I
Macht man einen Spaziergang durch eine beliebige Häuslsiedlung, so wird man
zahllose Beispiele für gradiose Verschwendungen finden. Es beginnt bereits
damit, dass solche Agglomerate eine Verschwendung verfügbarer Landschaft wie
öffentlicher Mittel (Straßenerhaltung, Schneeräumung, Kanalisation, Schulbus
und so fort) sind. Diese Art der Verschwendung setzt sich in den einzelnen
Objekten fort, in totem Raum, in Dachflächen, die in einem grotesken
Missverhältnis zur Kubatur stehen, in unnützem Zierrat und modischem
Beiwerk. Zumeist werden solche Häuser für Familien geplant, spätestens aber
dann, ziehen die Kinder aus, von ein oder zwei Personen bewohnt. Wer immer
ein Einfamilienhaus errichtet, ist davon überzeugt, dass sein Gebäude sehr
schön, sich von allen anderen abheben, vor allem, dass es die Zeit
überdauern wird. Tatsächlich wirken die meisten dieser Bauwerke bereits nach
wenigen Jahren als habe man es mit abgetragenen Kleidern zu tun. Nicht
zufällig sind im Häuslbau gerade die Repräsentationsflächen von Bedeutung.
Ob Tapeten, blumengeschmückte Fenster oder Balkone, Malereien an der
Hauswand, das eigene Heim wird durch die Augen anderer betrachtet. Ist das
Neue zur Gewohnheit geworden, so ist es schnell entzaubert und dem
Überholten zugeordnet. Der offene Kamin, einmal selbstverständlich geworden,
eignet sich nicht länger dazu, sich von den anderen abzuheben. Häuslbauer
sind darum bemüht, ihrem Haus eine "persönliche Note" zu verleihen, sich mit
Hilfe seiner Gestaltung abzugrenzen, das Häusl buchstäblich zu
"umschmacken". Dies ist Ausdruck einer Gesellschaft, in der sich jeder
behaupten, letztlich selbst erfinden muss. Die "persönliche Note" macht die
Not zur Tugend, kaschiert das Unverstandene als produktive Leistung.
Paradoxerweise hat das Bemühen um Eigenart das Gegenteil zur Folge.
Alexander Mitscherlich schrieb angesichts von Rundbögen, vorgekragten
Blumenfenstern, mosaikumrandeten Entrées, getriebenen kupfernen Dachrinnen
und schmiedeeiserner Künstlichkeit, dem Bauherrn sei es gestattet, seine
Wunschträume mit seiner Identität zu verwechseln.
II
Es ist kein Zufall, dass wir bäuerliche Objekte, deren Struktur sich
jahrhundertelanger Erfahrung verdankt und die fast keine individuelle
Ausgestaltung kennen, trotz ihrer Einfachheit schön finden. Von der
bäuerlichen Architektur lässt sich vor allem eines lernen: Auf Struktur und
Funktionalität kommt es an, auf den Verzicht von allem Überflüssigen. Die
meisten Einfamilienhäuser werden nach kürzester Zeit umgebaut, an neue
Bedürfnisse oder einem anderen Geschmack angepasst. Das traditionelle
Bauernhaus wirkt wie eine Behauptung gegen solche Hinfälligkeit. Nicht
zufällig bemühten Martin Heidegger oder andere das Bauernhaus. Angesichts
bäuerlicher Bautraditionen sprach Adolf Loos von "Urväterweisheit,
geronnener Substanz." In der traditionellen bäuerlichen Architektur wiegt
das Allgemeine mehr als das Individuelle, Funktionalität mehr als
Außenwirkung. Angesichts subsistenzwirtschaftlicher Lebensformen wie der oft
damit verbundenen Armut erstaunt die Qualität vieler Bauernhäuser. Wie
schafften es Bauern mit vielleicht drei oder vier Kühen, einigen Schafen
oder Ziegen, wenigen Hühnern, Häuser mit solchen Qualitäten zu bauen? Ein
Grund ist dort zu sehen wo sie im Gegensatz zu uns heutigen Menschen
tatsächlich für Generationen bauten. Dann war das Errichten eines Hauses in
ihrer durch Bindungen und wechselseitigen Verpflichtungen geprägten Welt
keine Privatangelegenheit. Man konnte auf die Hilfe anderer zählen. Wem
immer beim Errichten eines Hauses geholfen wurde, der war seinerseits
verpflichtet, eben diese Hilfe zu einem späteren Zeitpunkt zu beantworten.
