Das lästige Ziehen der Notenlinien überflüssig machen. Als Rosseau auf die
Idee kam, die Tonleiter durch ein Zahlensystem zu bezeichnen, dachte er
sicher daran, war er doch viele Jahre gezwungen, seinen Lebensunterhalt
durch das Kopieren von Noten zu verdienen: "Man sieht, ich hatte für einen
Notenabschreiber, der von morgens bis abends hätte über seiner Arbeit sitzen
müssen, gar vielerlei Ablenkungen, die meinen Tag nicht sehr ertragreich
machten und mich außerdem noch daran hinderten, so aufmerksam zu sein, wie
es zur guten Erledigung meines Geschäfts nötig gewesen wäre; außerdem verlor
ich mit dem Verbessern und Ausradieren meiner Fehler oder gar mit dem
Vonvornanfangen mehr als die Hälfte der Zeit, die man mir ließ." Den
entscheidenden Vorteil einer Zahlennotation sah Rousseau allerdings in der
Möglichkeit, jedes Musikstück mit größter Genauigkeit aufzuzeichnen. Mit
Sicherheit hätte sich die Musikgeschichte anders entwickelt, hätte sich
seine Zahlennotation behauptet. Kopieren wird verächtlich als "abschreiben"
bezeichnet. Kopieren setzt nicht nur Konzentration voraus. Es gilt zu
deuten, jenem Schnörkel Sinn zugestehen, jenen dagegen als bedeutungslos
erkennen. Man denke an die Mühen des Studenten Anselmus im Gewächshaus des
Archivarius Lindhorst. Und an das Original in arabischer Schrift und
folgenschwere Tintenkleckse.
"Wie die Hahnenfüße in meine schöne englische Kursivschrift gekommen, mag
Gott und der Archivarius Lindhorst wissen", sprach Anselmus, "aber daß sie
nicht von meiner Hand sind, darauf will ich sterben." - Mit jedem Worte, das
nun wohlgelungen auf dem Pergamente stand, wuchs sein Mut und mit ihm seine
Geschicklichkeit. In der Tat schrieb es sich mit den Federn auch ganz
herrlich, und die geheimnisvolle Tinte floß rabenschwarz und gefügig auf das
blendend weiße Pergament. Als er nun so emsig und mit angestrengter
Aufmerksamkeit arbeitete, wurde es ihm immer heimlicher in dem einsamen
Zimmer, und er hatte sich schon ganz in das Geschäft, welches er glücklich
zu vollenden hoffte, geschickt, als auf den Schlag drei Uhr ihn der
Archivarius in das Nebenzimmer zu dem wohlbereiteten Mittagsmahl rief.
E.T.A. Hoffmann, Der goldne Topf
Kopieren ist auch immer Interpretation, ein Dazwischentreten, ein Akt der
Vermittlung. Wer kopiert, der muss letztlich auch Interpret sein, die
Zeichen zu deuten wissen, nicht viel anders als jene, die Bratsche, Klavier
oder Stimme zum Ausdruck bringen. Zweifellos hätte die Zahlennotation das
Kopieren erleichtert; aber der Kopierende wäre wie jeder Musiker zu einem
Automaten herabgwürdigt worden, der trotz aller Fingerfertigkeit und Übung
exakt das zu reproduzieren hätte, was die Notenschrift vorgibt. Der
begnadete Dilettant Rousseau übersah ganz einfach, dass die traditionelle
Notation, die sich innerhalb von tausend Jahren herausgebildet hat, die
perfekteste Notation darstellt. Rameau erkannte zwar an, dass sich ein
Musikstück mit einer Zahlennotation exakter aufzeichnen ließe, verwies aber
gleichzeitig auf deren entscheidende Schwäche. Beim Lesen von Zahlen könne
man nicht vorausschauen, man müsse eine nach der anderen mühsam ablesen, bei
der herkömmlichen Notenschrift habe der Musiker dagegen längere Sequenzen im
Auge. Rameau plädierte also für eine graphische Notation, ohne jedoch die
geringste Vorstellung zu haben, was man zweihundert Jahre später unter einer
"graphischen Notation" verstehen sollte. Schon zu Beginn des zwanzigsten
Jahrhunderts gab es Ansätze zu einer modernen graphischen Notation, die sich
deshalb entwickeln sollte, weil die herkömmliche Notenschrift zu präzise
war, um Unschärfen und Zwischenräume abzubilden.
Endlich trat Ottilien herein, glänzend von Liebenswürdigkeit. Das Gefühl,
etwas für den Freund getan zu haben, hatte ihr ganzes Wesen über sich selbst
gehoben. Sie legte das Original und die Abschrift vor Eduard auf den Tisch.
