptet, die es nicht gibt, gar nicht geben kann.
Verabreichte Medikamente lassen sich dokumentieren, aber kaum das, was
zwischenmenschlich geschieht. Und es versteht sich von selbst, dass alles
normiert und standardisiert sein muss. Es wird nicht geschrieben, es wird
auf einen Touchscreen getippt. Die Wahrnehmung ist bereits präfiguriert,
durch das jeweilige Programm vorgegeben. Die Wahrnehmung wird ja allein
dadurch verändert, dass man weniger auf den Patienten als auf den
Touchscreen zu schauen hat. Zweifellos werden solche Handcomputer in
kürzester Zeit mit Passivsendern ausgestattet sein, wodurch sich genaue
Bewegungsprofile erstellen lassen, in letzter Konsequenz auch jede einzelne
Pflegeperson kontrollierbar wird. Es versteht sich von selbst, dass allein
der Ordnung halber Tätigkeiten dokumentiert werden, die gar nicht erbracht
wurden. Erstaunlicherweise werden Normierung und Standardisierung im Sinne
einer Qualitätsverbesserung gedacht. Nicht zufällig finden sich unter
Pflegenden vehemente Befürworter solcher Systeme. Gibt ein Programm die
Fragen vor, dann kann sich kein Gespräch mehr entwickeln. Das ist
entlastend. Standardisierungen betonen die Routine und wirken deshalb
entlastend. Andererseits haben sie eine Anästhesierung zur Folge, was nicht
nur die geforderte Empathie, sondern auch das eigene Erleben betrifft.
Gegenstand von Medizin und Pflege bildet der menschliche Körper. Das Streben
der Medizin läuft jedoch darauf hinaus, die körpervermittelte Wirklichkeit,
letztlich den Körper, nach Nietzsche Grundmedium menschlicher Kultur,
abzuschaffen. Ironischerweise trachtete auch Simone Weil, wenn auch aus ganz
anderen Gründen, den Körper abzuschaffen, abzutöten, die Tiere in sich zum
Schweigen zu bringen.
Würde sich heute jemand in einem Krankenhaus so verhalten wie Walt Whitman,
man spräche von persönlicher Motivation ("Helfersyndrom"), Missbrauch etc.
Entlassung, wenn nicht strafrechtliche Folgen wären zu befürchten. Die
Beschäftigung mit Walt Whitman lohnte sich schon deshalb, weil diese daran
erinnern könnte, dass wir uns selbst nur durch andere erfahren können, dass
wir andere nur durch uns selbst zu heilen vermögen. Dass es einer Haltung
bedarf, um mit Menschen zu arbeiten, einer Haltung, die Whitman mit den
Begriffen Mitleid und Stolz zu fassen suchte. Sein Engagement kannte
Neugier, eine Eigenschaft, die man in einer Zeit, in der Schnellsiedekurse
mit Bildung verwechselt werden, nur selten finden wird. Seine
Lazaretterfahrungen haben nicht nur Spuren hinterlassen, sie haben ihn auch
verändert. An heutigen Pflegenden, von Ärzten ganz zu schweigen, scheint all
das, was sie im Umgang mit Kranken und Sterbenden erleben, abzuperlen wie
die Bazillen von jenem Stoff, von dem Bertha von Suttner träumte. Heutige
Pflegende leiden unter Zeitdruck, nicht zuletzt an der Angst, diesen oder
jenen Standards nicht gerecht zu werden oder haftungsrechtlich relevante
Fehler zu begehen. Sie scheinen nicht mehr mit ihrem Beruf zu wachsen, nur
noch zu altern. Sprachlose Automaten sind gefragt, freilich Automaten, die
dem Patienten=Kunden freundlich guten Morgen wünschen. Diesbezüglich würde
es sich lohnen, in einem einzigen Krankenhaus die Suicidfälle unter dem
Pflegepersonal in den letzten zehn Jahren zu untersuchen (die Abbildung oben
zeigt den Spind einer Krankenschwester nach ihrem Suicid), eben notwendige
Fragen zu stellen. Gibt man das Fragen auf, gibt man sich selbst hin, wird
man Teil des Maschinen=Ökonomie=Konglomerates. Whitmans Lazaretterfahrungen
lesen sich da als tröstliches Gegenmodell.
Bernhard Kathan, 2011
Lit.:
Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, München 1991, S. 97
Lewis Hyde, Die Gabe. Wie Kreativität die Welt bereichert, Frankfurt am Main
2008.
Eduard Kaeser, Pop Science. Essays zur Wissenschaftskultur, Basel 2009.
NZZ, 20.3.2010.
Walt Whitmans Werk in zwei Bänden, erster Band, Berlin 1922.
Walt Whitman, Grasblätter, München 2009.