Wechselseitige Verpflichtungen und Abhängigkeiten bildeten eine
entscheidende Ressource, ohne die diese Architektur undenkbar gewesen wäre.
Das gemeinschaftliche Bauen ist dabei nicht einfach als Vervielfältigung
einzelner Kraftanstrengungen zu sehen. Vielmehr brachte jeder seine
Kenntnisse und Erfahrungen ein. Auch setzte diese Art des Bauens
individuellen Gestaltungswünschen Grenzen. Sind viele an der Errichtung
eines Gebäudes beteiligt, ist man auf andere angewiesen, dann darf ein
Gebäude nicht behaupten, das Haus eines Reicheren zu sein.
III
Wohnraum soll erschwinglich sein, den finanziellen Möglichkeiten der
Bewohner wie ihren Bedürfnissen entsprechen. Traditionelle Kulturen wussten
stets um diese Balance. Man denke an die zeltartigen Hütten, die die Fischer
in der Gegend um Grado noch Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts errichteten.
Holzgerüste wurden mit Matten aus Schilf bedeckt, diese mit außen
herumgehenden und hineingebundenen Hölzern wie mit Reifen zusammengehalten.
Das Dach ruhte zumeist auf dem Erdreich auf. Diese Hütten, manche von ihnen
waren von beachtlicher Größe, kannten oft nur einen Raum, konnten aber auch
durch eine leichte Zwischenwand in zwei Räume geteilt sein, wobei der
vordere mit der Feuergrube zum Kochen, der rückwärtige zum Schlafen diente.
Der Rauch zog durch die Wände und die Tür ab. Licht fiel einzig durch die
offene Türe ein. Man schlief auf dem Boden. Verwandte Bauwerke finden sich
in vielen archaischen Kulturen. Freilich waren die Fischer in der Gegend von
Grado arm, bitter arm. Aber man kann sicher sein, dass sie stolz auf die von
ihnen errichteten Hütten waren. In ihrer Materialität standen diese dem
Textilen, dem Überwurf, der Kleidung noch sehr nahe. Moden kannten sie
nicht. Ihre Schönheit verdankten sie ihrer Form, ihrem Material, vor allem
dem Umstand, dass das Ästhetische mit dem Funktionalen in eins fiel.
Wohnraum dieser Art verursachte keine wirklichen Kosten. Wer heute eine
Wohnobjekt kauft oder für sich errichtet, arbeitet in der Regel ein halbes
Leben dafür. Dies müßte so nicht sein. Freilich müsste man Wohnen anders
denken, bedürfte es anderer gesetzlicher Regulative. Warum sollte man nicht
in einem aus Schilfmatten errichteten Gebäude wohnen, warum sollte jemand
über einen Kanalisationsanschluss verfügen, weiß er mit den menschlichen
Ausscheidungen umzugehen? Warum sollte man Wohnobjekte nicht als das
begreifen, was sie sind, nämlich temporäre Objekte? Die Fischerhütten von
Grado verfielen innerhalb weniger Jahre, blieben sie unbewohnt.
IV
Beim Häusl ist immer etwas zu viel. Der Mangel, auf den dieses Mehr
verweist, bleibt unausgesprochen. Gäbe es eine Sprache für diesen Mangel,
Häusln sähen anders aus, und zweifellos wären viele von ihnen auch dann noch
schön, wären sie abgewohnt. Loos plädierte für die Verbannung allen unnützen
Zierrats aus der Architektur. In seinen Schriften, die heute noch anregend
zu lesen sind, geht er von einem breiten Architekturverständnis aus. Er
dachte nicht allein an Gebäude und ihre Ausgestaltung. Er konnte sich auch
mit Regenschirmständern, Unterwäsche, Schuhen oder Hüten beschäftigen. Loos
dachte, ein Haus solle nicht auffallen, sondern nach außen schweigen und
seinen Reichtum nur im Inneren offenbaren. Loos hielt den für modern
gekleidet, der am wenigsten auffällt. Simmel wiederum, der zur selben Zeit
schrieb, interessierte sich nicht allein für Phänomene wie Scham, Diskretion
oder Mode. In seiner Arbeit spielt auch die Auseinandersetzung mit Räumen
eine wichtige Rolle. Der Häuslbau hätte sich wohl anders entwickelt, wäre
das Schlafzimmer mit Hilfe von Nachthemden, der Keller über Schuhwerk oder
der Dachboden über Hüte gedacht worden, das heißt, wären primäre und
sekundäre Bedürfnisse benannt worden.