"Wollen wir kollationieren?" sagte sie lächelnd. Eduard wußte nicht, was er
erwidern sollte. Er sah sie an, er besah die Abschrift. Die ersten Blätter
waren mit der größten Sorgfalt, mit einer zarten weiblichen Hand
geschrieben, dann schienen sich die Züge zu verändern, leichter und freier
zu werden; aber wie erstaunt war er, als er die letzten Seiten mit den Augen
überlief! "Um Gottes willen!" rief er aus, "was ist das? Das ist meine
Hand!" Er sah Ottilien an und wieder auf die Blätter, besonders der Schluß
war ganz, als wenn er ihn selbst geschrieben hätte. Ottilie schwieg, aber
sie blickte ihm mit der größten Zufriedenheit in die Augen. Eduard hob seine
Arme empor: "Du liebst mich!" rief er aus, "Ottilie, du liebst mich!" und
sie hielten einander umfaßt.
Goethe, Wahlverwandtschaften
"Die neuere Musikgeschichte kennt viele Beispiele von Notationen, die sich
weit von der herkömmlichen Notenschrift entfernt haben. Man denke etwa an
John Cage, Earle Brown oder Dick Higgins, der Notenpapier besprühte oder
auch mit Schrotkugeln beschoss. Viele der so entstandenen Notenblätter
lassen sich verständlicherweise nur schwer spielen."
"Wenn man Zeichen erfindet oder entwirft, die für ein ganz bestimmtes
musikalisches Verhalten möglichst klare Anweisungen geben oder bestimmte
Klangfarben exakt bezeichnen, dann gibt es das Problem, dass man mehrere
Seiten für Zeichenerklärungen braucht. Musiker müssen sich diese mühsam
erarbeiten."
"In die graphische Notation schleichen sich auch individuelle Zeichen des
Komponisten ein."
"Das ist die Tücke an der ganzen Geschichte. Man ist oft sehr
selbstverliebt, wenn man ein wunderschönes graphisches Zeichen erfunden hat.
Das ist oft für einen anderen nicht lesbar; d.h. man benötigt wieder die
Interpretation des Komponisten."
War Anselmus schon vor dem Essen das Kopieren der arabischen Zeichen
geglückt, so ging die Arbeit jetzt noch viel besser vonstatten, ja er konnte
selbst die Schnelle und Leichtigkeit nicht begreifen, womit er die krausen
Züge der fremden Schrift nachzumalen vermochte. - Aber es war, als flüstre
aus dem innersten Gemüte eine Stimme in vernehmlichen Worten: "Ach! könntest
du denn das vollbringen, wenn du sie nicht in Sinn und Gedanken trügest,
wenn du nicht an sie, an ihre Liebe glaubtest?" - Da wehte es wie in leisen,
leisen, lispelnden Kristallklängen durch das Zimmer: "Ich bin dir nahe -
nahe - nahe! - ich helfe dir - sei mutig - sei standhaft, lieber Anselmus! -
ich mühe mich mit dir, damit du mein werdest!" Und sowie er voll innern
Entzückens die Töne vernahm, wurden ihm immer verständlicher die unbekannten
Zeichen - er durfte kaum mehr hineinblicken in das Original ja es war, als
stünden schon wie in blasser Schrift die Zeichen auf dem Pergament, und er
dürfe sie nur mit geübter Hand schwarz überziehen.
E.T.A. Hoffmann, Der goldne Topf
"Wir wissen aus der Aufführung historischer Musik, dass sich selbst in der
präzisen herkömmlichen Notenschrift, mit der sich Tonhöhe und die
Verhältnisse von Zeitelementen exakt angeben lassen, das Tempo nicht genau
bestimmen lässt. Die relative Dauer ist klar definiert, die absolute dagegen
nicht, weil sie vom Tempo abhängig ist. Eine halbe Note hat keine Dauer, sie
kann erst eine Dauer haben, wenn das Tempo festgelegt ist. Da beginnt die
Bandbreite der Interpretation, und ich denke mir, hoffentlich auch die der
Abweichung von den Vorgaben. Phrasierungstechnik, Dynamik, Klangfarbe. Ich
denke bei jeder Komposition an eine Kopie. Mit einem Original hätten wir es
dann zu tun, wenn man sagen könnte, das Werk sei die einzig mögliche Art,
das so zu machen. Ich lebe mit der Vorstellung, dass ich mir sage, auch das
Original könnte anders sein. Also lebe ich dummerweise von der Idee, dass
ich ohnehin nur Kopien produziere, eine von mehreren Möglichkeiten des
Niederschreibens. Aber dies zwingt mich auch nicht länger, Musiker zu einer
rigiden Präzision anzuhalten. Im Gegenteil, ich freue mich sehr darauf zu
sehen wie Musiker eine bestimmte Komposition erarbeiten. Es wird eine von
vielen möglichen Wahrheiten sein. Da beginnen sich Original und Kopie zu
verwischen. Im Ideal sind sehr unterschiedliche Aufführungen ein und
desselben Werkes denkbar, ohne dass man sagen könnte, diese Aufführung wäre
besser oder schlechter als eine andere."