V
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Es fehlt nicht an Versuchen, Wohnobjekte erschwinglicher zu machen,
tatsächlichen Bedürfnissen wie Einkommensverhältnissen entsprechend zu
planen. Als ein Beispiel sei das von Hansjörg Thum in Götzis realisierte
Haus Weber genannt: "Die Bauherrin wollte ein möglichst kostengünstiges,
individuell auf Ihre Wünsche zugeschnittenes Haus. Ein Holzhaus war
ausdrücklicher Wunsch. Der enge Kostenrahmen zwang zu einer konsequenten
Optimierung, räumlich wie auch konstruktiv. Trotz der Einfachheit des
Gebäudes wurde auf ein reiches und vielseitiges innenräumliches Angebot Wert
gelegt. Die Wohnbereiche im Erdgeschoss gruppieren sich um den zentralen
Grundofen - darüber hinaus hat jeder Bereich eine besondere räumliche
Eigenart und Individualität." Ein kleines finanzierbares Gebäude, ein
schönes Objekt, reduziert auf all das, was eine alleinstehende Frau zum
Wohnen benötigt, ohne sich finanziell daran zugrunde zu richten. Wozu
bräuchte es eine Klingel, kann sich doch jeder Besucher durch Klopfen
bemerkbar machen. Kostengünstig, das hieß all das zu streichen, was nicht
unbedingt nötig ist, anerkennen, dass hier keine Familie, sondern eine
Person allein wohnen wird: "Beim Bau des Hauses wurde auf vieles verzichtet,
gleichzeitig wurde bei der Auswahl der verwendeten Materialien und
Konstruktionen größten Wert auf Haptik und Alterungsbeständigkeit gelegt.
Nutzfläche 70 m2" Das Objekt, eine Holzkonstruktion, ruht auf
Streifenfundamenten. Wozu benötigte es einen Keller? Um den Raum bestmöglich
zu nutzen, wurden sämtliche Trennwände, sie sind nichttragend, als
Einbauschränke ausgeführt. Alle Installationsstränge sind in die
Einbauschränke integriert. Das Objekt verdankt sich wohl einem intensiven
Wechselspiel zwischen der Bauherrin und dem Architekten. Das Beispiel zeigt,
dass sich dank kluger Raumplanung aus einer sehr begrenzten Nutzfläche mehr
machen lässt, dass sich Räume mit Hilfe einfacher Vorkehrungen wie
Schiebetüren einfach umfunktionieren lassen.
VI
Was war Ihnen wichtig, als Sie daran dachten, ein eigenes Haus zu bauen?
Ich wollte mir ein Zuhause schaffen wie es mir gefällt, v.a. einfach sollte
es sein, sich auf das Notwendige beschränken. Auch der Ort war nicht
unwichtig. Das Grundstück, das mir meine Mutter geschenkt hatte, gefiel mir
immer besser.
Wie konkret waren dabei Ihre Vorstellungen? Wollten Sie einen Holzbau?
Gingen Sie von der heutigen Größe aus?
Ja, ich stellte mir ein Holzhaus vor. Allein schon der Vorteil , dass die
Bauzeit sehr kurz ist, gefiel mir sehr.
Über die Größe hatte ich weniger genaue Vorstellungen. Zum Glück weiß
Hansjörg sehr gut, wie groß ein Raum sein muss, damit man sich darin wohl
fühlt. Ich wollte einfach wohnen, aber nicht beengt.
Nachdem mir schon beim ersten Gespräch klar war, dass Hansjörg verstand, um
was es mir ging, ließ ich ihm ziemlich viel Freiraum. Mein minimaler
Finanzrahmen war Einschränkung genug.
Ich denke, dass Sie in der Planungsphase sehr oft mit Hansjörg Thum
diskutieren? Wie sehr haben sich dadurch ihre Vorstellungen verändert?
Wir haben zwar viel diskutiert, lange geplant, aber die Grundidee war
eigentlich sehr schnell klar. Der Zubau , eine kleine Bibliothek, war nicht
von Anfang an geplant. Ich bin sehr froh um diese Erweiterung des
ursprünglichen Bauvorhabens.
Was gefällt Ihnen besonders an Ihrem Haus? Gab es Überraschungen?
Obwohl die Fenster nicht groß sind, ist es sehr hell in meinen Räumen und
ich kann wunderbar die Wiesen, den Wald, die Natur um mich herum betrachten.
Auch das Heizen - ich habe das vorher nie gemacht - macht mir große Freude.
Ließ sich der Finanzierungsrahmen einhalten?
Leider nicht. Die Bodenverhältnisse (Lehm und Fels) erforderten ein
aufwendigeres Fundament als vorgesehen. Der Rest blieb dann zum Glück
ziemlich im vorgesehenen Rahmen.
Wie kommentiere Ihre Freunde das Gebäude?
Sehr positiv. Sie fühlen sich wohl in meinem Haus, jung und alt.
Was würden Sie heute anders machen?
Nicht viel eigentlich. Ich würde mir mehr Gedanken über Sonnenschutz machen,
den ich jetzt nachträglich zu ergänzen versuche.
VII
Wo immer wir es mit dem Wunsch zu tun haben, sich ein Haus zu bauen, da
haben wir es auch mit Irrationalem zu tun. Man müsste sich genauer mit dem
"Nesten" befassen, welches weit über das Bedürfnis hinausgeht, nur ein Dach
über dem Kopf zu haben, einen sicheren Ort. "Nesten", dieses Verhalten
verbindet den Menschen mit Kühen, Mäusen oder Vögeln. Vielleicht müsste man
Baukommissionen zu "Unterausschüssen des Nestverhaltens" umbenennen. In
letzter Zeit wird oft genug der Geburtenrückgang beklagt. Die Fischer um
Grado hatten damit wohl wenig Probleme. Ihre organischen Bauten schienen der
Fortpflanzung zuträglich. Wie sollte man sich in heutigen Wohnobjekten noch
vermehren können, in Räumen, die bereits Gebrauchsanweisung sind,
verhaltensnormierend, in Räumen, in denen Fortpflanzung zur Arbeit wird. Im
Althochdeutschen meinte bauen ("buam") so viel wie wohnen. Heute verstehen
wir unter Bauen nur noch so viel wie das Errichten von Bauwerken. Von der
ursprünglichen Bedeutung des Begriffs sind wir abgekommen. Der Nestbau der
Tiere, sieht man von Wohnhöhlen ab, die als Fluchtraum oder der
Überwinterung dienen, steht einzig im Dienst der Fortpflanzung. Zum
menschlichen Nestbau fügen sich vielfältigste sekundäre Bedürfnisse. Tiere
tragen ihre Rangkämpfe mit ihrem Körper aus. Der Mensch tut dies mit Hilfe
seiner dinglichen Ausstattung, dazu zählt auch die Architektur, ihre
Möblierung und Ornamentierung. Insbesondere im Häuslbau ist ein
beträchtlicher Anteil der anfallenden Kosten diesbezüglich zu veranschlagen.
Und die Ausgaben dafür nehmen zu, einigen sich "Gemeinschaften" nicht, so
wie es etwa die bäuerliche Kultur tat, auf Selbstbeschränkungen.