"Die ideale Kopie findet sich heute in der CD. Die Maschine interpretiert
nicht, die Daten nützen sich nicht ab, kein Rauschen kommt hinzu, welches
auf die Benützungsgeschichte verwiese. Original und Kopie sind austauschbar.
Hier wird die Kopie zu einer Konserve. Ironischerweise hat sich hier
Rousseaus Zahlennotation in geradezu perfekter Weise behauptet."
"Das Abspielen einer CD ist genaugenommen auch kein musikalisches Ereignis,
weil sie auf eine Zeit verweist, die bereits Vergangenheit ist. Und es gehen
ganz wesentliche Elemente der Musik verloren. Musik war nie auf bloßes Hören
beschränkt. Wer eine Aufführung besucht, achtet auch darauf, was
körpersprachlich, durch feinmotorische Virtuosität oder ähnliches vermittelt
wird."
"Wo findet sich nun das Original? Wo findet es sich, wenn Ottilien Eduards
Handschrift so gut nachzuahmen weiß, dass er ihre Handschrift als seine
erkennt? Mehr noch, Goethe führt das Spiel so weit, dass er die Kopie über
das Original stellt. Lucianes Zöpfe, die Form ihres Kopfes, ihre Taille, der
Faltenwurf."
"Solange ich an einer Partitur arbeite, gehört das Werk mir allein. Das
heißt, ich kann es mir erlauben, es so zu hören wie ich es will. Es gibt aus
der Sicht des Komponisten zwei große Unsicherheitsfaktoren, die man nicht
kontrollieren kann und auch nicht kontrollieren sollte. Der erste ist der
Musiker. Auch wenn er es so spielt, dass es einem gefällt, fließt eigenes
von Seiten des Musikers ein. Es ist Interpretation. Der größte
Unsicherheitsfaktor ist der Hörer selbst. Auch wenn es ein Musikstück von
mir ist, so gehört es doch dem Hörer in dem Augenblick, in dem er es hört.
Ich habe keine Kontrolle darüber, ob das, was ein Zuhörer hört, überhaupt
noch deckungsgleich mit dem ist, was ich mir gedacht habe. Was Original und
Kopie anlangt, könnte man sagen, die Aufführung ist ein gemeinsames Produkt
und folglich - wenn auch ein temporäres Ereignis - als das Orginal zu sehen.
Dann habe ich ein wirkliches Wechselspiel, nicht andere, die von mir Ideen
umzusetzen haben, präzise, folgsam, gehorsam, untertänig."
Bei dieser Gelegenheit nun sollte Luciane in ihrem höchsten Glanze
erscheinen. Ihre Zöpfe, die Form ihres Kopfes, Hals und Nacken waren über
alle Begriffe schön, und die Taille, von der bei den modernen
antikisierenden Bekleidungen der Frauenzimmer wenig sichtbar wird, höchst
zierlich, schlank und leicht, zeigte sich an ihr in dem älteren Kostüm
äußerst vorteilhaft; und der Architekt hatte gesorgt, die reichen Falten des
weißen Atlasses mit der künstlichsten Natur zu legen, sodaß ganz ohne Frage
diese lebendige Nachbildung weit über jenes Originalbildnis hinausreichte
und ein allgemeines Entzücken erregte.
Goethe, Wahlverwandtschaften
Speisefolge:
- Regionale Käsesorten, Weißwein, Weißbrot
- Lammhoden in Butter mit Petersilie, Weißwein
- Rindsschulter in Tomatensauce
- Jahreszeitliche Salate
- Rhabarberkompott mit gebackenen Holunderblüten
Duftnoten:
Heckenrosen, Pfingstrosen, Holunder, Zitronenmelisse
Angelika Hensler: Kontrabassblockflöte
Christine Roner / Christian Kuen: Dokumentation
Ruth und Bernhard Kathan: Küche
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