VIII
Denke ich an funktionale Architektur, dann fallen mir Schweinemast-,
Fremdenverkehrs- und Industriebetriebe ein. Hier wird auf all das
verzichtet, was nicht dem eigentlichen Zweck dient. Bei großen
Fremdenverkehrsbetrieben lohnt es sich in den Keller zu gehen und die
Versorgungsleitungen betrachten, mit denen etwa Gaststuben mit Getränken
versorgt werden. Spätestens hier gibt es keinen Zweifel mehr, dass wir es
trotz aller Oberflächengestaltung mit höchst funktionalen Gebäuden zu tun
haben, dass "Gäste" weniger bewirtet als bewirtschaftet werden. Auf Google
Earth unternahm ich kürzlich eine kleine Architekturreise in eine
nordkoreanische Arbeitersiedlung. Dort stehen die Gebäude stramm wie
Soldaten in Reih und Glied. Wie Soldaten haben sie alles Individuelle
abgestreift. Es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, dass für Bäume und Gärten
kein Platz vorgesehen ist. In der Aufsicht lassen solche Anlagen an
Schweinemastbetriebe denken. Zweifellos sind diese Bauten höchst funktional,
eben auf das reduziert, was den Planern als dienlich oder gerade noch
notwendig erschien. Das bedeutet noch lange nicht, dass sie auch den
Menschen gerecht werden, von denen sie bewohnt werden. Ein gelungenes
funktionales Wohnobjekt muss Bedürfnisse weiter fassen.
IX
Funktionalität allein macht ein Bauwerk noch lange nicht zu einem schönen
Objekt. Moderne Schweinemastbetriebe mögen beeindrucken, schön sind sie
nicht. Ein entscheidender Grund für ihre Hässlichkeit liegt in ihrer
Dekontextualisiertheit. Zumeist liegen sie abseits. Trotz aller
Belüftungsanlagen, trotz all dessen, was eingespeist wird (Wasser,
Kraftfutter, Ferkel), trotz all dessen, was ausgeschieden wird (Schweine im
schlachtfähigen Alter, Jauche), kennen sie kein wirkliches Verhältnis
zwischen dem Innen- und dem Außenraum. Müssen solche Anlagen auch von
Menschen betreut werden, Menschen werden nicht wirklich mitgedacht.
Außenstehende würden nur Störungen hineintragen, sei es in Form von
Krankheitskeimen, dieser oder jener Erregung, die sich nachteilig auf die
Gewichtszunahme wie den Schweinefleischverzehr auswirkten. Ein funktionales
Gebäude kann erst dann ein schönes Gebäude sein, wenn es unterschiedlichen
Bedürfnissen gerecht wird, Teil und Ausdruck eines sozialen Gefüges ist.
X
Die Architekturgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts kennt zahllose
Bemühungen, funktionale wie erschwingliche Wohnobjekte zu errichten. Dies
beginnt nicht erst mit dem Bauhaus. Ich wohne in einer städtischen Wohnung
eines Gründerzeithauses aus dem Jahr 1908. Es gibt zahllose solcher
Wohnungen mit exakt demselben Grundriss. Damals dachte niemand, der sich so
eine Wohnung kaufte, an einen individuellen Grundriss. Wandflächen und
Mobiliar boten genügend Gestaltungsflächen. In all diesen Wohnungen war ein
Bad eingeplant, welches zumeist erst Jahrzehnte später eingebaut wurde. Das
seriell geplante Modul war, sieht man von den Raumhöhen ab, durchaus modern,
funktional, mochte die damalige Fassadengestaltung mit ihrer Ornamentik auch
im Gegensatz dazu stehen. Diese Wohnungen entsprachen nicht nur den
Bedürfnissen ihrer Bewohner, sie waren zumindest für kleinere Beamte
erschwinglich. Dieses Wohnmodul war bestens durchdacht, durchgerechnet,
abgestimmt auf die Bedürfnisse einer kleinen Familie. Inzwischen wurden
viele dieser Wohnungen umgebaut. Zusammenleben und gesellschaftliche
Konventionen haben sich geändert. Wir benötigen keinen Repräsentationsraum
mehr. Den intensiven Rot-, Grün- und Brauntönen, mit denen die Wände der
Räume damals ausgemalt wurden, können wir nur noch wenig abgewinnen. Es
musste dunkel sein, sollte die damals als modern empfundene elektrische
Bedeutung zur Geltung kommen. Gemeinschaftlich genutzte Funktionsräume wie
die Waschküche im Keller stehen heute unbenutzt.
XI
Der Architekt Angelo Roventa hat sich intensiv mit funktionalen Wohnobjekten
beschäftigt. Als ein Beispiel sei ein von ihm in Hohenems realisiertes
Wohnhaus aus Industriecontainern genannt: "Durch sehr niedere Baukosten -
bei serieller Fertigung und logistischer Optimierung konnten sie auf 700
Euro pro Quadratmeter gesenkt werden - und die unkomplizierte Addierungs-
bzw. Reduktionsmöglichkeit um weitere Raumzellen reagiert ein Bauwerk dieser
Art rasch, erschwinglich und Ressourcen sparend auf sich verändernde
Bedürfnisse in unterschiedlichen Lebensphasen." In seinem Projekt
smart_LIVINGUNIT geht er einen Schritt weiter, verspricht dieses doch eine
Multiplikation der Nutzfläche. Dank eines variablen Modulsystems, dessen
Elemente sich von Hand oder maschinenbetrieben verschieben lassen, lässt
sich ein und der selbe Raum wie die Bühne in einem Theater in kürzester Zeit
umgruppieren. Da es im Gegensatz zum Theater keine Räume hinter, über oder
unter der Bühne gibt, ist von der Nutzfläche jeweils jener Raum abzuziehen,
den die komprimierten, aber nicht verwendeten Module benötigen. Beispiel
Wohnraum / Tagfunktion: 60m2 Nutzfläche minus zusammengeschobene Elemente
ergibt 40m2 Wohnfläche: "Komplettes, modulares, bewegliches Möbelsystem
(Nassraum, Schlafzimmer, Wohnzimmer, Arbeitszimmer, Küche, alle Räume
einschließlich der erforderlichen Abstellflächen) zur Errichtung einer
vollwertigen Wohneinheit. Das modulare Möbelsystem gewährleistet aufgrund
verschiedener Raumarrangements sämtliche Funktionen mit dem Komfort einer
vollwertigen Wohneinheit. Die Funktionen können innerhalb der Wohneinheit
simultan oder der Reihe nach aktiviert werden. Mit der sequenziellen
Aktivierung gewinnen die gerade benutzten Funktionen die Fläche der nicht
benutzten Funktionen dazu. Auf diese Weise kann die Nutzfläche bis auf das
Vierfache vergrößert werden : (1.01) = (1.02)+(1.03)+(1.04)+(1.05) =
4x(1.01). Bruttofläche: 60m2, Nettonutzfläche: 54m2+40m2+44m2+41 m2+41 m2."
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Vergleichbare Modulsysteme finden sich in Bibliotheken, in Museumsdepots
oder anderen Einrichtungen. smart_LIVINGUNIT besticht durch seine optimale
Raumnutzung bei geringstmöglichen Kosten. Stelle ich mir aber vor, in so
einem System zu wohnen und zu arbeiten, dann würde sich die Frage nach
meiner Bibliothek stellen. Wo brächte ich all meine Bücher unter? Das wäre
kein Problem, lassen sich doch die Module bedürfnisorientiert
zusammenstellen. Wer viele Bücher hat, benötigt mehr Bücherregalmodule.
Zweifellos erfordert smart_LIVINGUNIT eine gewisse Disziplin, soll das
System optimal genutzt werden. Brächte ich diese Disziplin auf? Auf jeden
Fall würde Wohnen tendenziell zu Arbeit, was mich wieder zu den
Fischerhütten von Grado zurückkommen lässt. Diese waren erschwinglich,
setzten aber ein stetes beiläufiges Tun voraus. Wie die Bewohner dieser
Hütten immer wieder damit beschäftigt waren, Schilfmatten zu flechten oder
solche auszutauschen, so wäre ich als Nutzer einer smart_LIVINGUNIT-Einheit
ständig genötigt, den Raum anlassgerecht umzustrukturieren. Freilich, käme
kein Kunde, dann könnte ich auch bei nichtgemachtem Bett vor dem Bildschirm
sitzen. Vilém Flusser hätte dieses Projekt wohl gefallen.
XII
smart_LIVINGUNIT ist aus mehreren Gründen ein höchst zeitgemäßes Projekt.
Während die meisten Architekten davon leben, unverwechselbare Unikate zu
schaffen, arbeitet Angelo Roventa an einem bestmöglich durchdachten und
multiplizierbaren Objekt bzw. Wohnprodukt, welches für den Nutzer nicht
allein finanzierbar sein, sondern ein breites Spektrum an
Gestaltungsmöglichkeiten ermöglichen soll. Ob smart_LIVINGUNIT zu einer Art
"tätigem Wohnen" führen oder eine weitere Form der Garagierung des modernen
Menschen zur Folge haben wird, wird weniger von den Intentionen des
Architekten als vom jeweiligen Nutzer wie vom gesellschaftlichen Umfeld
abhängen, in dem sich dieser bewegt. Hätte es eine Garagierung zur Folge,
dann würde es sich, folgt man Ivan Illich, wie beim Häuslbau letztlich um
eine kostspielige Variante des Wohnens handeln: "Denn je besser
durchgaragiert ein Menschendepot ist, je mehr Ansprüche jeder an die
Ausstattung und den Betrieb aller Gehäuse stellt, in denen ihm seine Arbeit
und Erziehung, seine Behandlung und Belustigung verabreicht werden können,
um so mehr Rettungswagen, Polizei und Putzmannschaften benötigt die Stadt.
Wie John Turner schon vor 20 Jahren gezeigt hat, läßt sich diese Krise nur
durch die wirksame Anerkennung des Rechtes auf tätiges Wohnen lösen. Aber
diese Art des Wohnens kann man einfach nicht verordnen: Sie ist zutiefst mit
dem Träumen und Imaginieren von Raum und Bewegung, von Atmosphäre und Wasser
verbunden."
XIII
Seit ihren Anfängen haben sich Autoren der Science Fiction mit funktionalen
Wohnungen oder Wohnbauten beschäftigt. Diese reichen von totalitär
normierten Wohneinheiten, die Grundbedürfisse befriedigen bis hin zu
individuell zugeschnittenen Wohnungen oder Häusern. Auffallenderweise finden
sich angefangen bei Edward Morgan Forster über Rio Tokko bis hin zu heutigen
Autoren oft genug Wohnformen, die nur noch von einzelnen Personen bewohnt
werden. Zumindest in der Science Fiction hat sich der Wohnraum, das Wohnhaus
längst zur Wohnmaschine gewandelt. J.G. Ballard beschreibt in Die tausend
Träume von Stellavista psychotrope Häuser, die, ausgestattet mit einer
Unzahl von Sensoren, Stimmungen ihrer Bewohner aufnehmen und auf diese
reagieren. Die Wände formen selbsttätig Sitzgelegenheiten, dehnen sich aus,
ziehen sich zusammen, je nach Stimmung verfärben sie sich oder beginnen auch
zu vibrieren und zu zittern. Die psychotropen Häuser können selbst ihre
Gestalt ändern, sich zu bizarren Gebilden Formen, im schlimmsten Fall werden
sie zu einer Bedrohung ihrer Bewohner: "Irgend etwas hatte die normale
Perspektive des Raumes verändert. Während ich versuchte, meine Augen auf die
graue Wellenbewegung in der Decke einzustellen, war mir, als hörte ich
draußen Schritte. Tatsächlich begannen sich die Korridorwände leicht
zurückzuziehen, der Eingang, normalerweise ein fünfzehn Zentimeter breiter
Schlitz, hob sich, um jemanden einzulassen. Nichts kam hindurch, dennoch
weitete sich der Raum, um eine zusätzliche Anwesenheit unterzubringen, die
Decke wölbte sich nach oben. Erstaunt versuchte ich meinen Kopf
stillzuhalten und beobachtete, wie die unbesetzte Druckzone sich schnell
durch den Raum auf das Bett zubewegte. Ihre Bewegung war von einem Dom in
der Decke begleitet. Die Druckzone hielt am Fußende des Bettes an und
zögerte einige Sekunden. Aber statt sich zu stabilisieren, begannen die
Wände unglaublich schnell zu vibrieren, auf sonderbare Weise zu zittern und
ein Gefühl von großer Dringlichkeit und Unentschlossenheit auszustrahlen.
Dann wurde der Raum plötzlich still. Eine Sekunde später, als ich mich auf
einen Ellbogen gestützt aufrichtete, zog sich der Raum in einem gewaltigen
Krampf zusammen, verbog die Wände und hob das Bett in die Höhe. Das ganze
Haus begann zu schaukeln und sich zu drehen. Das Schlafzimmer zog sich, von
diesem Anfall erfaßt, zusammen und weitete sich wieder wie die Kammern eines
sterbenden Herzens; die Decke hob und senkte sich, der Fußboden schwankte."
XIV
Billig wohnen wird der Mensch in Hinkunft in seriell produzierten
Wohnmaschinen. Solche Wohnmaschinen werden nicht nur anders mit der
verfügbaren Nutzfläche umgehen, sie werden Dank neuer Technologien, etwa den
Energieverbrauch betreffend, den Raum zu optimieren wissen. Was mit der
Auslagerung der Vorratsbewirtschaftung wie des größten Teiles all dessen
begann, was für die Zubereitung von Speisen erforderlich ist, wird seine
Fortsetzung dort finden, wo sich das Gehirn, die Steuerungselemente solcher
Wohnmaschinen an ganz anderen Orten befinden werden. Wohnmaschinen werden
dem monadischen Wesen des heutigen Menschen ebenso gerecht werden wie seiner
Bindungslosigkeit. So wird der Wohnende (die Grenzen zwischen Arbeiten und
Wohnen werden zunehmend unscharf) tendenziell zu einer Funktion des von ihm
benutzten Raumes. Wohnmaschinen werden den Menschen völlig neu organisieren,
sein Essverhalten, seine sexuellen Praktiken oder sein Verhältnis zu
Mitmenschen betreffend. Dies tangiert eine Frage, die in
Architekturdiskussionen zumeist unbeachtet bleibt, nämlich jene der
Selbstorganisation, sei sie nun individuell oder kollektiv, nämlich auf das
Umfeld, eine wie immer geartete Gemeinschaft bezogen. Bäuerliche
Architektur, die Fischerhütten von Grado: Diese Art der Architektur
verdankte sich einem hohen Maß an Selbstorganisation, gemeinschaftlichem
Tun, nicht zuletzt handwerklichen Fähigkeiten. Dem modernen Menschen sind
nicht allein die handwerklichen Fähigkeiten abhanden gekommen. In einer
individualisierenden und nach den Regeln des Konsums organisierten Welt mit
all ihren Normierungen kann es solche Architektur nicht mehr geben. Aber es
ist denkbar, dass in absehbarer Zeit Menschen gezwungen sein werden, wieder
zu den Anfängen der Architektur zurückzukehren, dass es Enklaven geben wird,
in denen keine Bauausschüsse walten, in denen wieder
subsistenzwirtschaftlich Lebende Objekte aus Steinen, Lehm, Schilf oder
Industrieabfällen errichten werden. Simone Weil notierte, Hoffnung werde es
für den Menschen erst dann wieder geben, würde er zu den Höhlen
zurückgekehrt sein. Sie hoffte, dass es der Welt eines Tages an Eisen,
Kupfer und Mangan fehlen werde.
XV
Nachtrag: Außer Frage steht, dass in Vorarlberg verglichen mit anderen
Regionen zahllose Beispiele ambitionierter Architektur zu sehen sind.
Übrigens verdankt sich diese Architektur nicht zuletzt bäuerlichem
Erfahrungswissen wie bäuerlicher Herkunft. Bei nüchterner Betrachtung
stellen sich aber auch hier zahllose Fragen, etwa jene nach dem Bedürfnis
nach Selbstrepräsentanz in Objekten. Zweifellos bedürfte es, was das Wohnen
betrifft, viel breiterer Diskussionen. Beispielhaft seien deshalb hier
Hansjörg Thums "Haus für eine alleinstehende Frau" wie Angelo Roventas
smart_LIVINGUNIT als Ausgangspunkte für eine solche Diskussion genannt. In
den beiden Projekten finden sich verwandte Intentionen, die Lösung dagegen
könnte nicht gegensätzlicher sein.
Bernhard Kathan, 2009